Wieder in Hamburg
Der Abend war lau – einer von den Vorfrühlingsabenden, wie ich sie in Deutschland so liebe –, als ich mit dem Flieger in Fuhlsbüttel landete. Nicht heiß oder kalt wie in Tunesien, sondern prickelnd. Keiner wusste, dass ich zurückkommen würde. Zwiegespalten zwischen Furcht und Freude ging ich durch die Flughafenhalle, die Hände schwitzig, heiß das Gesicht. Ich erinnerte mich genau, wie ich hier ein halbes Jahr vorher zum ersten Mal gestanden hatte, unsicher, an jeder Hand ein Kind. Jetzt war ich alleine und wusste nicht, ob mich meine Söhne überhaupt noch sehen wollten.
Im Flugzeug hatte ich schon Ausschau nach Landsleuten gehalten und tatsächlich jemanden aus Hamburg-Harburg erkannt. Er kannte mich nicht, ich sprach ihn nicht an, aber ich wollte ihm folgen. Das Gleiche tun wie er. Geld für ein Taxi hatte ich nicht. Also ging ich ihm hinterher, ich kam mir ein wenig albern dabei vor. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Wie er nahm ich den Bus und die U-Bahn. Ich glaube, er hat mich nicht bemerkt, wie immer war ich gut im Nachmachen.
Mein geliebter Spielplatz vor dem Haus: Ich erkannte ihn sofort. Grau und verlassen an diesem Abend, aber egal. Ich nahm meine Reisetasche, trug sie zu der Wurzel im Sandkasten und setzte mich. Sind die Kinder und mein Mann überhaupt da? Oder umgezogen? Ich komme wegen Amin und Jasin, sagte ich mir: Wegen – der – Kinder! Sie sind mein Ziel. Meine Angst vor Abdullah war Nebensache. Ich wollte die Kinder, nichts anderes.
Es dämmerte, ich saß lange. Um mich herum zeterten die Amseln, um ihren Nachwuchs zu schützen. Irgendwo lauerte eine Katze. Zwei Wochen lang füttern Amseleltern ihre Jungen auf dem Boden, bevor sie richtig flügge sind. Wie gefährlich in dieser Gegend. Ich verstehe nicht, dass sie trotzdem immer wieder hier ihre Nester bauen und ihren Nachwuchs aufziehen. Bis die Katzen kommen und sie wegfressen. Es hatte mir immer leid getan, wenn ich die Vögel so laut schimpfend von der Küche aus gehört hatte. Nun freute ich mich fast über die vertrauten Laute.
Die Schritte fielen mir schwer, die Stufe hoch zur Haustür, wie ein steiler Berg, das Öffnen der Tür, die Hauswände wie eine Trutzburg. Der Geruch von Schimmel, Feuchtigkeit und Beklemmung machte sich in mir breit. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich weiß nicht, welcher Eingebung ich folgte, aber plötzlich lenkte ich meine Schritte nicht nach rechts zu unserer Wohnung, sondern nach links zur Tür der Nachbarin. Klingelte. Bebte.
Die Frau, die aufmachte, eine Türkin, ich kannte sie nicht gut, nur flüchtig vom Grüßen im Flur. Sie erschrak. »Mann und Kinder hier?«, fragte ich. »Ja«, nickte sie, »aber andere Frau.« Ohne viel zu erklären, konnte ich ja auch nicht, drückte ich ihr meinen Ausweis in die Hand. »Bitte – aufbewahren!« Der sollte nicht noch einmal auf unerklärliche Weise abhanden kommen. Dann bat ich die Frau, mitzukommen. Nein, ich befahl es ihr: »Komm mit.« Sie tat es gern.
Es war nicht leicht, die Scheu zu überwinden, aber mit einem Mal konnte ich mir eingestehen, dass ich Unterstützung brauchte. Diese Einsicht hat mir auch später geholfen. Wenn ich nicht weiterwusste, habe ich mich nie lange in meinem Elend vergraben, sondern nach Hilfe gerufen.
Die Nachbarin zog ihre Schürze aus und stellte sich neben mich, als ich an unserer Tür klingelte. Neun Sekunden zählte ich – ich richtete mich groß auf, diesmal würde ich mich nicht abwimmeln lassen –, bis die Algerierin öffnete und zu Tode erschrak: »Bissmillah erahman erahim«, stieß sie hervor. »In drei Gottes Namen, bist du das?« – »Ja, ich.« Sie machte einen Schritt zurück, als habe sie ein Gespenst gesehen, und taumelte gegen die Wand. »Gut, dass du mir den Weg frei machst«, rief ich. Meinen ganzen Mut hatte ich zusammengenommen, stieß die Tür auf und stürmte an ihr vorbei in die Küche, ins Wohnzimmer, dann ins Schlafzimmer: die Jungs, endlich! Amin und Jasin, meine Jungen, lagen im Etagenbett. Sie schliefen schon. Aber sie waren da.
