Wieder in Tunesien

Zwei Monate war es her, dass mich mein Vater nach Hamburg geschickt hatte, jetzt sollte ich wieder zurück nach Tunesien kommen. »Komm heim zu deiner Familie«, hatte er am Telefon gesagt. »Was hast du noch in Deutschland zu suchen? Wir kämpfen um die Kinder.« Was war das für ein absurdes Spiel, das die Männer da mit mir trieben? Ich kam mir wie eine Spielfigur vor, die nach Lust und Laune bewegt wird. Wenn die Spieler nur wenigstens wussten, was sie taten. Ich wusste es nicht.

Wieder zu Hause in Harburg, legte ich mich sofort ins Bett. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort blieb – Stunden oder Tage. Ich hatte die Gardine ein Stück weit zurückgezogen, lag auf dem Rücken, die Bettdecke bis zum Kinn, starrte auf den Fensterausschnitt. Meine kleine Draußen-Welt, von der ich so gut wie nichts kannte.

Im Moment wollte ich nie wieder aufstehen. Aus dem grauen Himmel vor dem Fenster rieselten Schneeflocken. Weiß und leicht. Auf dem Asphalt würden sie sich schnell in eine eklige graubraune Soße verwandeln. Ich fror, konnte mich aber nicht entschließen, Feuer zu machen. Wenn ich mir Tee kochte, hüllte ich mich in die Bettdecke ein wie in einen Mantel. Trotzdem war es eisig kalt.

Karimah kam vorbei und brachte mir zu essen. Als ob ich krank sei. Widerwillig nahm ich einen Löffel und zermatschte gekochte Kartoffeln und Zucchini. Vom Spielplatz her hörte ich die Stimmen der Kinder. Wie Hohngelächter tönte es in meinen Ohren. Ich verstand Abdullah nicht. Er musste alles von langer Hand geplant haben. Er hatte von einem Neuanfang gesprochen, obwohl er vorhatte, die Kinder nach Tunesien zu entführen. Oder wollte er wirklich neu mit mir anfangen, und seine Geliebte hat ihn unter Druck gesetzt? Oder hatte er Angst vor mir, vor meinen Wünschen, vor der neuen Schwangerschaft? Warum hat er seinen Kindern, die er angeblich liebt, die Mutter genommen? Nur weil er mich loswerden und zerstören wollte?

Wir hätten zusammen überlegen können, wie wir alles arrangieren. Ich hätte ihm den Neubeginn gerne geglaubt. Habe ihn sogar noch bestärkt darin. Weil ich keine andere Möglichkeit sah. Ich wollte meine Kinder haben und eine Familie, ich wollte arbeiten gehen und mit verantwortlich sein. Gemeinsam alt werden, auch wenn mein Mann mich belog und betrog und grün und blau prügelte.

»Was für eine bescheuerte Illusion«, sagte Karimah.

Ich schlief tagelang, sobald ich aufwachte, hatte ich starke Kopfschmerzen. Ein Gefühl völliger Ohnmacht. Doch eines Abends, es dämmerte, als ich das Fenster öffnete, auf dem Spielplatz war es still, da packte mich das Heimweh nach meinen Kindern, gleichzeitig spürte ich eine Hoffnung. Es gab keinen anderen Weg, als um meine Kinder zu kämpfen. Ich konnte sie nicht dem Onkel überlassen. Dort ging es ihnen nicht gut. Ich musste nach Tunesien zurück, in ihrer Nähe sein, den Kindern zeigen, dass ich für sie da war. Nicht länger warten, dieses Mal wollte ich schneller handeln.

Ich sog die frische Luft ein. Mein Herz raste, und ich wurde von einer Nervosität ergriffen, wie ich sie zuletzt an dem Tag erlebt hatte, als ich zur deutschen Botschaft in Tunis gefahren war. Ich konnte kaum einschlafen, spürte meine Glieder schwer wie Güterzüge und leicht wie Flügel zugleich. Am nächsten Morgen zog ich mir mein blaues Leinenkleid an, eines, das Abdullah nie gemocht hatte, band mir ein weißes Tuch ins Haar, tuschte meine Wimpern und machte mich auf den Weg zu Karimah. Sie musste mir das Geld für ein Flugticket leihen.

Es war warm, ein paar Katzen sonnten sich auf der Straße vor dem Haus, es wurde Frühling, und ich war beschwingt. Los, los, dachte ich. Gut, dass ich nicht wusste, wie lang der Weg werden würde. Karimah überlegte nicht lange und gab mir das Geld. Über Jahre hinweg angespart, jetzt war es auf einmal weg. Sie freute sich mit mir. Sie kannte sogar ein tunesisches Reisebüro, wohin sie mich begleitete. Ich muss schrecklich ausgesehen haben. Hatte kaum etwas gegessen in den vergangenen Tagen, war abgemagert, blass, mit dunklen Ringen unter den Augen. Es kam mir vor, als hätte ich seit Jahren nicht mehr gelacht.

Doch jetzt bebte ich vor Erwartung. »Sei froh, dass die drei in Tunesien sind und nicht in irgendeinem anderen Land«, sagte Karimah. »Schlimm genug. Aber ich werde um das Sorgerecht kämpfen. Ich habe keine Arbeit, kein Geld, kein Konto, keine Versicherung, nicht einmal eine Wohnung. Ich weiß nicht, wie ich für die Kinder sorgen soll. Aber ich muss es versuchen.« – »Nicht einfach, bei der Scheidung wird das Sorgerecht automatisch deinem Mann zugesprochen.« – »Er hat sie doch sowieso schon.« – »Aber sie leben nicht bei ihm, sondern bei seinem Bruder.« – »Das ist es eben, was ich nicht verstehe. Wenn er die Kinder will, warum stellt er sie dann bei seinem Bruder ab?« – »Die Kinder sind Besitz der Familie.« – »Ich liebe sie. Das ist das Einzige, was ich weiß.«

Es war ein angespannter Empfang in Tunesien. Mein Vater holte mich am Flughafen ab. Er war inzwischen in Rente, abgesehen von wenigen Ausnahmen ging er aber trotzdem jeden Tag zu seiner Arbeit. Grau war er geworden. Ob er sich Vorwürfe machte, dass er sich so in seinem Schwiegersohn getäuscht hatte? Er würde es mir nicht sagen – und ich würde ihn nicht fragen.

