5.
»Vergiss die Kinder«
»Ich habe Tickets für euch besorgt«, kam Abdullah eines Tages nach Hause.« Es war Sommer 1990. »In einer Woche fliegt ihr.« Er sagte nicht wie sonst: »Wir fahren«, sondern »Ich habe Tickets besorgt«. Nicht »für uns«, sondern »für euch«.
Was soll das heißen? Dass wir nicht alle zusammen in Urlaub gehen, sondern nur die Kinder und ich? Ohne ihn. Abdullah hatte immer den Urlaub organisiert, so wie es ihm passte. Aber dieses Mal war es anders. Ich stand am Spülbecken, wusch Wäsche. Spülte seine schmutzigen Arbeitshosen mit klarem Wasser, nachdem ich sie in der Lauge auf dem Herd gekocht hatte. Ungläubig sah ich ihn an. Alleine mit den Kindern, das hatte ich noch nie gemacht. »Und du? Kommst du nicht mit?« – »Doch, ein paar Tage später, ich bringe Möbel fürs Haus.« Unser Haus, in dem ich so selten war, weil ich wenigstens in den Ferien meine Ruhe vor ihm haben wollte.
Meistens waren wir mit dem Auto gefahren. Über die Autobahn bis Genua, was langweilig für die Kinder war. Aber auf dem Schiff hatten sie ihren Spaß. Sie stöberten in allen Ecken herum und rannten auf Deck auf und ab. Ich lag in einem Liegestuhl, wenn ich ihre Stimmen nicht mehr hörte, stand ich auf und suchte sie. Doch sobald ich den einen gefunden hatte, war der andere wieder weg. Ich fuhr gern mit dem Schiff und genoss diese schaukelnde Annäherung von Europa und Afrika. Die Fahrt von meinem neuen in mein altes Leben. Obwohl ich in Wirklichkeit gar kein neues Leben führte, sondern nur das alte Leben an einem anderen Ort fortsetzte. In Tunesien hatte der Vater über mich bestimmt, in Hamburg mein Mann. Dort war die Mauer um unser Haus die Grenze gewesen, in Hamburg waren es Wohnungstür, die deutsche Sprache und die Menschen, zu denen ich keinen Zugang hatte. Nicht mein Leben hatte sich verändert, nur der Ort.
»Richte schon mal die Kleider für die Kinder her und pack die Koffer«, fuhr mein Mann fort, während er sich an den Tisch setzte und die Beine lässig ausstreckte. »Brauchen wir noch kurze Hosen oder T-Shirts? Überleg dir, was fehlt, dann gehen wir einkaufen.« Er hatte mich noch nie selbständig irgendwohin gehen lassen. Jetzt plötzlich sollte ich allein mit den Kindern fliegen. Warum? Er weiß doch, dass ich mich auf einem Flughafen nicht zurechtfinde, weil ich die Hinweise nicht verstehe und keine Schilder lesen kann.
Ich wrang die Hosen aus und hängte sie über den Wäscheständer im Wohnzimmer. Fürs Kinderkriegen und Wäschewaschen bin ich gut, für alles andere ist mein Mann zuständig. Ich brauche für nichts zu sorgen und nichts zu entscheiden. Sogar das Denken nimmt Abdullah mir ab. Aber ich habe mich arrangiert mit meinem Leben, das mir nicht gehört, und bin auf dem besten Weg, wie meine Mutter zu werden. Ich mache, was er mir sagt. Verantwortungslos und willenlos.
Und jetzt soll ich selbständig fliegen? »Warum solltest du nicht einmal selbständig in den Urlaub fliegen?«, meinte Abdullah, als ich aus dem Wohnzimmer zurückkam. Konnte er Gedanken lesen? »Fliegen ist weniger anstrengend für die Kinder als Autofahren.« – »Aber das habe ich noch nie gemacht. Wie soll ich das können? Was tun, wenn ich ein Kind beim Umsteigen auf dem Flughafen verliere? Oder wenn eines fällt und sich wehtut?«, fragte ich und spielte unruhig mit meinen Fingern in den offenen Haaren. Im Notfall würde ich meine Kinder nicht schützen können. Ein Albtraum.
»Ich habe alles organisiert. Wird schon nichts passieren. Und in Tunis holt euch dein Vater vom Flughafen ab«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. Diskussion beendet. Ich hatte panische Angst, aber es hatte keinen Sinn, ihm zu widersprechen. Auf dem Weg zum Flughafen saß ich bei meinen Söhnen auf der Rückbank des Autos. Amal hatte ich auf den Schoß genommen. Trotz Bauchschmerzen. Der Himmel war grau, in mir war es grau. Die Kinder waren ängstlich und drückten sich an mich. »Ich komme mit dem Auto nach«, sagte mein Mann mehr zu sich selbst oder zur Windschutzscheibe als zu uns. Ich biss die Zähne zusammen.
Nur noch ein paar Stunden, und ich würde meine Familie wiedersehen. Jedes Jahr sehnte ich mich nach diesem Moment und hatte ein Kribbeln im Bauch. Würde ich es in diesem Sommer endlich übers Herz bringen zu erzählen, wie es mir in Deutschland wirklich ging? Würde ich meinem Vater sagen: »Du hast den Falschen für mich ausgesucht. Es ist die Hölle mit Abdullah«? Vielleicht würde es mir der Vater aber auch ansehen. Müsste er eigentlich. Er kannte mich doch, wie ich einmal war, und sah, was von mir noch übriggeblieben war. Wie meine Mutter. Obwohl sie sich wenig um uns Kinder kümmerte, sah sie, dass es mir nicht gut ging. »Mein Mädchen, was bist du nur noch Haut und Knochen?«, flüsterte sie mir immer ins Ohr, wenn ich kam. »Abdullah sorgt nicht gut für dich. Ich habe es gleich gewusst, der Schweinehund, kein guter Ehemann.«
Mein Vater hat mir nie in die Augen gesehen, genauso wenig wie ich ihm. Immer hielt ich demütig den Kopf gesenkt. Aber selbst wenn er gesehen hätte, wie es mir ging, hätte er nicht darüber gesprochen. Fehler zugeben konnte er nicht. Aber ich freute mich auf ihn. Mit dem räumlichen und zeitlichen Abstand verblassen schlechte Erinnerungen, und es bleiben die guten.
Als Kind war ich überglücklich gewesen, wenn mich der Vater auf kleine Ausflüge mitgenommen hatte. Immer habe ich so lange mit Hundeblick an der Haustür gestanden, bis er mir einen Schubs gab: »Na, los geht’s.« Und ich rannte zum Auto, das er sich für besondere Fahrten geliehen hatte. Das war Abenteuer pur. Einmal im Frühjahr, zur Zeit der Schafschur, fuhren wir über die Dörfer. Ich sah Männer auf den Dorfplätzen, die Schafe scherten, verstand aber nicht, was sie machten, und fragte den Vater: »Warum rasiert man Schafe?« Da lachte er und erklärte mir, dass man die Wolle für die Mäntel der Männer, für die Kaschabias, brauche. So habe ich gelernt, dass Mäntel aus Schafwolle gefilzt sind.
Abdullah kam eine Woche später. Typisch für ihn, ohne sich anzukündigen, hielt er vor dem großen Hoftor. Nicht zu übersehen, er fuhr das neueste Auto, einen dicken, dunklen Mercedes, und wirbelte Staub auf. Da kam mein Vater gelaufen, alle Nachbarn, der ganze Ort. So ein Auftritt. Nur ich beachtete meinen Mann nicht. Ich wollte nicht. Trotz war das Einzige, womit ich mich manchmal gegen ihn zur Wehr setzen konnte.
Im Schneidersitz saß ich auf dem Teppich im Wohnzimmer und bürstete meine Haare. Die Frau meines großen Bruders, die Friseurin war, hatte sie mir mit einem heißen Eisen geglättet. Wie schön und glatt sie waren. Bei meiner Hochzeit vor zehn Jahren hatte das Haar bis ans Kinn gereicht. Wenn ich jetzt meinen Kopf ein wenig neigte, fiel es mir wie ein Schleier über Gesicht und Brust bis hinunter zu den Beinen. Ich hatte es mir nicht einmal schneiden lassen inzwischen, war nie in Hamburg beim Friseur gewesen. Mit der flachen Hand strich ich meine zehn Jahre alten Locken auf den Oberschenkeln glatt.
Normalerweise trug ich sie zum Zopf geflochten. Manchmal hatte mich Abdullah daran durch die Wohnung gezogen, wie mein Vater die Mutter. Zehn Jahre waren vergangen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Zehn Sommer und Winter. Was hatte ich getan in all dieser Zeit? Drei Kinder geboren – und sonst? Unglücklich bin ich geworden!