Ich sah von einem zum andern, mein Ältester mit seinem abgeschabten Stoffhund im Arm, der Jüngere hatte seinen Kopf vollkommen im Kissen vergraben. Jasin und Amin, die ich so sehr vermisst hatte. Sie schliefen in Straßenklamotten, aber sie waren da. Ich sah sie an, ein paar Minuten lang habe ich sie nur betrachtet, ich wollte ganz sicher sein. Aber warum trugen sie keine Schlafanzüge? Kümmerte sich keiner um sie? Ich strich ihnen mit der Hand übers Gesicht, über die Wangen. Wie lang die Haare gewachsen waren. Dann fuhr ich mit beiden Händen über die Bettdecke. Ich wollte meine Kinder spüren, ich beugte mich über sie, drückte sie vorsichtig an mich. Den Größeren und den Kleineren und wieder den Größeren und wieder den Kleineren. Ich nahm ihre Hände in meine Hände, und Tränen schossen mir in die Augen. Unter ihren Fingernägeln saß schwarz der Schmutz, niemand schien darauf zu achten, dass sie sich regelmäßig wuschen. Sie waren vernachlässigt, aber ich hatte sie wieder. Nur das zählte. Ich würde sie schon wieder aufpäppeln.
Was um mich herum passierte und wer da oder nicht da war, es war mir alles egal in diesem Moment. Mein Mann oder diejenige, die mir am Telefon meine Kinder nicht geben wollte, egal. Ich war nicht traurig, war nicht wütend, war nur froh, dass ich meine Kinder wiedersehen und festhalten konnte. Diese Minuten leben und spüren. Beide da, beide gesund.
Ich weiß nicht, wie lange ich so bei ihnen gestanden, gelegen und gekniet habe, plötzlich hörte ich Stimmen im Flur. Abdullahs Stimme, El Hemla musste ihm Bescheid gegeben haben, auch fremde Stimmen. Er war nicht allein. Sie unterhielten sich. Das Wort »illegal« hörte ich. Was sollte das? Mein Mann schien den Leuten zu erzählen, dass ich illegal eingereist sei. Dann riefen sie mich. Erst wollte ich nicht hören, doch schließlich drehte ich mich langsam um und ging Richtung Flur.
Als Erstes sah ich zwei Polizisten, mein Mann musste sie mitgebracht haben. Sie standen an der offenen Eingangstür. Komisch, Abdullah daneben erkannte ich kaum. Er trug eine Brille, wirkte seriös und hatte sich seinen Oberlippenbart abrasiert. Gut sah er aus, aber um die Kinder kümmerte er sich nicht. Viel Zeit zum Staunen hatte ich jedoch nicht.
»Können Sie uns bitte Ihre Papiere zeigen?«, forderte mich einer der beiden Beamten auf. Ich verstand ihn nicht sofort, aber mein Mann übersetzte. »Deine Papiere wollen sie sehen.« Wenn er über mein Kommen erstaunt war, so verbarg er seine Überraschung gut: Er strotzte vor Selbstsicherheit. Jetzt bloß nicht klein beigeben, dachte ich: Es kann dir nichts passieren. Ohne jemanden anzusehen, ging ich an dem Grüppchen vorbei und klopfte noch einmal bei der Nachbarin, die sich schon wieder zurückgezogen hatte. Sie kam auch gleich und brachte meinen Pass.
»Bitte schön, alles in Ordnung«, befanden die beiden Beamten, die nur oberflächlich in dem Dokument geblättert hatten. Dann fragten sie die Nachbarin, ob sie mich kenne. »Ja.« Und bezeugen könne, dass ich hier in der Wohnung lebte und dass die beiden Kinder meine seien. »Ja«, sagte sie noch ein paar Mal und nickte. Das war Abdullah gar nicht recht, und er mischte sich ein. Ich verstand nicht viel von dem, was er sagte, aber immerhin, dass sie mich mitnehmen sollten, weil ich eine Diebin sei, dass er mich nicht mehr haben wolle und dass seine Söhne mich auch nicht mehr sehen wollten. Hatte er zu Anfang noch souverän gewirkt, so verlor er nun zusehends die Kontrolle.
Zum Schluss schrie er mich an: »Was willst du hier? Sechs Monate lang hast du dich nicht um deine Kinder gekümmert, so egal sind sie dir. Und jetzt kommst du hier an und bringst alles durcheinander. Hier hast du nichts mehr zu suchen. Barra imschi – verschwinde, oder lass dich von der Polizei mitnehmen.« Doch davon wollten die Polizisten nichts wissen. »Sie hat ein Recht, hier zu sein«, meinten sie, ich sei doch schließlich die Mutter. Unsere privaten Streitereien gingen sie nichts an.
Inzwischen waren Amin und Jasin aufgewacht. Der Lärm hatte sie erschreckt. Verschlafen kamen sie durch die Küche gewankt, mit großen Augen. So viele Leute mitten in der Nacht: Die Mutter, die sie so lange nicht gesehen hatten, der Vater, der sie hinauswerfen wollte, die Polizisten, die versuchten den Vater zu beruhigen, die Nachbarin und die Ersatzmutter, alle im Hausflur. Was für ein Auflauf, war die ganze Welt verrückt geworden?