Ich hätte nicht gedacht, meine Heimat so schnell wiederzusehen. Es war warm, an den Straßenrändern blühte es gelb, auf kleinen Verkehrsinseln grasten Schafe, und in der Luft hing der Duft von Orangenblüten. »Kann ich das Auto fahren?«, fragte ich den Vater. Der sah mich ungläubig an, das gehörte sich nicht für eine Tochter, aber er wusste, dass es mir guttat, und ließ mich. Wenigstens hier in Tunesien wollte ich das Steuer in der Hand halten. Vater nickte melancholisch. Es muss ihn schwer in seiner Ehre gekränkt haben, dass der Schwiegersohn, auf den er so große Stücke gehalten hatte, mich und die ganze Familie so kalt abserviert hatte.

Er fing an zu erzählen: Wie es war, als Abdullah so unerwartet vor der Tür gestanden und nach Amal gefragt hatte. Der Vater war aus allen Wolken gefallen. Gerade noch hatte er gedacht, Abdullah und ich hätten uns versöhnt. Er rechnete damit, dass er Amal bald nachschicken konnte. Und dann präsentierte ihm mein Mann triumphierend das Papier mit der gerichtlichen Verfügung des einstweiligen Sorgerechts für die Kinder. »Es hat keinen Wert mehr, Abdelhamid. Deine Tochter macht mir das Leben zur Hölle. So kann ich nicht mit ihr leben und die Kinder auch nicht«, hatte er gesagt, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Die gab es ja auch nicht. Der Vater war schockiert. Hatte er nicht alles getan, um zu helfen? Sogar Mutters Schmuck versetzt, nur damit ich wieder bei meiner Familie sein konnte. Und nun stand der Schwiegersohn vor der Tür und sagte »Alles vorbei«, und dass seine Enkelkinder bei einem Bruder in Tunesien aufwachsen sollen. Ohne Mutter! »Deine Tochter vernachlässigt ihre Kinder. Sie geht arbeiten und lässt die Kinder allein zu Hause. Das ist nicht gut. Bei meinem Bruder werden sie es besser haben.« – »Das kann ich mir nicht vorstellen«, habe er entgegnet. Aber Abdullah wollte sich auf keine Diskussion einlassen, stattdessen pochte er auf den gerichtlichen Beschluss. Den musste der Vater akzeptieren, als Beamter sowieso. »Soll Esma sehen, wie sie alleine zurechtkommt in Deutschland«, setzte Abdullah noch eins drauf. »Jetzt kann sie in Ruhe arbeiten gehen.« Wie scheinheilig, er wusste ganz genau, dass ich meinen Kindern sofort nach Tunesien hinterherreisen würde.

»Komm mit!«, habe Abdullah dann Amal befohlen. Ohne Vorwarnung und Abschied, nur ihre Schulsachen durfte sie mitnehmen. Kurz und schmerzvoll. Das Mädchen hat überhaupt nicht verstanden, was mit ihm geschah. Als mein Mann sie ins Auto gepackt hatte, habe sie mit großen, entsetzten Augen aus dem Rückfenster geblickt. Die ganze staubige Straße hinunter, nicht gewunken, erzählte der Vater mit Tränen in den Augen.

Wegen der Scheidung hatte der Vater einen Anwalt eingeschaltet. Den suchte ich gleich am nächsten Tag auf und bat ihn, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit das Sorgerecht mir als Mutter übertragen würde. Es war ein älterer, dicklicher Mann, ein Parteikollege meines Vaters. Kopfschüttelnd murmelte er: »Wird ein langer Kampf werden, das Sorgerecht für dich zu bekommen. Schwierig, schwierig, aber nicht unmöglich. Zunächst einmal kämpfen wir für das Besuchsrecht, das hast du nämlich bisher auch nicht.« – »Wir schaffen das, oder?«, schwankte ich zwischen Hoffnung und Niedergeschlagenheit. »Wie willst du dich um deine Kinder kümmern?« – »Ich weiß noch nicht, wir werden sehen, wenn es so weit ist.« – »Hast du Wohnung und Geld?« – »Ein Haus, das wir gebaut hatten. Aber es läuft auf Abdullahs Namen.« – »In Deutschland kannst du deinen Mann auf Unterhalt verklagen, von hier aus ist das schwierig.« – »Er hat die Kinder bei seinem Bruder untergebracht. Ich weiß nicht wie, aber ich werde allen zeigen, dass ich eine gute Mutter bin.« – »Das glaube ich dir, aber das wird dauern.«

Zu Hause war es unerträglich. Wie in einem Gefängnis. Der Vater hatte angefangen, die Gartenmauer aufzustocken, als ob es etwas in der Familie zu verbergen gäbe. Teile des Gartens legte er mit Betonplatten aus. Die seien leichter zu pflegen, sagte er. Die Mutter saß im Haus und machte mir Vorwürfe: »Hab ich dir nicht gleich gesagt, dass du mit Amal hierbleiben sollst? Hättest du doch Mann und Söhne in Hamburg gelassen und wärst hier zufrieden gewesen, der Vater hätte euch schon versorgt. Das hast du nun davon, nun ist deine Tochter auch noch weg. Was willst du jetzt machen?« – »Ich will nichts anderes, als alle meine Kinder wiederhaben!« – »Und dann?«


Ich musste wissen, wie es den dreien ging. So schnell wie möglich, mit oder ohne Besuchserlaubnis. Selbst wenn sie die Hunde auf mich hetzten. Das war mir egal. Ich wollte nachsehen, ob sie wirklich auf dem Bauernhof des Schwagers waren. Und ich wollte ihnen zeigen, dass sie nicht meinetwegen dort waren, sondern weil es der Vater so haben wollte.

Es war Sonntag, ein paar Tage nachdem ich angekommen war. Alles war ruhig, das Land frisch und farbig. Ich hatte mir Jeans und einen weißen Poncho übergezogen und machte mich schon sehr früh morgens auf zur zentralen Bushaltestelle. Vier Stunden Busfahrt. Kalter Wind blies mir ins Gesicht, wie sonst nur im Januar. Im Spiegel eines Café-Fensters sah ich, wie Nase und Wangen rot angelaufen waren. Wie würde ich meine Kinder dieses Mal vorfinden? Wenn sie überhaupt da waren. Bitte, Allah, lass sie da sein. Ohne sie kann ich nicht leben. Was würde ich nicht alles tun, um sie zurückzuholen und ihnen zu zeigen, dass ich sie liebe. Ich weiß nicht, was Abdullah ihnen über mich erzählt hat, aber sie sollen wissen, dass ich für sie da bin.