Abdullah kam herein, grüßte kurz und fragte, ob ich etwas für die Kinder brauche. Ein Anstandsbesuch. Ich roch sein billiges Rasierwasser, widerlich, ich konnte ihn nicht riechen. Ohne aufzusehen, schüttelte ich den Kopf, sodass die Haare flogen. Dann sah ich hinüber auf die Kommode mit den ganzen Familienfotos: unsere Kinder brav frisiert, in blauen Matrosenanzügen, und unser Hochzeitsbild. Wie naiv ich aussah, so fahl im Gesicht, ich hob mich kaum vom Überzug des blassgelben Sessels ab. Abdullah hatte den Fernseher eingeschaltet und spielte nervös mit seinem Schlüsselbund. Das kannte ich schon: Er würde nicht lange bleiben. »Wollt ihr mitkommen ins Haus?«, fragte er. »Nein, nein, es geht uns gut hier.« – »Okay, dann werde ich in Ruhe an der Garage weiterbauen. Mörtel und Dreck sind sowieso nichts für euch.« Er war unruhig, tigerte durch die Wohnung, begrüßte die Kinder. Aber es dauerte nicht lange, und er machte sich wieder aus dem Staub. Ich war froh um jeden Tag ohne ihn.
Auch wenn zu Hause wie so oft schlechte Stimmung herrschte. In den ersten Tagen, als wir aus Deutschland gekommen waren, hatten sich alle über mich und die Kinder gefreut. Aber dann verfiel die Familie schnell wieder in ihren dumpfen Trott. Die Mutter lag im Bett oder saß auf ihrem Stuhl in der Küche, die kleine Schwester vor dem Fernseher, der Vater war bei der Arbeit oder im Café. Gesprochen wurde wie immer nicht viel. Eisiges Schweigen lag diesmal in der Luft. Ein paar Wochen zuvor hatte der Vater meine große Schwester verflucht, weil sie sich scheiden lassen wollte: »Sie ist nicht mehr meine Tochter.« Und nun hatte sich auch noch meine jüngere Schwester, Bashma, in einen jungen Mann verliebt, der ihr Nachhilfe in Mathematik gegeben hatte. Der Vater war sowieso immer gegen die Nachhilfe gewesen. Als er hinter Bashmas Liebelei kam, schlug er sie windelweich. Sie ist aus dem Haus gelaufen und hat sich bei Nachbarn versteckt. Wie ein wütender Tiger brüllte der Vater dann auf der Straße nach ihr, den sandigen Weg hinauf und hinunter. Was für eine Schande! Alle haben es gehört, dass der Hadsch, der nach Mekka pilgerte und in der Moschee vorbetete, seine Tochter nicht unter Kontrolle hatte. Man hatte Angst vor ihm, und die Nachbarn brachten ihm das Mädchen gehorsam zurück. Wie sie zitterte, meine Arme, ich hätte ihr gern geholfen.
Aber keiner durfte mit ihr sprechen. Mein Vater traktierte sie mit den Fäusten, bis sie aus Mund und Nase blutete, riss sie an den Haaren. Nichts hatte sich geändert, seit ich verheiratet und weg von zu Hause war. Keiner durfte Bashma helfen, sie wurde im Kinderzimmer eingeschlossen, wo sie einen ganzen Tag und eine ganze Nacht kauerte und weinte. Ich konnte ihr Wimmern noch vor der Tür hören. »Bashma«, rief ich durch die Wand, als der Vater abends noch einmal weg auf der Arbeit war. »Schwester, bitte steh auf.« Da hörte ich sie noch lauter schluchzen.
Nun hämmerte und trommelte ich gegen die Tür und beschwor Bashma, dass sie doch mit mir nach Deutschland kommen solle, dass das Leben dort schön sei und dass wir zusammen mit den Kindern wohnen würden. Ohne Männer. Was sollten wir mit unseren Männern? »Vergiss deinen Freund. Komm mit mir.« Natürlich waren das Träume. Wie sollte sie ohne Papiere mit mir kommen? Sie hatte keine Ausbildung und keinen Beruf. Wer würde in Deutschland für sie sorgen?
Doch darüber brauchte ich mir nicht länger meinen Kopf zu zerbrechen. Schon ein paar Tage später hatte der Vater einen Bräutigam für sie gefunden. Als Bashma und ich in der Nacht zusammen auf Matratzen und Decken in dem Zimmer schliefen, in dem wir schon als Kinder geschlafen hatten, fassten wir uns an den Händen. Sie tat mir leid, ich strich ihr über die Wange, die Haare aus dem Gesicht. »Wird schon alles gut«, flüsterte ich, »du bekommst bestimmt einen lieben Mann. Wirst sehen, der Vater hat dir einen guten ausgesucht.« Doch sie wollte alleine sein und drehte sich von mir weg zur Wand. Wie sollte sie mir glauben? Ausgerechnet ich wollte ihr helfen und sie trösten? Sie wusste, dass es mir schlecht ging. Es gab keinen Trost in dieser Situation. Auch sie wurde mit einem Mann verheiratet, den sie noch nie vorher gesehen hatte. Als sie sich ein paar Jahre später von ihm trennen wollte, stach er sie mit dem Messer nieder.
Es hatte sich einiges geändert, seit ich in Deutschland lebte. Die Nachbarn hatten ihre Häuser ausgebaut und noch ein paar Mauern gezogen, aus einer eher provisorischen Ansiedlung, in der Höfe und Gärten offen lagen, waren streng umfriedete Einfamilienhäuser geworden. Jeder blieb für sich. Weiß getüncht und kühl. Aber der gelbe Sand auf der Straße, die vertrockneten Grashalme am Rand, der bunte Plastikmüll in den Mauernischen, der stahlblaue Himmel, die heiße Luft, in die sich der saure Geruch von vergammelter Milch mischte, waren noch wie früher. Manchmal saß ich auf den Stufen vor der Gartenmauer in der Sonne und unterhielt mich mit den Nachbarn, die ich noch von früher kannte. Als verheiratete Frau durfte ich mich endlich auf der Straße aufhalten. Jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, genoss ich diese kleine Freiheit vor dem Hoftor, von wo aus ich hinauf bis zu einer Weggabelung und hinunter bis zur steinig grauen Steppe vor der Stadt sehen konnte.
Auch die Kinder fühlten sich wohl. Wenn ich auf der Straße war, ließ ich sie mit den Nachbarskindern spielen, Fangen oder Verstecken. Wenn sie essen wollten, holte ich einen Granatapfel aus dem Garten und brach ihn mit den Händen in drei Stücke. Vor allem Amal liebte diese blutroten Körner. Wenn sie hineinbiss, troff ihr der rote Saft aus den Mundwinkeln. Dann nahm ich sie in den Arm und leckte ihr über die Wangen wie eine Katze. Ich liebte diese Freiheit. Keiner war da, der mich kritisierte, keiner, der mich vor vollendete Tatsachen stellte oder etwas von mir wollte, was ich nicht wollte. Als Abdullah einmal vorbeischaute, habe ich ihm den Vorschlag gemacht, er solle mich mit den Kindern in Tunesien lassen und uns Geld aus Deutschland schicken. Aber da hat er mich angeschrien, dass es meine Pflicht als Ehefrau sei, für ihn zu sorgen. Und ich dachte tatsächlich, er käme nicht ohne mich zurecht.
Ein paar Tage vor unserem Rückflug kam er. In der Mittagszeit, die Kinder hatten sich schlafen gelegt. Im Haus war es still, Mutter döste vor dem Fernseher, den sie lautlos gestellt hatte, der Vater war bei der Arbeit. Die Türen standen offen, sodass ein leichter Luftzug durch die Räume wehte. Vor dem Hoftor gackerten Hühner. Als Abdullah vorfuhr, stoben sie auseinander.
Im Schummerlicht der Küche wusch ich das Geschirr vom Mittagessen ab. Hatte mir starken, schwarzen Kaffee eingegossen und Kardamompulver darübergestreut. Süß wie ein Dessert. Ich war melancholisch, schaute in Vaters Spiegel über dem Spültisch. Das Ende der Ferien stand bevor: zurück in die Ehehölle. Ich wollte nicht, lieber wäre ich geblieben, auch wenn ich hier in Tunesien als Frau genauso unfrei wie in Deutschland war. In einer Atmosphäre des Zwangs und der Wut, in der jedes Gefühl aus Frauen herausgeprügelt wird. In einem Land, in dem Frauen zwar das Wahlrecht haben, alle Berufe erlernen dürfen und laut Gesetz Männern gleichgestellt sind, aber in Wirklichkeit öffentlich unsichtbar und Menschen zweiter Klasse sind. Sie haben sich unterzuordnen, dem Vater, dem Ehemann, der Schwiegermutter, dem Glauben. Brechen sie aus, sind sie verloren.