Amin drückte sein Kuscheltier fest vor seine Brust, Jasin schniefte und versteckte sich hinter seinem Bruder. Jetzt schrie Abdullah auch sie noch an: »Ihr habt hier nichts verloren, geht sofort wieder ins Bett und schlaft weiter.« Aber die beiden reagierten nicht, sondern starrten mich ungläubig mit ihren dunklen Augen an. Dicht neben mir standen sie, direkt vor der offenen Eingangstür. »Kommt, wir gehen zusammen ins Bett«, sagte ich so ruhig wie möglich, obwohl ich hätte heulen können, heulen vor Freude, dass ich sie wiederhatte. Sollten die anderen sich weiter streiten, mich ging das Ganze nichts an. Amin rieb sich die Augen, dann schob er seine Hand in meine. »Wo warst du so lange?«, fragte er, als wir ins Schlafzimmer zurückgingen. »Bei Opa«, antwortete ich. »Jetzt bleibe ich aber hier bei euch.« – »Wirklich?«, fragte Jasin. »Jetzt schlaft schön, wir sprechen morgen weiter«, versuchte ich sie zu beruhigen. Sie waren verunsichert, aber ich tat so, als bemerkte ich es nicht. Ich deckte sie zu, streichelte über die Bettdecken und war einfach nur froh, dass ich wieder da war. Während ich noch ein ums andere Mal flüsterte, wie sehr ich sie vermisst hatte, schliefen sie schon wieder ein. Als alles ruhig war, setzte ich mich auf den Boden und lehnte mich müde gegen das Bettgestell.
Mein Mann hatte sich mit seiner neuen Freundin ins Wohnzimmer zurückgezogen. Der Fernseher lief. Ich hörte ihre Stimmen durch die dünne Wand. Hörte, wie sie redeten und diskutierten. Kein Zweifel, dass sie etwas miteinander hatten. Als ob sie es mir beweisen wollten, waren die Geräusche später eindeutig. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen, zwischen den beiden lief schon lange etwas, und mein Mann hatte unsere Trennung und die Entführung der Kinder konsequent geplant. Das hätte ich ihm nie zugetraut. So ein Mistkerl. Wie hinterhältig und gemein. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, ins Wohnzimmer gestürzt und hätte ihm meine ganze Enttäuschung und Wut ins Gesicht geschrien. Aber das konnte ich nicht, ich wollte nicht riskieren, dass er mich mit Gewalt vor die Tür setzte. Irgendwann vernahm ich Schritte im Flur. Da muss die Frau wohl gegangen sein.
Alles in mir rumorte. Dennoch wartete ich und öffnete die Tür erst, als ich das Gefühl hatte, dass auch mein Mann eingeschlafen war. Ich schlich in die Küche und sah mich um. Weder schmutziges noch abgespültes Geschirr. Es hatte nicht den Anschein, als ob hier täglich gekocht worden sei. Ich öffnete den Kühlschrank, da war nichts außer Margarine und Marmelade. Auch die Lebensmittelschränke waren leer. Nur ein vertrocknetes Brot im Toaster. Ich fragte mich, ob die Kinder überhaupt etwas gegessen hatten, bevor sie zu Bett gegangen waren. Dieser Gedanke machte mich noch wütender.
Die Küche hatte sich verändert. In einer Ecke war eine kleine Dusche eingebaut. Dort hinein setzte ich mich nun und zog den Duschvorhang um mich, schlang die Arme um die Knie und starrte auf den Boden. Wie würde es weitergehen? In meiner Not fing ich an zu beten: Allah hilf. Soll Abdullah doch zu seiner Freundin ziehen und mich mit den Kindern alleine hierlassen. Allah hilf!
»Verschwinde«, fuhr mich Abdullah am nächsten Morgen an. »Mach dich aus dem Staub. Ich will dich nicht mehr sehen.« Ich ließ ihn reden und dachte: Wirst dich dran gewöhnen müssen, dass ich hier bin. Etwas Schlimmeres als mir meine Kinder wegzunehmen konnte er mir nicht antun. Und das hatte er schon getan. Sollte er nun wüten, wie er wollte, ich ließ mich nicht mehr einschüchtern. Das schien er zu merken, und weil ich nicht reagierte, sagte auch er nichts mehr.
In den folgenden Tagen kam und ging Abdullah, wie er wollte. Ich dagegen traute mich kaum aus dem Haus, weil ich nicht wusste, ob ich auch wieder hineinkäme. Die Jungen freuten sich, dass ich wieder da war. Jeden Tag kamen sie nach der Schule sofort angestürmt und ließen mich den gesamten Nachmittag und Abend nicht mehr aus den Augen. Sie hingen an mir, sie wollten mit mir waschen, einkaufen, die Wohnung sauber machen. Alles nur, damit ich ja dabliebe. Ich spielte mit ihnen und erzählte von Amal. Sie selbst sprachen nicht viel von den vergangenen Monaten. Ich fragte auch nicht. Sie hatten genug durchgemacht, warum sie unnötig daran erinnern?