Im Bus setzte ich mich extra auf einen der vorderen Sitze und ließ mich durch die Scheiben von der Sonne wärmen. Ich döste, träumte, wie ich als Kind die Pfirsiche aus Nachbars Garten geholt hatte, obwohl wir doch selbst welche hatten. Nie hatte mich einer dabei erwischt. Den Ort am Rande der Wüste erkannte ich sofort wieder. Ein Hafenstädtchen. Nur einmal war ich dort ausgestiegen, sonst immer mit dem Auto durchgefahren. Der Leuchtturm am Meer, der Gewürzmarkt, der Fischmarkt, das Dröhnen der Schiffshörner und die Möwen, die wie in Hamburg über dem hübschen kleinen Touristenhafen kreisten. Aber ich war viel zu aufgeregt, um das alles wahrzunehmen. Verschwitzt war ich aus meinen Tagträumen aufgewacht.

Am Bahnhof stieg ich aus. Der Hof des Schwagers lag eine halbe Autostunde entfernt im Hinterland. Ich musste ein Taxi nehmen, eines von jenen gelben Autos, die nicht viel kosten. Wer in Tunesien ein Taxi besitzt, ist ein gemachter Mann. Jeder, der kein eigenes Auto hat, fährt Taxi. Ich nannte dem Fahrer die Adresse, mehr sprachen wir nicht miteinander. Einen halben Kilometer vor dem Haus bat ich ihn, anzuhalten. Ich wollte das letzte Stück des Wegs zu Fuß gehen. Entlang der weiß gekalkten Mauer, die das Anwesen umschloss. Ich kann gar nicht beschreiben, wie aufgeregt ich war. Ich versuchte mir meine Kinder vorzustellen. Jasin mit seiner Brille und den krausen Haaren, die sein Gesicht wie eine dicke Pudelmütze einrahmten, Amin in seinem Matrosenanzug, der ihm so gut stand. Und Amal, die Ernste mit ihrem traurigtrotzigen Blick? Sie wussten nicht, dass ich kommen würde.

Ein Eselsfuhrwerk, das taufeucht geschnittene Kakteenblätter nach Hause kutschierte, begegnete mir. Ich grüßte nicht, obwohl das üblich ist auf dem Land. Je näher ich dem großen Tor kam, desto nervöser wurde ich. Gibt es eigentlich eine Steigerung für nervös? Mein Gesicht brannte, dauernd wischte ich mir meine feuchten Hände an der Hose ab. Ich spürte, wie meine Knie weich wurden. Wenn jetzt gleich die Hunde anfangen zu bellen, mache ich auf der Stelle kehrt, dachte ich. Ich drehte mich um, keiner sollte mich sehen.

Die Versuchung umzukehren war groß, doch dann lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Mauer und rutschte hinunter bis zur Hocke. Der raue Verputz schob meine Jacke nach oben und kratzte meine nackte Haut wund. Das tat weh. Vor meinem inneren Auge tauchte das letzte Bild von Amal auf. Wie sie geschrien und geweint hatte, als ich vor drei Monaten nach Deutschland aufgebrochen war. Bis zur Wegbiegung hatte ich sie gehört, noch heute habe ich ihr Weinen im Ohr. Mein Rücken brannte. Verdiente Schmerzen, dachte ich. Dafür, dass ich meine Tochter alleine in Tunesien gelassen und dafür, dass ich mir meine Jungen vor meiner Nase weg hatte entführen lassen. Wie blöd war ich nur gewesen? Alles wollte ich jetzt wiedergutmachen. Meine Augen wurden feucht. Ich richtete mich auf, atmete tief aus und schlang mit beiden Händen mein Kopftuch zu einem Turban.

Da sah ich meine Schwägerin aus dem Tor kommen. Links und rechts an der Hand ihre beiden Kinder, dahinter tauchten nacheinander Amin, Amal und Jasin auf. In dieser Reihenfolge, meine Tochter mit einem zu großen Kleid, das ich nicht kannte, die Haare wirr im Gesicht. Amin trug einen dunklen Burnus, wie ihn die Männer im Süden tragen, und hatte einen Stock in der Hand, Jasin war barfuß, seine spindeldürren Beine ragten aus knielangen Hosen, er machte ein paar Hüpfer und hielt seine kleine Schwester an der Hand.

Darauf war ich nicht gefasst, ich war so aufgeregt, dass mir schwindlig wurde. Da waren meine Kinder, alle drei. Sie sahen mich nicht und kamen doch direkt auf mich zu. Ich stand wie angewurzelt, meine Kehle zugeschnürt. Die Worte, die ich mir noch fünf Minuten vorher zurechtgelegt hatte, hatten sich verflüchtigt wie Motten, wenn das Licht ausgeht. Ich wollte etwas sagen, brachte aber nichts heraus.

Jetzt! Sie hatten mich gesehen, Jasin streckte seinen Arm nach mir aus – oder deutete er auf mich? Ungläubige Überraschung spiegelte sich in den Gesichtern der Kinder. Ich versuchte zaghaft zu lächeln, machte ein paar Schritte auf sie zu und richtete dann meinen Blick auf die Schwägerin. Raja, die Hübsche, die ihr dunkles, glattes Haar zum Zopf geflochten trug, den sie wie eine Krone um den Kopf geschlungen hatte. Wir hatten uns immer gut verstanden. Jedes Mal, wenn wir die Familie meines Mannes besucht hatten, war ich mit ihr und den Kindern zusammen zum Strand gegangen. Auch wenn wir Erwachsenen nicht gebadet haben, wir Frauen konnten sowieso nicht schwimmen, war es immer ein schöner Ausflug. Die Kinder hatten ihren Spaß und planschten. Raja und ich, wir waren ungefähr im gleichen Alter, saßen auf einer Decke und haben stundenlang geredet. Wie es uns in der Ehe mit den Brüdern geht, die Kinder, unsere Unselbständigkeit. Beide waren wir mit gewalttätigen Männern verheiratet worden, beide wurden wir geschlagen, sie in Tunesien auf dem großen Bauernhof, ich in der kleinen Hamburger Wohnung.

Ihr Mann arbeitete als Taxifahrer, war ständig unterwegs, wenn er doch zu Hause war, beschimpfte er Frau und Kinder, wie Abdullah es mit uns in Hamburg gemacht hatte. Auch über die unverheiratete Schwester der beiden Brüder sprachen wir. Sie lebte mit ihnen im Haus, führte das Regiment und hatte mehr zu sagen als Raja. Später erfuhr ich, dass meine Kinder von ihr bespuckt und geschlagen worden waren.

Raja war Sozialarbeiterin, berufstätig, eine gebildete Frau eigentlich. Anderen Menschen konnte sie helfen, sich selbst nicht. Sie war zart und litt unter den Erniedrigungen ihres Mannes, trotzdem blieb sie bei ihm. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht glücklich war über die Situation. Sie musste wissen, wie es mir ging. Da war ich mir sicher. Und bestimmt hatte sie mit ihrem Mann deswegen gestritten.

