Nachwort

VON MARIANNE MOESLE

Esma Abdelhamid begegnete mir zum ersten Mal an einem Samstagnachmittag im Mai 2005. Ein sonniger Tag. Mit einer Tasse Kaffee zog ich mich auf den Balkon zurück, um über 300 Texte zu lesen, die bei einem »Schreibwettbewerb für Analphabeten des Bundesverbandes Alphabetisierung und des Deutschen Volkshochschulverbandes« eingegangen waren. Als Journalistin hatte ich mich immer wieder mit Analphabetismus befasst und darüber geschrieben. Nun war ich eingeladen, als Jury-Mitglied bei diesem ungewöhnlichen Literaturwettbewerb mitzuwirken. Darauf freute ich mich. Wer je Texte von erwachsenen Menschen, die schreiben lernen, gelesen hat, weiß, dass es kaum eine direktere, unmittelbarere und poetischere »Literatur« gibt.

Esmas Text war nicht poetisch, aber vom ersten Satz an zog er mich in Bann: »Vor mehr als 25 Jahren habe ich einen Mann geheiratet, den mein Vater für mich ausgesucht hatte«, schrieb sie. »Mit diesem Mann fuhr ich direkt nach meiner Hochzeit weit weg in ein Land, das ich nicht kannte, das mir völlig fremd war.« Sie hatte sich zum Thema »Straße« Gedanken gemacht und auf drei oder vier DIN-A4-Seiten ihre traurige Migrantinnen-Geschichte erzählt, die mit der Reise von Tunesien nach Deutschland begann und bis heute nicht zu Ende ist. »Mit viel Gepäck stieg ich in einen roten Opel. Es sollte in ein Land gehen, das Deutschland hieß. Ich wusste nicht einmal, wo es lag auf dieser Erde. Ich war sehr traurig und habe nur geweint. Die Sonne prallte auf meinen Schoß, in mein Gesicht, und meine Augen brannten vom Weinen. Ich fühlte mich ausgeliefert diesem fremden Mann an meiner Seite. So festgeschnallt, wie mich der Sicherheitsgurt im Auto es hat, fühlte ich mich die ganzen Jahre mit ihm.«

Die Geschichte ging mir unter die Haut: »Nicht nur dass die fremde Kultur, in die ich hineingeworfen wurde, mir Schmerzen bereitete, ich durfte auch die Wohnung ohne Einverständnis meines Mannes nicht verlassen, um sie ein wenig kennenzulernen. Ich folgte der Erfüllung meiner ehelichen Verpflichtungen. Bei fehlerhaftem Verhalten waren Konsequenzen die Regel. Mein Mann tat, was er tun musste.« In etwas ungelenken, aber lapidaren Sätzen erzählte Esma Abdelhamid von ihrer Zwangsehe, von ihrem gewalttätigen Ehemann, von der Entführung ihrer Kinder und wie unsagbar schwer es war, für sie zu kämpfen. Da sie zum Gehorchen erzogen worden war, nicht um zu fühlen, um zu denken oder um etwas zu wollen. Zwischen den Zeilen klang die erschütternde Geschichte der Unterdrückung und Emanzipation einer arabischen Migrantin heraus.

Esmas Text hat mich berührt und aufgewühlt. »Ich möchte so gern vielen Frauen, denen Ähnliches widerfahren ist, Mut machen«, schrieb sie, und ich erschrak. Wer sind diese Frauen, denen Ähnliches passiert? Lebten sie in meiner Nachbarschaft. »Bist du auch zur Sklavin erzogen worden, zwangsverheiratet und ohne Anrecht auf Liebe?«, fragte ich insgeheim, wenn ich auf den Elternabenden meiner Kinder migrantischen Müttern begegnete. »Werden dir deine Kinder auch weggenommen, wenn du nicht mehr spurst?« Oder: »Kannst du auch nicht lesen und schreiben und wirst deshalb nicht für voll genommen?«

Wie kann es sein, dass mitten in Deutschland Frauen zwangsverheiratet, eingesperrt, vergewaltigt und geschlagen werden? Und das alles unbemerkt, weil diese Frauen dazu erzogen worden sind, zu dulden, anstatt sich zu wehren. Weil ihre Gefühle von patriarchalen Strukturen unterdrückt werden und weil Mütter genauso wenig wie ihre Töchter Traditionen in Frage stellen, nicht über Tabus und sexuelle Gewalt sprechen, nicht Lesen und nicht Schreiben lernen. Esma hatte den Mut, aus ihrer Anonymität auszubrechen. Sie hat Tabus gebrochen, um die Liebe ihrer Kinder gekämpft und von ihrem Schicksal erzählt.