Ich wollte bleiben, von Tag zu Tag wurde es mir klarer. Was immer mein Mann dazu sagte. Ich war entschlossen: Soll er mich schlagen und beschimpfen, wie er will. Ich werde unsere Tochter herholen und mit meinen Kindern hier leben. Mit Abdullah oder ohne ihn.
Aber dafür brauchte ich Amals Papiere. Ich wollte Abdullah nicht danach fragen, aber sobald er außer Haus war, durchwühlte ich die Schränke, seine Taschen, jede Schublade, sogar die in der Küche, aber ich fand nichts. Einen Aktenkoffer, der abgeschlossen war, versuchte ich mit einem Messer zu öffnen. Umsonst. Das machte mich rasend. Je mehr ich suchte, desto wilder wurde ich. Eines Nachmittags riss ich sogar die Wohnzimmergardinen herunter, nur um zu sehen, ob Abdullah den Pass dazwischen versteckt hatte. Ich war außer mir. Wütend rannte ich in die Küche, holte das Fleischerbeil aus der Schublade und begann, die Schlösser der abgeschlossenen Schrankwand im Wohnzimmer zu bearbeiten. Das Holz splitterte, wie eine Furie hieb ich darauf ein, auf bekam ich die Schränke trotzdem nicht. Als Amin ins Zimmer kam und mich auf die Schlösser einschlagen sah, erschrak er zunächst. Dann fragte er, ob er die Uhr an der Wand klein hacken dürfe. »Ich hasse diese Uhr«, sagte er. Da gab ich ihm das Beil.
Spätabends, als Abdullah nach Hause kam, saß ich am Küchentisch und legte Wäsche zusammen. Eine Arbeit, die ich immer gerne gemacht hatte. Weil ich dabei ruhig wurde, und nun musste ich mich irgendwie beruhigen und auf andere Gedanken kommen. »Was hast du mit der Schrankwand im Wohnzimmer gemacht?«, fragte mein Mann und musterte mich. »Ich wollte Brennholz daraus machen«, entgegnete ich kühl. »Es ist kalt in der Wohnung, und der Schrank hat mir sowieso nie gefallen.« Ich provozierte Abdullah, ich wunderte mich über mich selbst. Gleich würde es einen Riesenkrach geben. Doch er blieb ganz ruhig. »Sollen wir es noch einmal zusammen versuchen?«, fragte er wie aus heiterem Himmel und nahm mir ein Wäschestück aus der Hand. Darauf war ich nicht gefasst. Was war plötzlich in ihn gefahren? Ein paar Tage vorher macht er noch mit seiner Algerierin rum, und jetzt spielt er wieder Familie? Das passte nicht zusammen. Was sollte ich ihm antworten? Dass er ein Schwein sei, weil er mir meinen Pass geklaut hat? Ich tat, als hätte ich seine Frage nicht gehört, und faltete ein Handtuch zusammen.
»Wie bist du überhaupt hierhergekommen?«, fragte er. Er hatte das Wäschestück wieder auf den Tisch geworfen, sich mir gegenüber gesetzt und rollte nun nervös einen Zipfel der Tischdecke auf. »Mit Pass und Visum von der deutschen Botschaft in Tunis«, entgegnete ich, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Sag bloß, dass du dir das selbst besorgt hast.« – »Ja, hab ich. Und wenn wir schon beim Thema sind«, fuhr ich fort, »ich würde gern Amal zu uns holen?« – »Und?« – »Du hast ihren Pass. Wenn du ihn meinem Vater schickst, wird er ein Flugticket für sie besorgen und sie in ein Flugzeug setzen.« – »Willst du sie etwa alleine fliegen lassen?« – »Ja, warum nicht. Die Jungs haben es doch auch geschafft.« – »Gut, ich überleg’s mir.«
Ein paar Tage später kam Abdullah mit drei Landsleuten von der Arbeit. Ich kannte sie von früher, als ich frisch aus Tunesien gekommen war. Ich kochte Tee und trug ihn ins Wohnzimmer. Dichter Zigarettenqualm hing in der Luft. »Bleib«, sagte Abdullah, als er sah, dass ich gleich wieder in die Küche verschwinden wollte. Er goss seinen Landsleuten den Tee ein, dann schaute er zu mir. Ich hatte mich mit dem Rücken an die Fensterbank gelehnt, die Gardinen waren zugezogen. »Ich habe drei Freunde mitgebracht«, sagte Abdullah, »die bezeugen sollen, dass ich mich wieder mit dir versöhnen möchte.« – Sich noch einmal mit mir versöhnen? Wie sollte ich das verstehen? – Ich sah von einem zum anderen. Was ist von einem solchen Gesinnungswandel zu halten? Ist das wirklich sein Ernst? Und die algerische Freundin? Ich sah in Abdullahs hageres Gesicht, in seine grünen Augen, die glasklar und doch undurchdringlich waren. Will er sich wirklich ändern und alles wiedergutmachen, was er angerichtet hatte? Würde ich ihm je wieder trauen können, nachdem er mich auf so schäbige Weise in Tunesien hatte sitzenlassen? – Nein! – Was soll ich sagen? »Gut«, sagte ich. Wenn er sich aussöhnen wollte, mir recht. Es war mir alles recht, wenn er mir nur Amal nach Deutschland holen würde.