Plötzlich stand Abdullah neben mir. »Hallo«, sagte er. »Wie geht’s?« und »Lange nicht gesehen«. Ungeschickt wischte ich mir die Hände an meinem Sommerkleid ab. »Machst du mir auch einen Kaffee?«, fragte er, bevor ich ihn begrüßen konnte. Ich füllte Wasser und Kaffeepulver in ein kleines Kännchen und stellte es auf die Gasflamme. »Was gibt’s Neues?«, fragte er. »Warst du mit den Kindern im Haus?« Ich schüttelte den Kopf, mein Zopf baumelte am Rücken.
Mit einem langen Schluck leerte er seine Kaffeetasse und stellte sie auf den Tisch. »In vier Tagen fliegt ihr zurück nach Hamburg. Ich brauche die Tickets und die Pässe, um die Flüge zu bestätigen.« – »Was heißt Flüge bestätigen?« – »Da heißt, dass ich mit Flucktickets und Pässen, deinen und denen der Kinder, ins Reisebüro gehe und mich erkundige, ob der gebuchte Flieger wirklich fliegt. Und ich sage dort, dass ihr mitfliegen wollt.« – »Du hast unsere Papiere doch immer, warum fragst du mich danach?« – »Weil du mit den Kindern hierhergeflogen bist und Ausweise und Tickets bei dir hattest.« – »Ach ja.«
Daran hatte ich nicht mehr gedacht. Trotzdem fühlte ich mich von seiner Frage überrumpelt. Nicht wirklich überrascht, aber ich fand es komisch, dass Abdullah mich fragte. Normalerweise holte er sich, was er brauchte, und fragte nicht lange.
Ich leerte die Kaffeetasse, Abdullah drängte mich nicht. Dann gingen wir zusammen ins Kinderzimmer, in dem die Kinder in Kleidern auf Matratzen am Boden schliefen. Mein Mann schien sie gar nicht zu bemerken. Hatte er überhaupt nach ihnen gefragt? Es war mir schleierhaft, warum er Kinder und Familie haben wollte, obwohl wir ihn in Wirklichkeit nicht interessierten. Was waren wir überhaupt für ihn? Prestige? Demonstration seiner Männlichkeit?
Ich ging zum Schrank neben der Tür, den mein Vater in die Wand hatte einbauen lassen. Unsere Habseligkeiten waren hier verstaut. Die Dokumente mussten in meiner blauen Reisetasche sein. Ich hatte sie gleich nach unserer Ankunft geordnet und in Plastikfolie gepackt. Mein Mann lehnte neben der Tür an der Wand und blickte zum gegenüberliegenden Fenster. Die Läden waren geschlossen, durch einen schmalen Schlitz fiel ein Lichtstreifen auf Amal, irgendwo surrte eine Mücke.
Mir war heiß, ich fächerte mir mit der Hand Luft zu und holte die Tasche aus dem Schrank. Leicht und leer, ich stellte sie neben die Matratze. Der Reißverschluss war offen, ich ging in die Knie, griff ins Seitenfach und zog die Papiere heraus. »Hier bitte.« Ohne das Paket näher zu betrachten, reichte ich es meinem Mann, der inzwischen neben mich getreten war. Er öffnete die Folie und blätterte Ausweise und Tickets durch.
Ich beobachtete die schlafenden Kinder. Ich war froh, dass sie sich mittags schlafen legten, so hatte ich sie abends länger um mich. »Eins, zwei, drei … und wo ist der vierte?«, hörte ich Abdullah plötzlich flüstern. »Welcher vierte?«, fragte ich leise zurück. »Der vierte Ausweis fehlt.« – »Kann nicht sein!« Ich spürte, wie ich rot wurde. »Ich habe alle vier zusammen in die Tasche gesteckt.« – »Aber ich sehe hier nur drei«, wisperte Abdullah nun fast mitleidig. Als Zeichen dafür, dass er die Wahrheit sprach, streckte er mir die Pässe entgegen. »Schau selbst, ein Pass fehlt.«
Ich bin viel zu erschrocken, um die Papiere zu nehmen. Kann nicht sein, denke ich, nein, wo soll der vierte Ausweis denn hingekommen sein? Ich habe ihn doch gar nicht mehr in der Hand gehabt. Nicht mehr woanders hingeräumt. Er muss da sein. Ich knie mich neben die Tasche, fasse wieder hinein. Vielleicht klebt der Ausweis ja an der Plastikwand? Hektisch streiche ich am Boden und an den Seiten entlang. Aber nichts. Ich sehe Abdullah an, dann die Tasche, drehe sie um. In mir dreht sich alles, das darf nicht wahr sein. Mein Mann hat mir die Papiere anvertraut, und nun ist ein Pass weg!
Es juckt, ich fange an, mich zu kratzen, der Schweiß läuft mir an den Beinen herunter. Ich stelle die Tasche auf den Kopf und schüttele sie aus wie einen Teppich. Schlage und klopfe, aber nichts. Wo ist bloß dieser verdammte Ausweis? Er kann doch nicht weg sein. Ich erinnere mich genau, dass ich alle Papiere zusammen verstaut habe. Sorgfältig, weil mein Mann sie mir zum ersten Mal, seit wir verheiratet waren, in die Hand gegeben hatte. Ich weiß, wie wichtig sie sind. Mir bleibt die Luft weg.
Abdullah hat die Arme über der Brust verschränkt, seine buschigen Augenbrauen hochgezogen. »Immer mit der Ruhe«, sagt er leise, während er die Pässe und Tickets in seiner Hand wiegt. Lächelt er mich an? Nein, bitte lieber Gott, lass das nicht wahr sein! Ich gehe zum Schrank, wühle in unseren Kleidern, dann in den Rucksäcken der Kinder, die vor dem Schrank abgestellt sind. Nichts. Ich gehe zurück, wieder auf die Knie, schüttle wieder die Tasche aus. Sitze auf dem Boden, wühle, schüttle, wühle. Morgens hatte ich noch unbeschwert mit den Kindern gespielt und ihre Hände mit Henna bemalt. Und jetzt? Eine Katastrophe. Die Kinder hatten sich über meine schönen Schnörkelmuster auf ihrer Haut gefreut und wollten sie unbedingt ihren Hamburger Freunden zeigen.
Ich sehe, wie mein Mann einen Pass nach dem anderen durchblättert: »Das ist der von Amin, hier der von Jasin und noch der von Amal. Deiner fehlt.« Nicht zu fassen. Gleich wird er mich umbringen. Aber Abdullah tut nichts, im Gegenteil. »Wenn du hierbleiben willst, dann sag es doch gleich«, seine Stimme klingt höhnisch, während er die Pässe gegen seine Schenkel klopft. Das kann nicht sein Ernst sein. Als ob ich jemals auf den Gedanken käme, meine Kinder alleine nach Deutschland gehen zu lassen! Er lenkt auch gleich ein: »Komm mit raus auf den Flur, damit wir die Kinder nicht wecken. Dort kannst du in Ruhe nachdenken, wo und wann du deinen Ausweis zum letzten Mal gesehen hast.« – »Aber ich habe ihn doch zusammen mit den anderen … «, will ich antworten. Aber da ist er schon draußen, und ich laufe ihm hinterher.
Warum schimpfte er nicht? Das irritierte mich. Nicht einmal Vorwürfe machte er mir. Stattdessen zeigte er Verständnis, wie ich es nie von ihm erwartet hätte. »Wenn du ihn verloren hast, dann müssen wir einen neuen beantragen.« – »Ich habe den Pass nicht verloren, wie denn, wo denn?« – »Es sieht aber ganz danach aus.« Das war eine Unterstellung, ich erinnerte mich doch ganz genau, dass ich alle Papiere zusammen in eine Folie gelegt und in das Seitenfach geschoben hatte. Trotzdem sagte ich: »Ich werde noch einmal gründlich suchen, wenn die Kinder wach sind.« – »Ja, mach das. Ich nehme die anderen Pässe an mich, damit sie nicht auch noch verloren gehen.« Während er das sagte, steckte er sie in seine schwarze Tasche, die wie immer an seinem Handgelenk baumelte. Mein Flugticket drückte er mir in die Hand. »Damit kann ich im Moment nicht viel anfangen. Deinen Flug zu bestätigen hat ja wohl keinen Sinn.« Wollte er damit sagen, dass ich hierbleiben musste? Und nicht mit nach Deutschland reisen konnte? Es musste doch eine Möglichkeit geben, die notwendigen Papiere zu beschaffen. Irgendwie, schon wegen der Kinder, sie brauchten ihre Mutter. Mein Vater sollte seine Beziehungen spielen lassen. Wie Blitze zuckten die Gedanken durch meinen Kopf.