Mit großen Augen sah sie mich jetzt an. Nicht wirklich überrascht, eher verwundert darüber, dass ich mich traute zu kommen. Sie hatte einen langen Umhang um Kopf und Schultern geworfen, wie ihn Frauen tragen, wenn sie aus dem Haus gehen. Den fasste sie nun mit ihrer rechten Hand und zog ihn enger um sich. »Hallo, ich bin’s, Esma«, brachte ich hervor, als ich schon ganz nah vor der Gruppe stand. »Salam«, grüßte sie und streckte mir ihre Hände entgegen, als wolle sie mich in den Arm nehmen. Wollte sie mir das Wiedersehen erleichtern? Trotzdem, ich wich zurück und hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Mit einer tiefen Stimme, als sei ich eben erst aufgewacht, murmelte ich: »Bitte, ich möchte meine Kinder besuchen.« Die Kinder starrten mich mit offenem Mund an. Keines machte einen Mucks. Kein »Mama, Mama«, wie sonst. Nur gespanntes Schweigen. Amin sah mich an, als würde er ein seltenes Tier sehen, das ihm zufällig über den Weg gelaufen ist. Sie waren völlig verschüchtert.

Und ich traute mich noch immer nicht, die Kinder direkt anzusprechen. Wie angenagelt stand ich und wandte mich noch einmal an die Schwägerin: »Ich bin nur gekommen, um meine Kinder zu sehen. Kann ich ein wenig bleiben?« – »Ja klar, warum denn nicht«, antwortete Raja. Ihre Worte wirkten auf mich wie eine Erlösung. Endlich. Ich hätte weinen können. Ich stürzte mich auf die Kinder, beugte mich zu ihnen, nahm alle drei gleichzeitig in den Arm. Ein wenig unbeholfen, aber glücklich. »Wo wollt ihr hin?«, stammelte ich. »Störe ich euch?«

»Nein«, hörte ich Raja sagen, »ich verstehe dich. Natürlich kannst du eine Weile bleiben und deine Kinder besuchen.« Jetzt erst wagte ich es, sie richtig anzusehen. Wie verschreckt sie waren. Was hatte man ihnen bloß über mich erzählt? »Salam, meine Süße«, begrüßte ich Amal, die scheu einen Schritt zurück hinter ihren großen Bruder trat. Was ging wohl in ihrem Köpfchen vor? »Wie geht’s euch, meine Großen?«, fragte ich, schüttelte sie ein wenig an den Armen, an denen ich sie gepackt hatte. Ich ging in die Hocke und lachte so herzlich, wie ich nur konnte. Einfach weglachen wollte ich unseren Kummer. Doch die Kinder blieben misstrauisch. Vermutlich hatten mein Mann und seine Familie kein gutes Haar an mir gelassen. Ich musste vorsichtig sein und wich zurück.

»Komm mit, wir gehen zurück ins Haus«, meinte Raja. Sie war mutig, aber das erfuhr ich erst später. Während wir an der hohen Mauer entlanggingen, versuchte ich Amals Lockenkopf zu kraulen, wie ich es immer gemacht hatte. Sie ging mir aus dem Weg, doch plötzlich drehte sie sich um und fragte vorwurfsvoll: »Wo warst du? Warum bist du weggegangen und nicht wiedergekommen?« – »Ich wollte ja, aber ich konnte nicht.« – »Papa hat uns gesagt, du willst nicht mit nach Tunesien kommen«, mischte sich nun auch Jasin ein. Und auf einen Schlag hatte ich alle drei Kinder an meiner Hand, sie drängten sich um mich und bestürmten mich mit Fragen. Ich war so durcheinander, dass ich nur die Hälfte verstand, aber ich war glücklich. Nie hatte ich mich ihnen inniger verbunden gefühlt als jetzt.

Das große Eingangstor quietschte und hing schräg in den Angeln. Es war nicht leicht zu öffnen. Die Kinder drückten sich dagegen, dann überquerten wir in fünf Schritten das heruntergekommene Grundstück bis zum Haus. Kein Platz zum Spielen, dachte ich, nur Müll, alte verrostete Eisenarmierungen, Betonschrott, am Rand stachelige Kakteen, in denen sich Abfall verfangen hatte. Die Gräser, die zwischen den Betonplatten wucherten, waren windzerzaust.

Die Kinder zerrten mich ins Wohnzimmer, sie wollten erzählen. Dass der Vater ihnen Geld aus Deutschland schicken würde und ob ich das jetzt auch tun wolle. Warum ich nicht gleich mitgekommen sei? Dass die Lehrer in der Schule viel strenger seien und dass sie geschlagen werden. Mir kamen die Tränen. Ich drehte mich weg, ich wollte nicht, dass sie mich so sahen, und schaute auf die kahlen Wände, die braun verputzt waren. Kein Bild, kein Foto, keine Plastikblume im Zimmer, alles war grob und freudlos. Auf dem Boden lagen Matratzen ohne Überzug. Wie hielten es die Kinder nur aus hier?

Vom Flur her hörten wir die Schwester meines Mannes lamentieren. »Was hat Esma hier zu suchen? Hat Abdullah nicht gesagt, dass wir ihr das Haus verbieten sollen? Was will sie von den Kindern?« – »Sie möchte sie nur sehen«, antwortete meine Schwägerin. »Aber sie schadet ihnen. Sie ist keine Mutter, anstatt sich um die Kinder zu kümmern, treibt sie sich herum. Das gehört sich nicht für eine verheiratete Frau. Die Kinder brauchen eine strenge Hand wie bei uns.« Ich sah sie nicht und hatte deshalb auch keinen Grund, ihr Rede und Antwort zu stehen. Sie kam nicht herein, vielleicht musste sie zu den Tieren. Ich war froh darüber.

Mein Schwager war nicht im Haus, deshalb hatte uns Raja mitnehmen können. Als Taxifahrer hatte er alle Hände voll zu tun. Es war die Zeit im Frühjahr, in der die ersten Touristen von der tunesischen Küste aus in die Wüste gebracht werden wollen. Die Kinder und ich zogen unsere Schuhe aus, und wir ließen uns auf die Matratzen fallen, alle drei auf meinem Schoß. Wie dünn sie waren! »Bekommt ihr auch genug zu essen?«, fragte ich. Sie nickten, nur nicht so viel Süßigkeiten wie in Deutschland. Alle redeten durcheinander, bis ich endlich fragte: »Wie gefällt es euch hier in Tunesien? Bei der Tante und dem Onkel? Mit den Cousins?« – »Ganz gut«, antwortete Jasin und drehte sich weg.