Ich wollte die Familie wieder beisammen haben, nichts anderes. Als die Männer gegangen waren, wickelte ich mich in eine Decke ein und setzte mich zu Abdullah auf die Couch. Es war schon spät, die Luft zum Schneiden dick. Da stand mein Mann auf, musterte mich von oben bis unten und blies den Rauch seiner Zigarette seitlich aus den Mundwinkeln. Ich könne doch wieder bei ihm hier im Wohnzimmer schlafen, meinte er nun. Ruhig sagte er das, als sei nie etwas zwischen uns gewesen.
Er war mir unheimlich. Was wollte er von mir? Was ging bloß vor in ihm? »Wollen wir es nicht noch einmal mit unserer Ehe versuchen?«, fragte er unvermittelt. »Wieder eine richtige Familie sein, Vater, Mutter, Kinder?« – »Und deine Freundin?« – »Die schicke ich zum Teufel«, sagte er wegwerfend, drückte seine Zigarette auf dem Fensterbrett aus. Dann öffnete er das Fenster und schnippte die Kippe in die Dämmerung hinaus. »Und Amal?«, fragte ich. »Die holen wir zu uns. Ist doch klar, sie gehört zu uns, zu ihren Eltern.« Ich wurde nicht schlau aus diesem Mann. Immer tat er genau das Gegenteil von dem, was ich erwartete. Warum war er plötzlich so nett? »Und ihr Reisepass?«, fragte ich. »Den schicke ich nach Tunesien, gleich morgen.« Ich glaubte ihm kein Wort und hätte doch alles getan, um Amal hierher zu holen. Das wusste er. Es war wie ein Arrangement. Er konnte von mir haben, was er wollte, wenn er nur unsere Tochter zurück nach Deutschland holte. Ich wollte vergessen, was passiert war, und legte mich zu ihm.
Nicht lange, und ich spürte, dass ich wieder schwanger war. Dieses Mal freute sich Abdullah aber ganz und gar nicht. Das passte irgendwie nicht in seinen Plan. Zum ersten Mal sprach er gleich nach der Untersuchung bei der Frauenärztin mit mir darüber. Was heißt sprach? Noch auf dem Parkplatz vor der Praxis begann er mir Vorwürfe zu machen. »Warum verhütest du nicht? Noch nie was davon gehört? Wie konnte es nur so weit kommen?« Es war nicht zu fassen. Früher hatte er getobt, weil ich heimlich die Pille genommen hatte, jetzt tobte er, weil ich sie nicht nahm. Immer war es verkehrt, und im ersten Moment meinte ich tatsächlich, mich für die Schwangerschaft rechtfertigen zu müssen. »Es gab in Tunesien keinen Grund für mich, die Pille zu nehmen. Und jetzt kommst du zu mir ins Bett, ob’s mir gefällt oder nicht, ob ich das möchte oder nicht … Und ich soll dafür verantwortlich sein?«
Das verschlug mir fast die Sprache. Wieder als Familie zusammenleben? Dass ich nicht lache! Als ob davon nie die Rede gewesen sei. Was für ein Wechselbad der Gefühle, nicht auszuhalten. Abdullah ist unberechenbar und ich bin ihm ausgeliefert. Abdullah benutzt mich. Nie weiß ich, was er vorhat. Wenn ich jetzt in Tunesien wäre, würde ich einfach weglaufen. Aber hier? Wohin? Wie soll ich mich allein mit drei Kindern in Deutschland durchschlagen? Ich kann kein Deutsch, nicht lesen und nicht schreiben. Wie soll ich für uns sorgen?
Es nieselte, und der Wind jagte die Wolken vor sich her. Abdullah saß schon im Auto, die Scheibenwischer wischten in ihrem regelmäßigen Takt und fegten die Tropfen von der Windschutzscheibe. Ich stieg ein. Trotz meiner Angst vor ihm. Noch mehr Angst hatte ich davor, alleine zu sein.
Ich war früh aufgestanden. Hatte wieder einmal das Gefühl, nicht geschlafen zu haben. Die Wolken hingen über der Stadt wie achtlos über die Leine geworfene Wäsche, dazwischen lugte die Morgensonne durch. Ich stand am offenen Fenster in der Küche und schaute über den Spielplatz. Die ganze Nacht über hatte ich mir den Kopf zermartert. Noch ein Kind, unmöglich. Sollte ich zu meiner Ärztin gehen und sagen, es geht nicht? Wie soll ich mich um vier Kinder kümmern, wenn ich es mit dreien nicht schaffe? Abgesehen davon, dass ich mich ihr sowieso nicht verständlich machen kann. Abdullah war gegen ein Kind, vielleicht sollte ich mich aus Trotz darauf freuen?
Nach dem Krach auf dem Parkplatz hatte er zwei Tage lang nichts mehr von sich hören und sehen lassen. Im Nachhinein weiß ich, was er in dieser Zeit tat. Er war im Reisebüro gewesen und hatte mit seiner Freundin Pläne gemacht. Dann war er plötzlich wieder da. Wir haben kein Wort miteinander gesprochen. Ich fragte nicht einmal, ob er Amals Papiere endlich nach Tunesien geschickt habe.