Abdullah strich sich seine Haare aus der Stirn. »Wird schon alles gut werden«, sagte er ruhig. Ranziger Schweißgeruch stieg mir in die Nase, mir schwindelte. »Ich kümmere mich darum.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zur Tür. Er hatte nicht gewütet, kein einziges böses Wort gesagt. Wie locker er durch den Garten ging! Unter dem Pfirsichbaum bückte er sich und sammelte ein paar Früchte auf. Was war los mit ihm? Er konnte mich doch nicht alleine lassen, bitte nicht in dieser Situation!
Ich rannte ihm hinterher, er saß schon im Auto, ich fasste an das heiße Blech. Ich wollte, dass er etwas sagte, und genervt tat er mir den Gefallen: »Wie konnte ich nur so blöd sein, dir die Papiere zu überlassen?« Ich hielt ihn auf. »Ich wusste genau, dass ich dir die Unterlagen nicht geben darf, und habe es doch getan. Wie konnte ich nur so vertrauensselig sein und glauben, dass du alles im Griff hast?« – »Aber ich hab doch … « – »Verloren hast du ihn, deinen eigenen Pass verloren! Und wie willst du jetzt nach Deutschland kommen?« – »Mein Vater … « – »Dein Vater, was ist mit ihm? Der kann so schnell auch keinen Pass für seine Tochter herzaubern. Aber gut, vielleicht werden wir mit ihm zusammen eine Lösung finden. Aber stell dir das bloß nicht so einfach vor.« Er werde gegen Abend wiederkommen, sagte er noch, wenn der Vater da sei. Dann fuhr Abdullah los.
Was mein Vater wohl dazu sagen würde? Ich ging zurück, schwitzte, in der Hölle konnte es nicht heißer sein. Ich tauchte meine Arme in einen Wassertrog, der auf der Terrasse neben vertrockneten Geranientöpfen stand. Ging unruhig durchs Haus, wie im Fieberwahn ins obere Stockwerk hinauf und wieder hinunter und hinaus durch den Hintereingang. Dort, wo ich immer in Nachbars Garten geklettert war, lehnte ich mich an die Mauer. Ich spürte meinen Puls, ich atmete noch. Aber die Luft stand still. Sicher ist alles nur ein Traum. Ein Hitzetraum. Ein Wüstenwahn. Ich habe oft von verzweifelten Suchaktionen geträumt. Gleich würde ich aufwachen. In der Gasse hinter dem Haus, dort wo ein paar Olivenbäume wachsen, ist das Meckern von Ziegen zu hören, und von der Straße weht milchsauer der Gestank vom Müll, den die Leute vor ihre Häuser gekippt haben. Ich starre in den Himmel, stechendes Blau. Es ist kein Traum. Mein Pass fehlt. Meine Kinder würden nach Deutschland reisen, und ich würde nicht mitkommen.
Jasin, Amin, Amal – sie schliefen noch. Ich musste die Zeit nutzen und noch einmal nach meinem Pass suchen. Die Schranktüren standen weit offen, die Schubladen waren herausgezogen. Nun holte ich alle Kleider und Schuhe heraus, Taschen und Tücher, unser ganzes Gepäck, warf alles auf den Boden, breitete es auf den Matratzen aus, drehte jedes Stück um, packte wieder ein, riss alles wieder heraus.
Langsam stieg eine Angst in mir hoch, die ich aus meiner Kindheit kannte. Die »Wenn-der-Vater-nach-Hause-kommt«-Angst. Panik vor dem Menschen, dem ich alles beichten müsste. Weil er sowieso herauskriegen würde, was ich wieder ausgefressen hatte. Also lieber alles gleich sagen und dann warten, ob er den Gartenschlauch holt. Wahrscheinlich würde er mich verdreschen wie früher. Dann würde ich mich in eine Ecke verkriechen und mich erst wieder hervortrauen, wenn der Vater im Bett lag. Was sollte ich ihm überhaupt sagen? Dass ich meinen Pass nicht mehr finde. Verloren habe. Und wenn er mir nicht glaubte?
Wieder wühlte ich in den Sachen, schüttelte T-Shirts und Hosen aus, griff in jede Tasche, faltete alles wieder zusammen. Viermal, fünfmal. Vielleicht hatten die Kinder ja mit den Papieren gespielt und sie irgendwo versteckt. Doch als sie aufwachten, wussten sie von nichts. Ich schickte sie hinaus zur Großmutter, die irgendwo im Haus werkelte: »Raus, raus«, schrie ich, als sie nicht gleich hörten. Am liebsten hätte ich sie geschlagen, um meinen ganzen Frust abzuladen. Bei ihnen, die bestimmt am allerunschuldigsten an der Sache waren. Stattdessen schlug ich die Tür hinter ihnen zu.
Es kann nicht sein. Ich habe meinen Pass nicht verloren. Ausgerechnet meinen und die anderen Ausweise nicht, lächerlich. Gleich nach der Kontrolle am Flughafen habe ich alle Papiere zusammen in die Tasche gesteckt und zu Hause bei den Eltern noch einmal kontrolliert. Vielleicht hat ihn ja jemand weggenommen? Aber wer aus der Familie sollte auf eine solche Idee kommen? Wozu und weshalb? Ich war verzweifelt.
Irgendwann hörte ich meinen Vater kommen. Allah hilf, ich muss beten, dass ich das Ganze gut über die Bühne bringe. Wie immer rief er zuerst nach den Enkelkindern. Egal ob sie schliefen oder wach waren, er wollte sie sehen und die Geschenke, die er mitbrachte, verteilen. Er liebte sie, anders als meine Geschwister und mich, ohne sie zu schlagen. Er schrie einfach: »Amin, Jasin, Amal. Genug geschlafen, wo seid ihr, sofort herkommen. Ich hab euch etwas mitgebracht.«
Die Kinder lärmten im Wohnzimmer. Ich hatte Zeit, kochte Tee. Mit einem Glas in der einen und der heißen Kanne in der anderen Hand stellte ich mich dann an die Wand im Flur, so wie ich es oft als Kind getan hatte. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Ich sah die Kinder mit einem Kreisel spielen, den ihnen der Großvater geschenkt hatte. Er lag auf der Seite, ausgestreckt auf der Couch, lang und knochig, immer noch ein schöner Mann, seinen Kopf hatte er in die Hand gestützt, die Augen waren ihm zugefallen. Er war beliebt bei den Nachbarn und Kollegen, immer da, wenn jemand ihn brauchte.
In dem Maße, in dem ich seinen Zorn fürchtete, bewunderte ich ihn auch. Den Weisen, der nach Mekka reiste. Er war stark, aber auch unerbittlich und gewalttätig. Trotzdem: Ich musste jetzt hinein, ihm alles sagen, bevor Abdullah wiederkam! Mit einem Ruck stellte ich das Glas auf dem Tisch ab und goss den Tee mit einem langen Strahl ein. Es schäumte. »Bitte, könnt ihr rausgehen, geht draußen spielen«, bat ich die Kinder außer Atem, als ob ich einen schnellen Sprint hingelegt hätte, obwohl es doch nur der Anlauf für eine Beichte war.
»Warum sollen die Kinder draußen spielen?«, schreckte der Vater auf. »Willst du sie dem Großvater wegnehmen? In den wenigen Tagen, an denen ich sie noch hier bei mir habe?« Wie nett er zu seinen Enkelkindern war. Er bemühte sich dauernd um sie, spielte sogar mit ihnen. Vielleicht versuchte er auf diese Weise gutzumachen, was er bei seinen eigenen Kindern versäumt hatte. Ich konnte schon sehen, wie er am Ende der Ferien wieder mit den Tränen kämpfte, weil er sich von ihnen trennen musste.