Ich wusste, dass das nicht stimmte. Mein Schwager war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie mein Mann. Er prügelte, auch die Kinder. Nicht umsonst hatte Abdullah die Kinder gerade dorthin gebracht. Ich strich ihnen über die Köpfe. Scheu wie Katzen wichen sie aus, um sich im nächsten Moment noch mehr an mich zu drängen. »Und die neue Schule?«, fragte ich. »Wir lernen jetzt Französisch«, rief Amin, »ganz toll.« Da konnte auch Amal mitreden. Immerhin lernte sie schon länger als ihre Brüder. Stolz erzählte sie, dass sie schon viel besser Französisch spreche als Jasin und Amin. »Und besser Arabisch schreiben kann ich auch.«

Meine armen Jungs, sie mussten alles neu lernen. Bisher waren sie ja nur in Deutschland zur Schule gegangen. »Farid, du weißt schon, dein türkischer Freund aus Hamburg, lässt dich grüßen. Ich soll dir sagen, dass er dich vermisst«, sagte ich zu Amin. Ich log, ich hatte Farid gar nicht gesehen, aber irgendwie wollte ich meine Kinder daran erinnern, dass ihr eigentliches Leben in Hamburg stattfand. Was ihre Schulfreunde dort wohl dachten? Bestimmt wurden die Jungen vermisst. Ob Abdullah sie an der Schule abgemeldet hatte? Erst jetzt dachte ich daran.

»O ja, mir fehlt Farid auch«, antwortete Amin. »Aber sag ihm bitte, dass ich im Moment nicht kommen kann, weil ich nicht mehr bei meinen Eltern lebe. Sie müssen beide für uns arbeiten und können sich nicht um uns kümmern.« Das hatte ihm Abdullah also erzählt. Wie vernünftig und verständnisvoll mein Großer schon war. Trotzdem drehte sich mir der Magen um, als ich diese Ausrede hörte. Ich nahm Amin in den Arm und knuffte ihn. Er war so zerbrechlich mit seinen zehn Jahren. Ich wusste genau, dass die Kinder hier auf dem Bauernhof mithelfen mussten und nicht viel zu essen bekamen.

Aber ich konnte im Moment nicht mehr tun, als ihnen zu zeigen, dass ich sie nicht vergessen hatte. »Bleibst du jetzt hier?«, wollte Amal wissen und schmiegte sich an meinen Hals. Ich schaute zu meiner Schwägerin, sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. Dann verschwand sie in die Küche, um Tee zu kochen. Ich wusste, was das hieß. Sobald ihr Mann nach Hause käme, würde er mich verscheuchen. Die Tränen schossen mir in die Augen, und plötzlich war es die kleine Hand von Amal, die mir das Kopftuch vom Kopf zog und in meinen Haaren wühlte, wie ich es sonst immer bei ihr getan hatte. »Nicht traurig sein, Mami«, sagte sie. »Ich verspreche dir, dass ich ganz fleißig in der Schule bin. Ich lerne schnell, und wenn ich fertig bin, komme ich zu dir.« Jetzt weinte ich erst recht. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Sie wollte mich trösten wie eine Mutter. Dabei war sie doch erst knapp sechs Jahre alt.

Raja brachte uns Couscous, das wir mit Fingern aßen. Wie früher, alle zusammen, ich kann mich nicht erinnern, dass hier je etwas anderes gekocht worden wäre. Es war gut, fast hätte ich vergessen, dass meine Zeit begrenzt war. »Abdullah hat verboten, dass du die Kinder besuchst und mit ihnen sprichst«, sagte Raja. – »Aber er hat sie mir weggenommen. Ich muss sie doch wenigstens sehen können« – »Ich weiß, dass du leidest und was du durchmachst. Aber ich kann nichts dagegen tun.« – »Warum soll ich keinen Kontakt zu meinen Kindern haben? Ich bin doch die Mutter.« – »Das bedeutet gar nichts, die Familie des Vaters zählt. Am besten wäre es, du ließest sie ganz in Ruhe.« – »Könntest du das?« – »Nein, natürlich nicht.«

Ich ging mit den Kindern vor die Mauer auf die Straße. Das durften sie sonst nie. Wir spielten Reifen drehen. Aus einem Haufen Müll hatten die Jungen einen Eisenreifen hervorgezogen, ein krummes, verbeultes Ding, aber das trieben wir nun mit Stöcken den steinigen Weg rauf und runter. Einer nach dem anderen. Derjenige, bei dem der Reifen nicht umfiel, hatte gewonnen. Ein Spiel, das sonst nur Jungs spielen. Ich war selig, dass meine Kinder es mit mir spielten und auch noch ihren Spaß dabei hatten. Sogar Amal, die immer so ernst war, lachte laut schallend, so vergnügt hatte ich sie selten gesehen.

Wieder zurück auf dem Hof, kam gegen Abend Abdullahs Bruder von der Arbeit nach Hause. Ein schmächtiger Mann, dem das Taxifahren den Rücken gebeugt hatte. Er schimpfte, als er uns im Wohnzimmer sitzen sah. Aber das hatte ich erwartet, ich tat gleichgültig, als wäre ich nicht gemeint. Wütend blickte er mich aus seinen grünen Augen, wie auch mein Mann sie hatte, an: »Was tust du hier? Scher dich heim zu deiner Familie.« Gleichzeitig fuhr er seine Frau an: »Wie konntest du sie nur hereinlassen? Sie hat kein Besuchsrecht. Wer hat dir das erlaubt? Mein Gott, du weißt doch genau, dass Abdullah das nicht will. Das ist gegen die Abmachung.« Er packte Raja am Arm und bugsierte sie wie eine Puppe aus dem Raum. Ich solle mich sofort aus dem Staub machen, schrie er mich an. Wie ich es nur habe wagen können, ins Haus zu kommen?

Ich stand auf, eine unbekannte Wut überkam mich. Ich hatte nichts mehr zu verlieren! Sollte er doch toben, wie er wollte. Ich schaute auf meine Kinder, die uns ängstlich beobachteten, und verschränkte provozierend die Arme vor der Brust. Der Tag mit ihnen war zu schön gewesen, weil ich ihnen endlich zeigen konnte, wie sehr ich sie liebte. Und sie mich! Ich würde mich nicht vor ihren Augen von meinem Schwager hinauswerfen lassen. Angst hatte ich keine vor ihm, nicht mehr.

Aber es tat mir leid, dass die Kinder den Streit mit anhören mussten, deshalb sagte ich so ruhig wie möglich: »Du kannst mich jetzt nicht raus in die Nacht schicken. Es ist zu spät, ich bekomme kein Taxi mehr, und es fährt auch kein Bus, der mich heute Abend noch nach Hause bringen könnte.« Dann setzte ich mich wieder und zog Amal zu mir. Sofort legte sie ihren Kopf auf meine Knie. Sie war warm, und ich fühlte mich sicher. »Ich bleibe bis morgen«, sagte ich, »egal ob es dir passt oder nicht.« Da merkte der Schwager, dass er diese Runde verloren hatte.