Ein paar Spatzen flatterten auf, als ich die Brotkrümel vom Brettchen hinaus auf das Fensterbrett klopfte. Höchste Zeit zum Frühstücken. Ich hatte Amin und Jasin geweckt, wollte Pausenbrote für die Schule schmieren. Gähnend kamen sie nacheinander in die Küche. »Frisches T-Shirt«, forderte ich Jasin auf, während Amin sich schon an den Tisch setzte und Cornflakes aus der Schüssel löffelte.
Abdullah kam dazu, stand ein paar Minuten im Türrahmen und beobachtete uns, dann stellte er Wasser auf und brühte sich einen Nescafé. Ich wunderte mich, dass er noch nicht bei der Arbeit war. Seltsam, warum frühstückte er mit uns? Als ob er meine Gedanken lesen könne, sagte er plötzlich: »Ich fahre die Kinder heute zur Schule.« 200 Meter? Überrascht schaute ich zuerst ihn an, dann die Kinder. Vielleicht wollte er mit der Lehrerin etwas besprechen, keine Ahnung. Alles, was die Schule anging, war mir immer noch völlig fremd.
Die Jungs freuten sich, dass der Vater sie absetzen wollte. Auf das Auto waren sie immer stolz gewesen. So ein schickes hatten nicht alle Kinder ihrer Klasse. »Beslema«, verabschiedeten sie sich, »Tschüs«, und ich half ihnen, die Schulranzen auf den Rücken zu packen. »Bis heute Mittag, viel Spaß in der Schule«, rief ich, als sie zur Haustür gingen. Abdullah war schon vorausgegangen, das Auto zu holen. Mit einer Hand schickte ich den beiden einen flüchtigen Kuss nach. »Gut, dass du wieder bei uns bist«, rief Jasin und hatte schon die Straße zum Spielplatz überquert.
Ich lehnte an der gekachelten Wand im Hausflur. Eine ältere Dame mit Dackel, sie musste wohl eine neue Mieterin sein, kam die Treppe herunter. Sie grüßte, ich grüßte zurück, trat aber einen Schritt zurück. Sie lachte: »Der Hund ist absolut harmlos.« Ob Jasin und Amin den Dackel schon kennen? Immer haben sie sich einen Hund gewünscht. Was sind sie doch für liebe Kerle. Dass ich es nur so lange ohne sie ausgehalten habe!
Gegen Mittag kam kein Jasin nach Hause, auch kein Amin. Vielleicht waren sie auf dem Weg aufgehalten worden? War wieder ein Zirkus in der Nähe? Oder waren sie mit anderen Jungs nach Hause gegangen? Ich machte mir Sorgen, wartete, eine halbe Stunde und mehr, stellte mich ans Fenster, riss die Wohnungstür auf, rief nach ihnen, machte die Tür wieder zu. Noch immer traute ich mich nicht alleine aus dem Haus. Als ich im Flur Schritte hörte, riss ich von Neuem die Tür auf: Abdullah.
»Die Kinder sind noch nicht von der Schule zurück«, rief ich ihm entgegen. »Kannst du schauen, wo sie bleiben?« Er blieb stehen, legte die Stirn in Falten, klopfte eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und ging an mir vorbei in die Wohnung. »Komm rein und mach die Tür zu«, sagte er. Mein Blut pochte in den Schläfen. »Hast du mich nicht verstanden? Amin und Jasin sind nicht da, ich mache mir Sorgen«, schrie ich ihn an. Noch immer reagierte er nicht, stattdessen hob er den Deckel vom Topf, der auf dem Herd stand, um zu sehen, was ich gekocht hatte. »Sag mir, was los ist. Du hast die beiden doch zur Schule gefahren. Wo hast du sie zuletzt gesehen?« Eine unheimliche Ahnung stieg in mir hoch, ich zitterte plötzlich, hatte Angst. Hat es einen Unfall gegeben, sind sie im Krankenhaus? Abdullah muss es doch wissen. Warum sagt er mir nichts?
Die Sekunden dehnen sich, ich starre ihn an, verfolge seine Bewegungen, will ihn packen, mit beiden Händen, eine Antwort aus ihm herausschütteln. Da greift er langsam nach seiner goldenen Uhr, um sie ein wenig unter dem Ärmel seines Jacketts hervorzuziehen. Er schaut auf das Zifferblatt. »Ja«, sagt er und seine Stimme klingt fast mitleidig. »Nun müssten sie eigentlich schon gelandet sein.« – »Waaaaas? Wer – sie? Was meinst du damit? Wo gelandet?« – »In Tunis. Ich habe die Jungen mit dem Flugzeug nach Tunesien geschickt.«
Der Atem stockt mir. Nein!, will ich schreien, aber kein Ton kommt aus meinem Mund. »Ja«, fährt Abdullah lässig fort, »mein Bruder hat sie wahrscheinlich abgeholt, und nun sind sie unterwegs nach Hause.«
»Nach Hause?«, schreie ich. Das kann ich nicht glauben. So gemein ist mein Mann nicht, das kann nicht sein. Welches Spiel spielt er mit mir? »Nein«, rufe ich nun doch, und meine Stimme überschlägt sich, »du lügst mich an! Ich glaube dir kein Wort. Nie hätte ich dir etwas glauben sollen. Du bist krank.« Ich tobe. Ich weiß nicht mehr, was ich tue. Soll er mich doch umbringen, endlich umbringen. Das wäre nicht schlimmer als diese Folter. Die Kinder zum zweiten Mal entführt – das halte ich nicht aus. Ich renne zum Fenster, mache es auf, reiße mir das Kopftuch herunter, das ich in letzter Zeit immer trage. Hinausschreien will ich es, so laut ich nur kann: Mein Mann ist ein Schwein. Er hat meine Kinder entführt. Lieber will ich sterben, als das auszuhalten.