»Komm, setz dich zu mir«, sagte er nun. Das konnte ich nicht. Aber ich ging langsam zurück zur Tür, schloss sie und lehnte mich dagegen. Sollen die Kinder bleiben, sie würden sowieso alles erfahren. Vielleicht war es sogar besser so, dann würde mir mein Vater wenigstens nichts antun können. Für Minuten blieb ich stumm. Es fiel mir schwer zu sprechen, mein Hals war rau: »Meine Papiere sind verschwunden. Baba, bitte kannst du mir helfen?«, fing ich an. Er blinzelte, umständlich setzte er sich auf. »Was meinst du mit meine Papiere sind verschwunden.« – »Mein Pass, er ist nicht mehr da.« – »Was heißt nicht mehr da?« – »Es ist zum Verzweifeln, ich habe überall gesucht, aber ich finde ihn nicht mehr.« – »Das kann nicht wahr sein. Frag Abdullah, er muss ihn doch haben.« – »Nein, ich habe ihn aufgeräumt, und nun finde ich ihn nicht mehr. Alle Papiere sind da, nur mein Ausweis fehlt.« – »Wie willst du ohne Pass nach Deutschland fliegen? Das geht nicht.« – »Ich weiß.«
Nervös stand der Vater auf. »Hat Abdullah ihn verschlampt?« – »Nein, ich hatte ihn, und jetzt ist er nicht mehr da.« – »Eine Katastrophe«, rief er, sprang auf und warf seine Arme in die Luft. »Bist du sicher? Wo hast du ihn verloren?« – »Ich habe ihn nicht verloren, sondern mit den Papieren der Kinder und den Flugtickets zusammen in meine Tasche gepackt.« – »Willst du damit etwa sagen, dass jemand aus der Familie ihn weggenommen hat?« – »Nein, warum denn?« – »Warum sind die Ausweise und Tickets überhaupt bei dir? Die haben nichts bei dir zu suchen. Dein Mann trägt die Verantwortung dafür.« – »Aber er wollte, dass ich mit den Kindern hierher nach Tunesien fliege. Deshalb hatte ich sie.« – »Und jetzt hast du deinen Pass verloren.«
Mein Vater ging hin und her, zum Rhythmus seiner Schritte klatschte er in die Hände. Ich hatte Angst vor ihm, aber er war nicht böse, nicht so, wie ich es erwartet hatte. »Kannst du mir nicht helfen?«, fragte ich. »Von heute auf morgen, das denkst du dir so. Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst. Ein neuer Pass braucht Zeit. Dann noch das Visum, das kann Monate dauern.« – »Und deine Beziehungen?« – »Nützen gar nichts, unsere Behörden arbeiten langsam. Du wirst hierbleiben müssen und warten.« – »Aber die Kinder?« – »Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Bevor du deinen Ausweis verlierst. Ich weiß nur so viel, ein neuer Pass kostet Zeit und Geld.«
Die Tränen liefen mir übers Gesicht. Zehn Jahre hatte ich geschwiegen, noch nie hatte ich meinem Vater vorgeworfen, dass er mich ausgerechnet mit diesem Mann verheiratet hatte. Nie hatte ich ihn um etwas gebeten. Nun musste er mir helfen! Ich schluchzte und schlug die Hände vors Gesicht, an dem lange Haarsträhnen klebten. Jetzt konnte ich nicht mehr.
Als Abdullah abends kam, saß die Familie beim Essen. Alle hatten mitbekommen, was los war, aber keiner außer mir schien sonderlich bekümmert. »Bleib halt da«, war der Kommentar meiner Mutter, wie immer hatte sie ihre Hände gefaltet und in den Schoß gelegt. Meine jüngere Schwester sagte gar nichts. Man hatte sich auf der Terrasse rund um eine große Holzschüssel mit Couscous niedergelassen, aß mit den Fingern und packte das Gemüse zwischen große Fladenbrotstücke. Mir war schlecht, ich konnte nichts essen. Merkte, wie mein Mann mich belauerte. Er schien bester Laune zu sein, zog seine Schuhe aus, stellte sie ordentlich zusammen an die Hauswand. Ich brachte ihm Brot. »Geht’s gut in Deutschland?«, fragte der Vater. – »Ja, sicher«, entgegnete er, während er sich auf die Teppiche zu den anderen setzte. »Erzähl, was macht die Arbeit und das Geld?« – »Alles gut, auch wenn es für uns Gastarbeiter schwieriger geworden ist, nicht mehr so einfach ist wie früher.« – »Aber du bist doch gut im Geschäft? Sieht man doch an deinem Auto.« – »Klar, ich bin seit über 15 Jahren in derselben Firma. Die rechte Hand des Chefs. Aber die goldenen Zeiten sind vorbei. Wir Ausländer waren immer für jede Arbeit gut. Doch seit mehr Menschen aus dem Osten kommen und nach Jobs suchen, haben viele Landsleute Angst, arbeitslos zu werden.« – »Wer kommt aus dem Osten?« – »Deutsche aus Ostdeutschland. Bis vor einem halben Jahr waren der Westen und der Osten durch eine Mauer getrennt. Jetzt kommen viele in den Westen, weil dort die Löhne höher sind. Jeder von uns fürchtet um seinen Job.« – »Aber ihr habt doch gute Arbeit gemacht?« – »Ja, aber wir Ausländer sind nicht mehr so gerne gesehen. Plötzlich heißt es, wir würden den Deutschen die Arbeit wegnehmen. Die Situation hat sich verändert.« – »Trotzdem ist sie besser als hier.« – »Ja, nicht zu vergleichen. Aber mit Aufenthaltsbewilligungen ist man geizig geworden. Nicht mehr jeder kann nach Deutschland kommen und gehen, wie er will.«
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Was meinte Abdullah damit? Dass ich womöglich nicht mehr nach Deutschland kommen kann? Ich ärgerte mich, ich hatte keinen Pass, und die beiden Männer hatten nichts Besseres zu tun, als sich über Politik zu unterhalten. Nie hat jemand mit mir über Politik gesprochen, vielleicht hätte sie mich sogar interessiert. Aber ich weiß nichts von einem Kanzler, und von einer Mauer in Deutschland habe ich sowieso noch nie etwas gehört. Aber nun war ich doch hellhörig geworden. Wenn es zu viele Leute in Deutschland gibt, würde ich womöglich nicht mehr einreisen können? Will man mich nicht mehr haben? Und die Kinder?
Nach einer halben Stunde kamen die Männer endlich auf meine verschwundenen Papiere zu sprechen. »Warum hast du eure Papiere Esma gelassen?«, fragte mein Vater vorwurfsvoll, »sie sind doch wichtig.« – »Ich dachte, sie könne darauf aufpassen.« – »Ausweise haben nichts bei einer Frau zu suchen, merk dir das. Du hättest sie lieber bei dir gelassen oder mir gegeben.« – »Die Zeiten haben sich geändert, Abdelhamid, die Frauen werden selbständiger. Und dass jemand seinen Pass verliert, kann ja mal passieren.« Jetzt nahm mein Mann mich auch noch in Schutz. Während er sprach, fuhr er sich mit seinen Fingern durch die Haare, er war sich seiner sehr sicher. Seine Haare waren lang. So wirkte sein Gesicht noch spitzer. Wie die jener wilden Hunde, die auf den Straßen in den Abfalltonnen wühlen, die die Gemeinde irgendwann aufgestellt hatte, die aber nie geleert wurden. Ich erkannte Abdullah nicht wieder, so aufgeräumt und weltmännisch, wie er sich benahm.
»Ich werde alles tun, um für Esma so schnell wie möglich die notwendigen Papiere zu bekommen«, fuhr mein Vater fort. Doch mein Mann beschwichtigte: »Lass, Abdelhamid. Ist nicht nötig. Ich werde mich von Deutschland aus darum kümmern. Hier halten doch bloß alle die Hand auf. Du kennst doch unsere Behörden. Langsam und unzuverlässig. Ich will nicht, dass du dich mit solchem Kram belastest.« Der Vater ließ sich von seinem Schwiegersohn beruhigen. »Esma wird vorerst hierbleiben müssen. Es wird nicht lange dauern. Bei euch ist sie gut aufgehoben.« Dagegen konnte mein Vater wirklich nichts haben. »Lass auch Amal da, sie ist ja noch klein«, schlug er vor. »Dann werden wir sie hier einschulen.« – »Okay, aber Jasin und Amin nehme ich mit. In einer Woche fängt in Hamburg die Schule an. Die Jungs können unmöglich bleiben.«
Beschwörend sah Abdullah zu mir herüber. Ich saß auf einem Plastikstuhl vor dem großen, weißen Eingangstor, das mit blauen Fischen verziert war. Jede Familie hat ein anderes Symbol an ihrer Tür. Warum es bei uns ausgerechnet Fische waren, weiß ich nicht. Nie hatte meine Familie etwas mit Wasser zu tun gehabt. Wir kamen aus dem Süden, aus der Wüste, dem Land der Berber. Ich hatte einen trockenen Mund und schluckte.