Er stieß noch ein paar böse Verwünschungen aus, schlug mit der flachen Hand an die Wand und schrie: »Aber deine Söhne schlafen nicht bei dir. Bilde dir ja nicht ein, dass du sie anfassen darfst. Abdullah hat’s verboten, komm ihnen bloß nicht zu nahe. Es sind unsere Kinder und nicht mehr deine.« – »Ich werde ihnen nichts tun«, entgegnete ich kühl. »Ich bin die Mutter, und keiner kann mir das Recht nehmen, sie zu sehen.« – »Doch, du hast keinen Zutritt zu ihnen, das ist gerichtlich. Sie sollen nicht hin- und hergezerrt werden. Wer weiß, was du ihnen für Flausen in den Kopf setzen würdest. Du bist nicht in der Lage, dich um sie zu kümmern. Abdullah hat das Sorgerecht, fertig.« – »Das wird sich bald ändern«, wollte ich mich wehren, aber das hörte er nicht mehr, polternd schickte er die Jungs in ein anderes Zimmer zum Schlafen.

»Untersteh dich, ihnen zu nahe zu kommen«, rief er über die Schulter. Als ob er fürchtete, ich könnte sie verhexen. Ach, es war mir egal, was er dachte. Den Tag konnte er uns nicht mehr nehmen. Schade, dass ich mich nicht zu meinen Jungen legen durfte, aber nun kuschelte ich mich eben mit Amal auf den Matratzen im Wohnzimmer zusammen. Raja brachte uns eine Decke, die wir über uns zogen. Als ich Amals warmen Atem an meinem Hals spürte, überkam mich eine große Traurigkeit.

Natürlich konnte ich nicht schlafen, ich glaube nicht, dass ich ein Auge zugemacht habe. Die ganze Nacht hörte ich meinen Schwager im Haus herumgeistern. Er stand auf, legte sich wieder hin. Sein Zimmer lag zwischen dem Kinder- und dem Wohnzimmer. Wahrscheinlich hielt er Wache, damit ich meine Söhne nicht wecke und heimlich mitnehme. Die Kinder entführe wie sein Bruder. Unerträglich, dieses gegenseitige Belauern. Ich hätte sie gerne mitgenommen, aber was dann? Abdullah würde kommen und sie zurückholen.

Die Kinder taten mir leid, sie waren noch so klein und konnten unseren Kampf nicht verstehen. Ich wälzte mich von der einen zur anderen Seite und zermarterte meinen Kopf: Wie würde der Morgen werden, an dem wir uns verabschieden mussten? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ein Albtraum, gerade erst gefunden, musste ich sie schon wieder verlassen. Einfach das Feld räumen. Wer weiß, wann ich sie wiedersehen würde. War es nicht besser für die Kinder, bei der Mutter zu leben als beim Onkel? Das musste doch jedes Gericht einsehen! Doch vorerst musste ich mich beherrschen und so gefasst wie möglich gehen. Erst gegen Morgen fiel ich in einen leichten Schlaf.

Montag. Die Kinder waren früh auf den Beinen, weil sie zur Schule mussten. Amin und Jasin wollten gleich zu mir laufen, wissend, dass es unsere letzten gemeinsamen Minuten waren, aber der Onkel stellte sich ihnen in den Weg. Ich durfte sie nicht mehr in den Arm nehmen. Also stand ich im Flur und beobachtete von dort aus, wie sich meine und Rajas Kinder anzogen. Es war wie früher bei meinen Geschwistern und mir. Jeder holte sich irgendein Kleidungsstück aus dem Schrank. Es gab nicht deine und meine Kleider, sondern Kleider für alle. Die Jungen schnappten sich Hose und Hemd, die Mädchen Kleid und Weste und streiften sich über, was ihnen in die Hand fiel. Was dem einen nicht passte, bekam der andere oder umgekehrt.

Ich stand immer noch im Flur und versuchte mit ihnen zu reden, um ihnen den Abschied leichter zu machen. »Wie toll ihr ausseht in euren Schuluniformen. Ganz schön.« – »Kommst du uns wieder besuchen?« – »Wenn ich darf, sofort. Jede Minute denke ich an euch, auch wenn wir uns nicht sehen.« – »Wirklich?« – »Ja, wir werden uns bald wiedersehen.« – »Wann?« Darauf wusste ich keine Antwort. Ein wenig verstört und mit gesenkten Köpfen gingen Amin und Jasin an mir vorbei. Amal drückte sich für eine Sekunde an mich, dann rannte sie hinter ihren Brüdern her nach draußen. Nur Jasin hat sich kurz umgedreht, um zu winken. Seine winkende Hand in der Luft, seine gespreizten Finger, war das Letzte, was ich von den dreien sah. Schmerz durchzuckte mich. Ich wollte schreien, doch damit hätte ich es den Kindern nur noch schwerer gemacht. Also schwieg ich.

Wie lange wird es dauern, bis ich sie wiedersehe? Wenn mir in diesem Moment einer gesagt hätte, dass es zwei Jahre würden, hätte mich keiner von diesem Hof weggebracht. »Lass dich nicht mehr bei uns blicken, hörst du? Du hast keine Chance«, warnte mich der Schwager. Konnte er mich um Himmels willen nicht in Ruhe lassen? Ich ging an ihm vorbei ins Kinderzimmer. Dort nahm ich die Decken, in die sich meine Söhne zum Schlafen eingewickelt hatten, hob sie hoch, sog ihren warmen Geruch ein und legte sie zusammen. Eine nach der anderen. Ganz langsam.

Dann griff ich mir mein Kopftuch, knotete es um meinen Kopf, bedankte mich für die Gastfreundschaft und lief nach draußen. Lief die Straße an der Mauer entlang, es war kühl, die Morgenluft schwer zu atmen. Hastig und flach zog ich sie ein. Hinter mir hörte ich die Hunde bellen. Der Besuch hat sich gelohnt, dachte ich. Egal wo die Kinder sind, ich will um sie kämpfen. Das war alles, was ich ihnen sagen wollte. Ich glaube, das haben sie verstanden, ich hoffte es inständig.

Nach dem Besuch vergrub ich mich zu Hause. Mir fiel die Decke auf den Kopf, ich war deprimiert und verzweifelt. Am liebsten wäre ich gleich wieder aufgebrochen, doch der Vater warnte mich. »Pass auf, sonst kommt Abdullah auf die Idee und versteckt die Kinder irgendwo in Algerien.« Er hatte recht. Sicherlich gab es dort weitläufige Verwandtschaften, zu denen er sie schicken konnte und die auch bereit waren, gegen gutes Geld ihre Versorgung zu übernehmen. Tagelang heulte ich, ich wollte nichts mehr essen und mit keinem sprechen.