Ich schreie. Die ganze Welt soll wissen, dass er ein Verbrecher ist und welche Schmerzen ich leide. »Bring mich doch um, das ist es doch, was du willst, mich loswerden. Los, schlag mich«, brülle ich. Alle sollen es hören, wenn er mich prügelt, wenn er mich totschlägt und das ungeborene Kind auch. Ich hasse den Mann, ich hasse das Kind, und am allermeisten hasse ich mich selbst. Weil ich mich noch einmal auf sein dreckiges, fieses Spiel eingelassen habe.
Doch da packt mich Abdullah schon von hinten, zieht mich an meinen langen Haaren, wirft mich zu Boden und drückt mir die Hand auf den Mund. Wie von Sinnen beiße und trete ich nach ihm. Er schlägt mir ins Gesicht und drückt fester zu. Zischt zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: »Wenn du weiter schreist, wirst du deine Kinder nie wieder sehen! Hörst du? Nie wieder!« Sein voller Ernst – das spüre ich und erschauere. Von einem Moment auf den anderen bin ich still.
Halb betäubt blieb ich liegen. Minuten oder Stunden. Ich weiß es nicht. Ich musste eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, fror ich, meine Beine zuckten. In der Wohnung war es dunkel und totenstill. Meine Augen waren dick geschwollen vom Weinen. »Wo bin ich? Wer bin ich?«, wie eine graue Wolke dehnten sich die Fragen in meinem Kopf aus. Ich war mir fremd, und es dauerte eine Weile, bis ich die Gegenstände um mich herum wiedererkannte.
Abdullah war weg, das Telefon hatte er mitsamt dem Stecker herausgerissen und mitgenommen. Mühsam rappelte ich mich auf, kochte Tee, schlief wieder ein. Tagelang dämmerte ich vor mich hin – das Gefühl für Zeit hatte ich verloren. Ich starrte gegen die Wände und sah aus den Augenwinkeln die Sachen der Kinder herumliegen. Warum hat Abdullah mich nicht totgeschlagen? Ich konnte nicht aufstehen, keinen klaren Gedanken fassen. Alles war zerstört. Und doch konnte ich nicht glauben, dass meine Söhne schon wieder weg waren. Irgendetwas in mir wehrte sich dagegen. Vielleicht hatte Abdullah sie für ein paar Tage zu seiner Freundin gebracht, um mir einen Schrecken einzujagen? Sicher würden sie gleich zurückkommen.
Drei oder vier Tage verbrachte ich in diesem merkwürdigen Zustand der Schwebe, war ziel- und orientierungslos, zeitlos, im Nichts. Konnte nur daran denken, dass die Kinder bestimmt sofort zurückkämen. Gleich, gleich würden sie klingeln und hereinstürmen. Ich fixierte die bunt gemusterte Tapete im Wohnzimmer und sah inmitten von Schnörkeln einen Teufel auftauchen. Wo bin ich? Sind da nicht Schritte auf dem Flur? »Vergiss die Kinder«, dröhnte es in meinem Kopf. Ich wartete, setzte keinen Schritt vor die Tür. Wenn sie kämen, wollte ich das auf keinen Fall verpassen.
Irgendwann klingelte es tatsächlich. Ich erschrak zu Tode. Die Kinder? Abdullah? Nein, er würde nicht klingeln. Ich stand auf, zog mir einen Bademantel über, schleppte mich zur Tür und öffnete. Karimah? Ich muss ausgesehen haben wie ein Gespenst, bleich, abgemagert, die Augen rot und blau von Abdullahs Schlägen. Als ich meine Freundin sah, ließ ich mich auf den Boden fallen und brach in Tränen aus. »Was ist los mit dir? Um Himmels willen, du siehst ja furchtbar aus.« Ich konnte nichts antworten, schluchzte nur. Da setzte sie sich zu mir und fing an, mir über den Rücken zu streicheln. Sie war erschüttert, in abgehackten Sätzen versuchte ich ihr zu erzählen, was ich wusste: »Die Kinder sind weg, verschwunden – in Tunesien, hat Abdullah gesagt – wieder entführt – er hat gesagt, ich würde sie nie wieder sehen – aber sie kommen bestimmt gleich zurück.« Karimah nahm mich in den Arm, zog mich langsam in die Wohnung zurück und schloss die Tür. Sie wollte nicht glauben, was passiert war.