»Ich werde eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung für Esma beantragen müssen. Das geht schnell, sie werden schon wegen der Kinder eine Ausnahme machen«, meinte Abdullah und fixierte mich weiter. Wahrscheinlich um zu sehen, wie ich reagierte. In Deutschland hätte ich ihm widersprochen, aber nicht hier vor meinem Vater. Ich vertiefte mich weiter in das Fischsymbol. Was es wohl bedeutete? Schutz vor bösen Geistern? Vielleicht gab es eine Oase dort in der Gegend, aus der Vaters Familie stammte.
Nun kamen Jasin und Amin, sie setzten sich neben mich auf den Boden, und ich kraulte sie im Haar. Ich fragte in diesem Moment nicht: »Was ist, wenn sie mich vermissen?« Sagte auch nicht: »Ich werde sie vermissen.« So weit konnte ich nicht denken. Überhaupt konnte ich mir nicht vorstellen, von meinen Kindern getrennt zu sein. Aber ich fühlte einen dunklen Abgrund, der sich unter mir auftat und der mich fast unmerklich aufsog.
Obwohl ich in Deutschland einige selbständige Schritte unternommen hatte, fiel ich hier in meine alte Rolle zurück. Ich war wie gelähmt und kam gar nicht auf die Idee, mein Anliegen selbst in die Hand zu nehmen. Ich hätte bei der deutschen Botschaft nach einem vorläufigen Visum fragen können. Sicher hätte man ein Einsehen mit mir gehabt und gesagt: Die Kinder brauchen ihre Mutter. Im Nachhinein weiß ich, dass ich sogar sofort ein Visum bekommen hätte, auch ohne Ausweis. Aber die Männer hatten entschieden, dass ich hierbleiben und warten soll. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, diese Entscheidung in Frage zu stellen.
Ich betrachtete die Jungs und brachte es nicht übers Herz, ihnen zu sagen: »Habe meinen Pass verloren, tut mir leid, aber ihr müsst ohne Amal und mich nach Hamburg zurückfliegen. Ihr beide alleine, weil Abdullah ja mit dem Auto gekommen ist und damit auch wieder zurückfahren muss.« Während ich die beiden immer noch in den Haaren kraulte, wandte sich mein Vater an sie und erklärte den beiden, dass sie ohne ihre Mutter nach Deutschland zurückfliegen müssen. Er fürchte sich aber alleine, entgegnete Jasin und umschlang meine Beine. »Das schaffst du mit deinem großen Bruder. Ihr seid alt genug.« Nun fing auch Amin an zu weinen, und ich fühlte mich schuldig und schlecht. Warum tat ich ihnen das an?
Die Zeit bis zum Abschied war kurz. Ein Samstag, der schlimmste Tag meines Lebens. Früh fuhr Abdullah mit dem Auto vor. Er hatte es eilig, wollte zuerst die Jungen zum Flughafen bringen, dann mit dem Auto zur Fähre. Der Himmel war milchig, glänzte lila, angestrahlt von der Sonne, die gleich über der flachen Steppe aufgehen würde. In den Akazienbüschen an den Straßenrändern zwitscherten die Regenpfeifer, von der Moschee rief der Muezzin zum Gebet. Ich weckte die Kinder mit einem flauen Gefühl im Magen. Es zerriss mir das Herz, als ich sie so friedlich liegen sah, mit ihren dünnen Beinchen, mit denen sie sich im Schlaf von der Bettdecke freigestrampelt hatten. Ich wollte sie bei mir behalten, nicht gehen lassen. Ich würgte, stürzte aufs Klo, gelbe Galle kam hoch.
Die Koffer und Rucksäcke der Kinder hatte ich am Abend zuvor schon gepackt. Ich musste nur noch Kaffee kochen. Doch jede Bewegung fiel mir schwer, so als hätte ich Blei in den Händen. Ich wollte meine Kinder nicht loslassen und fühlte doch, als würde ich von einer Welt mit Kindern in eine Welt ohne Kinder gesogen. Allein in einem Boot, das sinkt und mich mit nach unten zieht, bis ich nichts mehr sehe.
Mein Vater war schon auf den Beinen, die Mutter schlief noch. Abdullah drängelte, aber der Vater wollte, dass die Jungen frühstücken, bevor es losgeht. Fladenbrot eingetunkt in Olivenöl. Sie mochten es nicht, ihr Gemecker riss mich aus meinen dunklen Gedanken. »Warum gibt’s hier keine Snacks oder Cornflakes«, jammerte Jasin. »Ich bin froh, wenn wir wieder in Deutschland sind und Schokoflakes essen können«, sagte Amin. »Ja«, entgegnete ich, »dort bekommt ihr alles, was ihr wollt.« – »Auch Pizza und Spaghetti?« – »Klar, alles.« – »Kaufst du mir ein Überraschungsei?« – »Sicher!«
Wie werde ich das bloß überstehen? Die beiden Jungs hatten noch immer nicht richtig begriffen, dass sie alleine fliegen sollten. Ich trug ihre Taschen ins Auto, zupfte an den beiden herum. »Wenn ihr in Hamburg ankommt, holt ihr gleich eure Jacken aus dem Rucksack und zieht sie an. Dort ist es immer kälter als hier«, ermahnte ich sie. »Nicht dass ihr einen Schnupfen bekommt.« Abdullah verlor nicht viele Worte, er wollte den Abschied so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Beeilt euch«, trieb er sie an.
Als die Kinder ins Auto steigen, habe ich das Gefühl, als würden mir Arme und Beine abgetrennt. Mit dem Messer, saubere Schnitte. Tatenlos muss ich dabei zusehen, ich bin taub vor Schmerzen. »Und du, Mami, wann kommst du?«, rufen die beiden. Ich stehe am Gartentor und schlucke und schlucke. Bringe kaum ein »Komme bald nach« über die Lippen. Ich sehe mich nach meiner Mutter um, die in einem tiefblauen Nachtkleid in der Haustür steht, ihre Mundwinkel verächtlich nach unten gezogen. Und in dem Moment, als ich den Satz »Ich komme bald« sage, weiß ich, dass er nicht stimmt. Amal, die neben mir steht, fängt an zu weinen. Ich nehme sie auf den Arm, obwohl sie schwer ist. »Hör auf«, fahre ich sie an, dann blicke ich auf meine nackten Füße, die in Badelatschen stecken, und beiße die Zähne zusammen, bis sie knirschen.
Würde ich bloß endlich den Mund aufmachen und schreien: »Nein, ich will meine Kinder hierbehalten, hier bei mir. Wir bleiben zusammen, bis ich weiß, wie es weitergeht.« Aber ich schreie nicht. Sage keinen Ton. Amal legt ihren tränennassen Kopf an meine Wange. Sie zuckt, ich schrecke zusammen. Ich rieche ihre Hilflosigkeit und spüre ihr Leid. Sie tut mir leid, alle Kinder tun mir leid. Ohne zu wissen, was ich tue, drücke ich Amal meinem Vater in den Arm.