Der Antrag beim Familiengericht auf das Sorgerecht lief. Zu Anfang dachte ich noch, ich könnte das ganze Verfahren beschleunigen, indem ich jeden Tag beim Anwalt aufkreuzte, aber auch er konnte nichts tun. Noch bevor irgendein Richter den Antrag gelesen hatte, machte das Gericht Sommerpause. Das bedeutete warten, lange warten.

Wenn ich nur etwas tun könnte! Alle erdenklichen Möglichkeiten überlegte ich. Der ältere Bruder meines Mannes, Mahmoud, der Mann auf dem Sozialamt, er musste mir helfen. Er hat uns damals schließlich zusammengebracht und trug so etwas wie Mitverantwortung. Er hatte meinem Vater versprochen, dass Abdullah mir ein guter Ehemann sein würde. Darunter stellte ich mir etwas anderes vor. Ich wollte, dass Mahmoud seinen Bruder überredete, mir die Kinder zu lassen. Ich nahm ein Taxi. Es war ein regnerischer, aber warmer Tag. Seit meinen seltsamen Flitterwochen war ich nicht mehr bei Mahmouds Familie gewesen. Die Terrasse, über die ich zur Haustür ging, stand unter Wasser. Ich hatte nur Badelatschen an, meine Füße waren nass. Aber die Erde dampfte, als würde sie neu erschaffen.

»Was willst du?«, fragte mich die Schwägerin. »Mit Mahmoud sprechen.« Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihr Gesicht war aufgedunsen, sie schien mir noch frustrierter als damals. Aber sie war freundlich und bat mich in die Küche, das dunkle Loch. Ich setzte mich auf einen dieser stapelbaren, weißen Campingstühle, während sie ihren kleinen Sohn schickte, den Vater zu holen. Der Mann hatte seinen Job verloren und hing nun fast den ganzen Tag im Café herum. Schon nach ein paar Minuten kam das Kind mit Mahmoud im Schlepptau zurück.

»Was willst du noch hier, du …?«, fragte er schroff, während seine Frau Wasser für Tee aufsetzte. Offensichtlich hatte Abdullah seine ganze Familie gegen mich aufgehetzt. »Erinnerst du dich«, schnitt ich ihm das Wort ab, »dass du mich mit deinem Bruder zusammengebracht hast? Du bist verantwortlich für uns. Du hast meinem Vater versprochen, dass du deine Hand für Abdullah ins Feuer legen würdest und dass er ein guter Mann für seine Tochter sei, weißt du das noch? Aber dein Bruder hat meine Kinder entführt. Nennst du das einen guten Vater und einen guten Ehemann?« – »Abdullah sagt, es sei die beste Lösung.« – »Dass die Kinder getrennt von Mutter und Vater aufwachsen? Findest du das in Ordnung?« – »Wenn du nicht in der Lage bist, dich um sie zu kümmern: Ja.« – »Wer sagt das?« – »Abdullah.« – »Dass ich nicht lache. Wer reißt die Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung und stellt sie bei seinem Bruder ab? Wer kümmert sich hier nicht um sie? Er oder ich?« – »Er muss arbeiten, um sie zu ernähren.« – »Nein, er lebt, wie er will, und kann nach Herzenslust mit seiner Freundin rummachen. Warum kann ich nicht leben, wie ich will?« – »Das wäre nicht gut für die Kinder.« – »Doch, wenn sie schon keinen Vater haben, der sich um sie kümmert, dann brauchen sie wenigstens eine Mutter. Sie sind hier total fremd, sie gehören zu mir nach Hamburg!«

Mahmoud hatte zugehört, aber er wollte sich auf kein Gespräch einlassen. Für ihn hatte mich Abdullah verstoßen, und fertig. Dass ich jetzt zu ihm kam und um die Kinder bettelte, erniedrigte mich in seinen Augen. Das gehört sich nicht. Eine verlassene Frau schweigt und fügt sich. Und sollte froh sein, wenn sie überhaupt irgendwo unterkommt. Ich war aufgesprungen, nervös lief ich durch die Küche. Mahmouds Haltung machte mich wütend, so wütend, dass ich kaum noch wusste, was ich sagte. »Nimmt sich eine Geliebte, dieses Schwein, prügelt mich grün und blau und lässt mich sitzen, dieses Schwein, unverantwortlich!« Mahmoud, der Kuppler, ist doch schuld an meinem jahrelangen Leiden. Wie scheinheilig er damals im Büro verkündet hat, dass er einen passenden Job für mich habe. Als Frau seines Bruders. Dass ich nicht lache. Ein Job, der mich nicht nur zur Sklavin, sondern zum Haustier degradierte.

Alles kam jetzt hoch. Alles, wofür ich mich schämte und worüber ich nie gesprochen hatte, entlud sich auf einmal. Wenn ich nur daran dachte, wie naiv ich damals in die Ehe gerutscht war. Ich schrie, in meinem Zorn stieß ich sogar das Teeglas um, das mir meine Schwägerin eingeschenkt hatte, und die Flüssigkeit ergoss sich auf den Steinfußboden. Die Tochter kam mit einem Tuch, um es aufzuwischen.

»Abdullah hat die Entführung der Kinder eiskalt geplant und mich sitzengelassen. Schwanger! Hörst du? Er hat mich schwanger sitzenlassen. Ich bin schwanger!« Mit keinem hatte ich bisher darüber gesprochen. Jetzt schleuderte ich Mahmoud die Sätze ins Gesicht. Meine ganze Aggression, die sich gegen Abdullah angestaut hatte, brach aus mir heraus: »Ein Kind der Gewalt!« – »Schwägerin«, sagte Mahmoud süffisant und wischte sich seine Hände an der Hose ab. »Soll ich dir das wirklich glauben? Oder willst du mich nur erpressen?« – »Frag doch deinen Bruder?«, zischte ich und merkte, wie plötzlich alle Luft aus mir heraus war.

Aber da brachte mir meine Schwägerin schon meinen Mantel, den ich an der Garderobe aufgehängt hatte. Gehorsam wie ein Kind schlüpfte ich hinein. Er war zu groß, warf Falten auf den Schultern. Ich drückte mich an meinem Schwager vorbei, trat vor den Spiegel im Flur, ohne mich wirklich darauf zu konzentrieren, dann lief ich durch die Terrassentür hinaus auf die Straße. Jetzt erst spürte ich, wie kalt meine Füße waren. Es roch nach Thymian und Myrte, und das Wasser tropfte aus den Akazienbüschen, als würden sie weinen.