Ein paar Monate später bei der Preisverleihung am Weltalphabetisierungstag in Berlin ist Esma Abdelhamid eine von fünf Preisträgern des Schreibwettbewerbs. In der Laudatio wird ein Satz aus dem Text eines Mitbewerbers zitiert: »Nach der Geburt hat Mann oder Frau das Leben am Zoff gepackt. Doch was er oder sie damit macht, ist dem Zoff völlig egal.« Der Wettbewerbsteilnehmer wollte »Zopf« schreiben, hat aber aus Versehen »Zoff« geschrieben. Ein einziger veränderter Buchstabe, und schon entstehen andere Voraussetzungen und neue Bedingungen. So ist das Leben entweder ein Zopf, den man selbst in die Hand nimmt, oder das Leben wird zum Problem, ein »Zoff«, weil andere den Zopf in die Hand nehmen und über einen bestimmen. Auch Esma wurde am Zopf gepackt, sie hat ihn jedoch abgeschnitten und trägt ihre Haare heute kurz.

Viel Prominenz ist gekommen, viele Reden werden gehalten, zum Schluss werden die prämierten Texte der Analphabeten von Schauspielern gelesen. Als Andrea Sawatzki den Text »Mehr als eine Ehe« vorliest, springt eine Frau mit dunklem Wuschelkopf vom Stuhl auf. Sie hält eine Videokamera in der Hand und filmt. Und während sie filmt, laufen ihr Tränen über die Wangen. Es ist Esma. »Heute ist der glücklichste Tag in meinem Leben«, sagt sie, gleichzeitig lachend und weinend, als sie der Schauspielerin die Hand schüttelt. Sie kann kaum glauben, dass sie das erlebt und geschrieben hat, was sie gerade gehört hat. Der Schreibkurs an der Volkshochschule und der Schreibwettbewerb waren die letzten Mosaiksteine auf der Reise in ihre Selbständigkeit.

Nachdem Esma ihre Kinder zu sich nach Hamburg geholt hatte, war nicht nur eitel Sonnenschein. Die Rolle der alleinerziehenden Mutter fiel ihr schwer, zumal sie selbst erst gelernt hatte, auf eigenen Füßen zu stehen und erste selbständige Schritte zu gehen. Die traumatischen Erlebnisse der vergangenen Jahre ließen sich nicht von heute auf morgen abschütteln, und immer wieder griff sie auf therapeutische Hilfe zurück. Amal sprach kaum Deutsch und war viel krank, Amin und Jasin litten unter Trotz- und Angstattacken und hatten Schwierigkeiten, Anschluss zu finden. Die Mutter konnte ihren Kindern in der Schule kaum helfen, da sie als Analphabetin weder lesen noch schreiben konnte. Bis heute ist das nicht einfach. Sie schreibt, kann aber nicht immer verständlich machen, was sie meint. Sie liest, versteht aber schlecht, was sie gelesen hat, und kann den Inhalt eines Texts auch kaum wiedergeben.

Doch eines hatte Esma gelernt: Sie macht sich nicht mehr abhängig. Sie hat sich mit kleinen Jobs durchgeschlagen und ihren Kindern eine gute Schuldbildung ermöglicht. Sie hat Deutsch gelernt und versucht, nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu leben. Sie hat noch einmal geheiratet, einen Sohn geboren und wurde wieder geschieden.

Und sie ist stolz, dass ihre Kinder das geschafft haben, woran sie selbst immer noch arbeitet: Schulabschluss, Studium, Beruf.

»Meine Kinder haben Denken und Fühlen gelernt«, sagt sie. Und mir fallen Sprüche ein, die ich selbst als Kind lernte: »Wissen ist Macht« und »Liebe versetzt Berge«. Esma erhielt keine Antwort, wenn sie als Kind neugierige Fragen stellte. Wärme und Liebe musste sie sich am Fußende des Bettes ihrer Eltern erschleichen. Denn wer nichts fühlt und nichts weiß, stellt keine Forderungen. Heute weiß Esma, was sie will. Sie kann es aussprechen und zur Not auch schreiben und lesen. Weil sie unmündig war und mündig geworden ist. Die Liebe und der Kampf um ihre Kinder haben ihr den Mut dazu gegeben. Das ist ein aufklärerischer Schritt.

Nach den Feierlichkeiten in Berlin setze ich mich mit ihr zusammen, und sie fängt an: »Weißt du, dass ich zwölf Jahre in Hamburg gelebt habe, ohne die Alster zu sehen?«, sagt sie. Sie erzählt, und ich schreibe.

Loewenmutter
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