Ich kann die Jungen nicht so gehen lassen! Hustend reiße ich die Autotür auf und lasse mich zu Amin und Jasin auf die Rückbank fallen. Ich will mit, keiner wird mich davon abbringen können mitzufahren. »Aussteigen«, ruft mein Mann erbost, weil er starten will. »Sei doch vernünftig, du kannst Amal nicht alleine lassen.« – »Ich weiß, aber ich will auch Amin und Jasin nicht allein lassen«, schreie ich. »Ich steige nicht aus!« – »Du bist verrückt, du weiß doch genau, dass du nicht mitkommen kannst. Es dauert nur zwei, höchstens drei Wochen, dann kommt ihr nach.« – »Ich komme aber jetzt mit.« – »Das geht nicht, los, steig aus. Wir müssen fahren, sonst verpassen wir den Flieger.« Abdullah ist weiß im Gesicht, seine Augen grau wie Gischt. Amal, die mein Vater inzwischen wieder auf den Boden gestellt und an die Hand genommen hat, weil sie in seinen Armen zu sehr zappelte, schreit und weint: »Mama, Mama, ich will mit!«
Ich will sie nicht hören, das ist doch nicht auszuhalten, was Allah oder Abdullah oder wer auch immer da von mir verlangen. Ich schlage die Autotür zu. »Dann nimm mich wenigstens mit bis zum Flughafen«, brülle ich. In den Ferien hatte sich Abdullah kaum um die Kinder gekümmert, und nun will er sie mir einfach wegnehmen. Sang- und klanglos. Das kann nicht richtig sein! Nein! Aber jetzt fangen auch noch Amin und Jasin an zu weinen. »Mama, bleib hier bei uns, komm mit!« Sie halten mich mit ihren kleinen Händen an meinen Armen und klammern sich fest, weil sie denken, ich würde wieder aussteigen. Gleichzeitig fürchten sie sich vor ihrem Vater, der mich loswerden will. Es ist bitter. Abdullah steigt noch einmal aus, ich spüre seine unterdrückte Wut in jeder seiner Bewegungen. Wie er mit kurzen Schritten ums Auto herumgeht, meine Tür aufreißt, den Kopf hocherhoben, und zu meinem Vater sagt: »Hadsch, sag du ihr, dass sie aussteigen soll. Sieh doch Amal, wie sie weint.«
Doch Vater reagiert anders als erwartet. Unser Schmerz hat ihn milde gestimmt, und zum ersten Mal stimmt er seinem Schwiegersohn nicht zu. »Warum? Es ist doch verständlich, dass der Mutter der Abschied von ihren Kindern schwerfällt. Lass sie mitkommen«, sagt er, und zu Amal gewandt: »Ummi kommt heute Abend wieder. Komm, wir gehen Ball spielen, darfst mit dem Opa spielen. Oder möchtest du etwas essen?«
Es zerreißt mich. Ich beuge mich nach vorne, klemme meine Hände zwischen die Knie, starre stumm in meinen Schoß. Das Weinen der Kinder klingt wie eine Anklage in meinen Ohren. »Bleib bei mir«, tönt es von Amal. »Lass uns nicht allein«, von Amin und Jasin. Doch Abdullah startet das Auto, der Motor heult auf, und die Räder drehen durch, als er auf dem sandigen Weg losfährt und beschleunigt.
300 Kilometer bis zum Flughafen. Nach einer halben Stunde schliefen die Kinder erschöpft ein. Gedankenverloren blickte ich aus dem Fenster, aufgewühlt bis ins Innerste. Ich sah die Landschaft an mir vorbeiziehen, Kamele zur Tränke traben. Sah die steinig rote Steppe, wo dicke Büschel von Espartogras wuchsen, das Frauen in bunten Gewändern und weißen Tüchern über Kopf und Schultern schon früh am Morgen geerntet hatten und nun in Bündeln auf ihren krummen Rücken nach Hause trugen, um es dort zu Körben und Matten zu flechten. Warum konnte ich nicht hierbleiben mit meinen Kindern und Körbe flechten wie diese Frauen? Meinen eigenen Lebensunterhalt verdienen?
Als wir durch die Stadt der Teppiche fuhren, tönte mir der Muezzinruf wie eine Warnung in den Ohren: »Ohne Mann und Kinder bist du nichts.« Und als wir an den frisch geschlachteten und gehäuteten Schafen, die vor den kleinen Häuschen am Straßenrand zum Verkauf hingen, vorbeikamen, meinte ich ihr Meckern zu hören, bevor sie zur Schlachtbank geführt wurden. Abdullah fuhr wie ein Verrückter, irgendwann hielt er an, um Obst zu kaufen. Orangen, Bananen, Datteln. Die Kinder wachten auf, wir aßen, und ich fragte mich, wann ich wohl das nächste Mal Obst mit meinen Söhnen essen würde? Zwei, drei Wochen hatte mein Mann gesagt. Es fühlte sich an wie für immer.
Die Kinder hatten nur ihre Rucksäcke mit Jacken und etwas zu essen dabei und eine kleine Tasche um den Hals für Pass und Ticket. Das Gepäck wollte Abdullah im Auto mitnehmen. Es war halb elf Uhr vormittags, als wir am Flughafen ankamen. Abdullah ging voran, ich ein paar Schritte hinter ihm, wie immer, die Kinder an der Hand. Vorbei an Cafés, vor denen junge Männer saßen und Wasserpfeife rauchten, und vorbei an Geldwechselstuben. Jasin und Amin waren aufgeregt. »Mama, Papa, was soll ich machen, wenn mir im Flugzeug schlecht wird?« – »Sag der Stewardess Bescheid, sie wird dir eine Medizin geben.« – »Und wenn ich nicht weiß, wo mein Platz ist?« – »Dann fragst du jemand und zeigst ihm deine Bordkarte.« – »Was ist eine Bordkarte?«, und so weiter.
Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sich unsere Jungs zurechtfinden sollten. Sie waren so verängstigt. Um mich selbst zu beruhigen, hängte ich an jede meiner Antworten den Satz: »Ihr seid groß genug, ihr schafft das schon.« Abdullah war damit beschäftigt, den Schalter zu suchen und die Ausreiseformulare auszufüllen. Als uns die Frau von Tunis-Air die Bordkarten hinschob, durchzuckte es mich: Ich würde meinen Flug gleich umbuchen lassen. Meinen Mann darum bitten. Also fragte ich ihn leise: »Hier das Ticket, machst du das für mich? Zwei Wochen hast du gesagt?« – »Wie bitte? Wie soll das denn gehen?«, herrschte er mich an. »Schon vergessen, dass dein Pass fehlt?« Mit einer unwirschen Handbewegung drängte er mich weg. Vor all den anderen. Er hatte so laut gesprochen, dass es jeder hören konnte. Alle wussten jetzt, dass ich nicht einmal auf meine Papiere achten konnte, was doch das Wichtigste war, wenn man im Ausland lebt.
Ich schämte mich, schaute hoch zu den orientalischen Lüstern an der Decke, dann ins Leere und zog mein Tuch, das ich an diesem Tag umgebunden hatte, tiefer in die Stirn. Gleichzeitig straffte ich trotzig die Schultern. Irgendwann würde ich es allen zeigen.
Als wir fertig waren, musterte Abdullah die Menschenschlange hinter uns. Er fand tatsächlich jemanden, den er flüchtig aus Hamburg kannte. Es war Ferienende, deswegen nicht unwahrscheinlich, dass andere Tunesier ebenfalls aus ihrem Urlaub zurückkehrten. Unter Landsleuten kennt man sich. Mein Mann ging auf einen sympathisch aussehenden rundlichen jungen Mann zu, neben dem eine Frau mit Tuch um die Schultern stand. Sie begrüßten sich mit Handschlag, dann deutete Abdullah auf unsere Söhne und schien zu verhandeln. Ich verstand nicht viel, dachte mir aber, dass er sie fragte, ob die beiden während des Fluges ein Auge auf unsere Kinder haben könnten. Wahrscheinlich hat er auch gefragt, ob sie Jasin und Amin irgendwo hinbringen könnten, wenn sie in Hamburg ankämen. Ich weiß nicht, vielleicht hat er ihnen auch eine Adresse zugesteckt, vielleicht aber auch nur gesagt, wem sie am Flughafen unsere Söhne übergeben sollten.
Er selbst konnte sie ja nicht erwarten, da er erst drei Tage später ankommen würde. Seltsam, dass mir dieser Gedanke erst jetzt kam. Im letzten Moment. Wo würden die Kinder unterkommen, während Abdullah mit dem Auto unterwegs nach Hamburg war? Sie waren doch lange vor ihm da. Wer würde sie abholen und nach Haus bringen? Wer sie versorgen? Ihnen das Essen machen, ihre Wäsche waschen, sie ins Bett bringen? In meiner Verzweiflung hatte ich daran überhaupt nicht gedacht. Ich zitterte. Sollte ich meine Freundin anrufen, obwohl wir uns in den vergangenen Monaten wenig gesehen hatten?
Doch wie ich Abdullah kannte, hatte er sicher andere Pläne. Als er uns nun zu den Landsleuten heranwinkte, fragte ich sofort: »Wer versorgt Amin und Jasin, wenn ich nicht da bin?« – »Da denkst du aber spät dran. Wundert mich, dass du jetzt erst danach fragst. Natürlich werde ich sie versorgen, oder meinst du, dass ich das nicht kann?« – »Doch, aber die Kinder sind in drei Stunden in Hamburg, du brauchst drei Tage mit dem Auto. Wie willst du dich da um die Kinder kümmern?« – »Ich sorge schon dafür, dass sie nicht auf der Straße stehen, mach du dir da keine Gedanken. Kümmere dich lieber um dich selbst.« – »Wo sind sie, wenn du nicht da bist?« – »Bei Freunden, du kennst sie nicht, geht dich auch nichts an. Lass das meine Sorge sein. Meinst du wirklich, du kannst auf deine Kinder aufpassen, wenn du nicht einmal auf deinen Pass aufpassen kannst?«
Da schwieg ich, wieder hatte Abdullah so gesprochen, dass unsere Landsleute alles mithören konnten. Ich schaute nach den Kindern. Was war ich bloß für eine dumme Mutter. Im Nachhinein kann ich es mir weder erklären noch verzeihen, dass ich mich so wehrlos fügte.