Welche Demütigung! Warum habe ich mich bloß hinreißen lassen, von meiner Schwangerschaft zu erzählen? Was war in mich gefahren, mich dermaßen bloßzustellen? Ich schämte mich und kickte das Wasser in den Regenpfützen vor mir her, als könnte es etwas dafür. Mein Vater, sollte er je von meinem Besuch bei Mahmoud erfahren, würde toben. Die lässt sich nicht nur ihre Kinder entführen, sondern auch noch schwängern, und läuft dann kopflos zur Familie des Ehemanns und bettelt um Hilfe. Wie sollte ich ihm das erklären? Ich konnte doch nicht erzählen, dass ich mich meinen Kindern zuliebe noch einmal auf eine Beziehung mit Abdullah eingelassen hatte. Dass ich mich selbst unter Druck gesetzt habe, weil ich wollte, dass er Amal zu uns holt. Wie konnte ich ahnen, dass er mein Vertrauen so schamlos ausnützen würde?

Ich lief den ganzen Weg von einem Ende der Stadt zum anderen zu Fuß nach Hause. Der Regen hatte wieder eingesetzt, das Wasser troff mir aus den Haaren und übers Gesicht. Es machte mir nichts aus, meine Beine waren nass bis hoch zu den Knien. Das ist das Ende, dachte ich. Keiner mehr da, den ich um Hilfe bitten kann. Kann ich unter solchen Umständen ein viertes Kind bekommen?

»Nein«, sagte meine Mutter hart, »kommt nicht in Frage.« Nach ein paar Tagen hatte ich mich durchgerungen, mich ihr anzuvertrauen. Wir waren allein. Sie saß in der Küche, hatte ihre Hände im Schoß gefaltet, ich zog mir einen Stuhl heran, setzte mich neben sie und sprudelte einfach drauflos. Ich hab sie gar nicht angesehen, weil ich mich genierte, aber ich erzählte alles: von der Hochzeitsnacht bis zu Abdullahs Schlägen, von meiner Einsamkeit in Hamburg, von meiner Abhängigkeit, meinen Depressionen, von meiner Sorge um die Kinder und von meiner neuen Schwangerschaft. So in Fahrt war ich, dass ich gar nicht bemerkte, wie meine Mutter anfing zu weinen. Erst als sie mit ihren Fingern nach meinem Gesicht tastete, unsicher wie eine Blinde, hörte ich auf. Ihre Hände waren weich wie Filz, sie rochen nach Oliven. Ich nahm sie in meine und legte demütig meinen Kopf hinein. Warum hatte ich das nicht früher gemacht?

»Ich werde dir helfen«, murmelte die Mutter. »Keiner soll davon wissen.« Sie wusste, was ich litt. »Kümmere dich um die Kinder, die du hast«, räusperte sie sich und zog geräuschvoll die Luft durch ihre tränennasse Nase. »Du musst für deine Kinder da sein. Musst alleine für sie sorgen.« – »Wie? Ich habe nichts gelernt, nicht einmal zu denken habe ich gelernt.« – »Du wirst es schon schaffen, bist ein kluges Mädchen. Aber nicht hier. Wirst hier nie selbständig und ohne Mann leben können. Du musst zurück nach Deutschland. So bald wie möglich, aber ohne Kind.«

Sie hatte recht. Ein Baby würde ich nicht versorgen können, nicht wenn ich unabhängig sein will und arbeiten. Wenn ich das Sorgerecht für meine drei haben will, muss ich auch für sie sorgen. In Tunesien würde ich keinen Job bekommen, mit einem Baby sowieso nicht. Ich musste zurück nach Deutschland und dort mein Glück versuchen.

Ich weiß nicht wie, aber meine Mutter hat die Abtreibung organisiert. Innerhalb von ein paar Tagen. Ein Arzt außerhalb der Stadt. Nachdem ich ihm meine Geschichte erzählt hatte, ging alles sehr schnell. Irgendwie hätte die Schwangerschaft auch ein Neuanfang sein können. Doch diese Hoffnung war nun endgültig gestorben. In den folgenden Wochen lag ich krank im Bett, hatte Schmerzen in der Hüfte, konnte kaum laufen. Unerträgliche Kopfschmerzen kamen dazu. Meine Mutter kochte Tee, sie brachte mir zu essen, deckte mich zu, setzte sich an mein Bett und sprach mit mir. Alles, was sie noch nie getan hatte. Fast schien es, als habe mein Leid sie ein Stück weit aus ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit und Depression herausgerissen. Wenn sie es schon nicht geschafft hatte, aus ihrem abhängigen Leben auszubrechen, so dachte sie wahrscheinlich, dann sollte es wenigstens ihre Tochter schaffen.

Es dauerte trotzdem eine ganze Weile. Immer wieder zog ich mich voller Angst in mein Schneckenhaus zurück. Warum sollte ich wieder zurück nach Deutschland? Auch wenn ich meine Kinder hier nicht sah, so war ich ihnen in Tunesien doch näher als in Hamburg. Ich könnte sie holen und mit ihnen in unser neu gebautes Haus einziehen. – Eine schöne Vorstellung, mehr nicht.

Beim Gericht war das Sorgerechtsverfahren auf Eis gelegt. Die zuständigen Mitarbeiter seien in Urlaub, hieß es. Inzwischen war es Sommer, heiß wie immer, am Spätnachmittag staute sich die Hitze im Haus. »Die Scheidung ist durch«, kam der Vater eines Tages mit einem Brief von seiner ehemaligen Arbeitsstelle, wo er jeden Tag nach dem Rechten sah. Ich stand mit Mutter in der Küche und wusch die Wäsche. Der Vater legte den Brief auf den Tisch: Geschieden! »Jetzt musst du zurück«, sagte er. »Ja, ich weiß.« – »Du darfst deine Aufenthaltsbewilligung nicht riskieren.« – »Und ich muss der Welt beweisen, dass ich meinen Kindern ein besseres Zuhause bieten kann, als sie das bei ihrem Onkel haben.« – »Wenn du Arbeit findest, kannst du sie nachholen, sobald du das Sorgerecht hast.«

Ich wusste nicht, wie der Vater sich das vorstellte. Noch viel weniger konnte ich mir vorstellen, wie das gehen sollte. Von Hamburg hatte ich all die Jahre nichts gesehen, nur die wechselnden Wohnungen und ein paar Geschäfte. Deutsch sprach ich kaum. Die Kultur kannte ich nicht. Wo sollte ich unterkommen? Wie Geld verdienen? Ich war frei, konnte das Wort Freiheit aber nicht einmal buchstabieren.

Loewenmutter
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