Zu sechst standen wir vor der Halle, die zu den Terminals führte, ein großer Durchgang, dahinter eine Stellwand, sodass man nicht in den Raum sehen konnte. Links und rechts zwei Grenzbeamte, die oberflächlich die Ausreiseformulare kontrollierten. Amin und Jasin standen unschlüssig herum: »Kommt mit«, sagten die jungen Landsleute aus Hamburg. »Ihr müsst gehen«, sagte ich, und es war, als würde ich mir eigenhändig ins Fleisch schneiden, bis es blutete. »Wir sehen uns bald wieder.« – »Wann?«, fragten sie und wirkten so kindlich. Wie dünn sie immer noch waren. Ich legte meine Arme um sie, ganz fest, wollte sie nicht mehr loslassen, drückte sie mitsamt ihren Rucksäcken, ließ dann doch los und drehte mich um.
Ich taumelte und sah nicht, ob sie links oder rechts herum um die Stellwand gingen. Was, wenn einer von beiden zurückgelaufen käme? Bestimmt, sie waren viel zu klein, um alleine nach Hause zu fliegen. Für eine kurze Sekunde klammerte ich mich an diese Hoffnung. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und mein Blick verschleierte sich. »Willst du nicht nach Hause? Ist ein langer Weg«, hörte ich da schon meinen Mann sagen, der mit hastigen Schritten vorauseilte. Sollte er doch gehen, ich konnte nicht so schnell, ich stützte mein Gesicht in beide Hände, und auf einen Schlag war ich unendlich müde. »Willst du hier Wurzeln schlagen? Komm, gehen wir«, forderte er mich noch einmal auf. Ich blickte ihn an, die Tränen strömten mir übers Gesicht: Wie fremd er mir war. »Wohin willst du gehen?«, fragte ich hilflos. »Fährst du mich nach Hause?« – »Nein, bestimmt nicht. Du musst alleine zurück. Ich hab’s dir gesagt, aber du wolltest ja unbedingt mit.« – »Wo fährst du hin?« – »Wohin, mein Gott, das weißt du doch. Zum Hafen, zur Fähre.« – »Kann ich mit?« – »Wenn du unbedingt willst.«
Ich wollte nicht weg von ihm, ich heulte, Abdullah war meine einzige Verbindung zu den Kindern. Außer ihm hatte ich niemanden. An wen hätte ich mich denn wenden sollen, wen um Hilfe bitten. Bis zum letzten Moment wollte ich von meinem Mann hören, dass es den Kindern gut gehe und dass er sich um sie kümmern werde, bis ich sie wiedersehen würde. »Bitte, kannst du mich mit zum Hafen nehmen? Von dort aus finde ich einen Bus oder ein Sammeltaxi.«
Er nahm mich tatsächlich mit. Es war nicht weit, 30 Minuten vielleicht zu fahren. Die Straße führte schnurgerade über den künstlich aufgeschütteten Damm am Meer, entlang der Bahngleise und vorbei an Hochspannungsmasten. Am Horizont sah ich, wie riesige blaue Containerschiffe, auf denen »Hamburg« stand, von Kränen beladen wurden. Warum zum Teufel konnte ich nicht mit? Quietschen und Ächzen war die Antwort. Blanke Metallteile, die aufeinanderrieben. Abdullah fuhr an endlos grauen Lagerhallen aus Beton vorbei in den Fährhafen hinein. Wie schon vor Jahren, als wir zum ersten Mal hier angekommen waren, stellte er sich in die Autoschlange vor der Ablegestelle. »Endstation«, sagte er. Wie zynisch. Ich presste die Hände aufeinander, sie waren steif und kalt wie Steine. Ich hatte Angst. Wie vor Jahren. Damals musste ich mit, jetzt musste ich bleiben. Endstation.
Mit einem Ruck öffnete ich die Autotür und stieg aus. Jetzt erst merkte ich, wie verschwitzt ich war. Feuchtes Hemd und feuchte Hose, ein tränenüberströmtes Etwas aus Haut und Knochen. Nichts hatte ich bei mir, kein Geld und keine Handtasche. So wie ich mich morgens angezogen hatte, mit Jeans und langem T-Shirt, war ich zu den Kindern ins Auto gesprungen und nicht mehr ausgestiegen. Jetzt schämte ich mich. Ein Nichts war ich.
Unsicher machte ich die Tür zu, ging um den Wagen herum bis zur Fahrerseite. Mein Mann hatte das Fenster heruntergekurbelt und den Arm aufgestützt. Ich sah ihn nicht an, sondern geradeaus auf die Autos vor uns: »Ich habe kein Geld, um nach Hause zu kommen«, sagte ich tonlos. »Das hättest du dir früher überlegen sollen«, entgegnete Abdullah hämisch. »Kannst du mir trotzdem etwas geben?« Er zögerte, schimpfte vor sich hin. Dann aber langte er doch ins Handschuhfach und zog seine Tasche heraus. Ich sah ihm durch das Fenster zu, wie er sie zwischen seine Beine klemmte. Der Reißverschluss war offen, die Tasche klaffte ein Stück weit auseinander. Und plötzlich … ich hätte schwören können … nein, es war bestimmt keine Einbildung … ich kann es beschwören, dass ich meinen Pass in dieser Tasche sah! Mein Pass zusammen mit seinem und dem von Amal! Drei graue Heftchen. Ich konnte es nicht glauben, das musste eine Einbildung sein. – Mein eigener Mann? Nein, der konnte es nicht gewesen sein. Nicht er!
Ich hatte den dritten Ausweis nicht wirklich gesehen. Vielleicht mehr gefühlt, aber mit jeder Faser meines Körpers gespürt: Da drin sind meine Papiere. – Aber warum? – So etwas würde mir mein Mann doch nicht antun? Mir den Pass stehlen? Warum sollte er? Ohne dass es mir bewusst wurde, wusste ich: Mein Pass ist in seiner Tasche, er muss ihn mir weggenommen haben. Aber wie? Mein eigener Mann! Warum sollte er mich betrügen? Doch, er hinterging mich! Ließ mich absichtlich in Tunesien sitzen. Alles, nur das nicht! Es gab doch keinen Grund. Er brauchte mich für die Kinder!
Er liebte mich nicht. Er hat mich geprügelt, vergewaltigt und gedemütigt. Aber mir meine Papiere wegnehmen? War ich nicht schon unselbständig genug? Du musst ihn fragen, dachte ich: »Hast du meinen Pass?« Nein, ich wich zurück. Nicht fragen. Bloß nicht riskieren, dass er mir vor lauter Wut keine neuen Papiere besorgt! Er würde toben vor Zorn. Alles abstreiten, klar. Abdullah hatte mich in der Hand, und an diese Hand klammerte ich mich. Mit den Kindern als Pfand, ich hatte sonst nichts.
Ich sah ihn an, aber er erwiderte meinen Blick nicht, sondern schaute in die Tasche. Um seine Augenwinkel zuckte es nervös, und ich roch seinen Atem, den er zwischen gelben Zähnen und aufgesprungenen Lippen hinauspresste.
Hat er mir meine Identität gestohlen? Schlimmer als all seine Schläge empfand ich dieses plötzlich aufkeimende Misstrauen. Diesen furchtbaren Verdacht, den ich für mich behalten musste. Vielleicht war ja alles gar nicht wahr.
In dem Moment, in dem ich die offene Tasche mit den drei Ausweisen vor Augen hatte, war das Bild auch schon wieder verschwunden. Wie eine Sinnestäuschung, ein Blitzlicht. Im Moment des Hellwerdens schon wieder dunkel. Ich wollte es nicht wahrhaben, deshalb verschwand es sofort wieder. So als hätte ich nichts bemerkt. Erst viel später erinnerte ich mich wieder daran.
Abdullah kramte tief in seiner Tasche, aber er schüttelte sie nicht und leerte sie auch nicht aus. Vielleicht weil ich sonst gesehen hätte, was ich nicht sehen sollte. Schließlich drückte er mir eine Hand voll Dinare in die Hand, Münzen. »Hier bitte, mehr hab ich nicht«, sagte er und legte die Tasche wieder ins Handschuhfach. Ich habe das Geld genommen, und dann bin ich einfach weggegangen. Ohne noch ein Wort zu sagen.