Wir hatten uns, seit ich zurück in Hamburg war, nicht oft gesehen. Nachdem sie tagelang unzählige Male versucht hatte, bei mir anzurufen und keiner das Telefon abgenommen hatte, wollte sie nach mir sehen. Und fand ein Häufchen Elend. Die Arme, mich in diesem heillosen Zustand anzutreffen, hatte sie nicht erwartet. »Komm mit zu mir«, sagte sie nach einer Weile. »Du darfst dich nicht länger in der Wohnung verschanzen, hier gehst du zugrunde. Deine Kinder kommen bestimmt nicht zurück. Ich lass dir ein Bad ein und koche uns etwas zu essen.« Ich wollte nicht, so verstört war ich immer noch. Aber Karimah hatte Geduld, wie auf ein kleines Kind sprach sie auf mich ein. »Bitte komm mit! Dann kannst du auch in Tunesien anrufen und fragen, ob die Kinder wirklich dort sind.« Immer wieder: »Komm mit mir.«
Sie legte mir Kleider zurecht, sodass ich nur noch hineinzuschlüpfen brauchte, dann verließen wir zusammen die Wohnung. Nicht ohne die Tür einen Spalt breit offen zu lassen, da ich keine Schlüssel hatte. Draußen fiel Schneeregen, Aprilwetter, aber es tat gut, rauszugehen. Nach dem Bad bei Karimah und einer heißen Suppe fühlte ich mich viel besser. »Willst du jetzt in Tunesien anrufen?«, fragte sie. »Ja, ich muss wissen, was los ist und wo meine Kinder sind.«
Meine Eltern hatten sich inzwischen ein Telefon angeschafft. Ich zitterte, als ich den Hörer zur Hand nahm. Was würde mich erwarten? Und wenn die Eltern auch nicht wussten, wo Amin und Jasin waren? Ich würde sie vielleicht erschrecken. Der Vater war am Apparat. »Esma, wo bist du? Was machst du? Warum kann ich dich nicht erreichen. So oft habe ich versucht, dich anzurufen«, überschüttete er mich gleich mit einem Wortschwall. Er habe sich Sorgen gemacht, mit mir sprechen wollen, aber keiner sei ans Telefon gegangen.
Meine Stimme versagte immer wieder, als ich ihm nun erzählte, dass Abdullah unsere Söhne zum zweiten Mal entführt habe. »Baba, ich weiß nicht, wo sie sind. Sind sie in Tunesien? Ich dachte, sie gehen zur Schule, aber nachmittags kamen sie nicht zurück. Abdullah sagte mir, dass er sie nach Tunesien geschickt habe. Seitdem habe ich nichts mehr von Amin und Jasin gehört.« Ich merkte, wie mein Vater am anderen Ende still wurde, er schwieg. »Tochter … «, sagte er dann und brach wieder ab, als ob er überlege. »Baba, was ist? Sag was, bitte.« – »Abdullah ist in Tunesien. Er war gestern hier und hat auch Amal geholt. Alle drei Kinder sind bei seinem Bruder auf dem Hof.« – »Nein, das ist nicht wahr«, rief ich. »Nicht auch noch Amal.« – »Doch, es tut mir leid, so leid. Aber wir konnten nichts dagegen tun. Abdullah kam und sagte, dass du nicht in der Lage seist, dich um die Kinder zu kümmern. Er kam mit einem gerichtlichen Beschluss, wo immer er ihn so schnell herbekommen hat. Er habe das Sorgerecht, sagte er, schwarz auf weiß. Im Übrigen habe er schon die Scheidung eingereicht. Wenn die durch sei, gehörten die Kinder sowieso ihm, und Amal solle mit ihren Brüdern aufwachsen.« – »Warum hast du sie ihm gegeben?« – »Ich konnte nichts dagegen tun.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Jetzt hatte ich alles verloren. Und keine Kraft mehr, mich zu wehren, nicht gegen diesen Mann. Abdullah hatte das Sorgerecht und ich nichts. Meine Familie hatte machtlos zusehen müssen, wie er meine Tochter in sein Auto setzte und mitnahm. Es musste furchtbar für sie gewesen sein. Erst wird sie von der Mutter allein gelassen, dann kommt der Vater, reißt sie aus ihrer gewohnten Umgebung und bringt sie in die verwahrloste Hütte zu Tante und Onkel.
Ich war einfach nur still. Dass ich für die Kinder kämpfen müsse, hörte ich meinen Vater sagen, jetzt erst recht. Doch seine Worte zogen wie Landschaften am Zugfenster an mir vorbei. »Komm nach Tunesien«, sagte er. »Was hält dich jetzt noch in Deutschland?« – »Nichts, aber ich habe kein Geld für den Flug. Ich habe überhaupt kein Geld, woher denn. Ich habe keine Kinder, kein Geld, keinen Mann und keine Heimat mehr. Nichts mehr.«
Ich wollte nur noch alleine sein. »Ich komme morgen mit Essen vorbei«, rief mir Karimah hinterher, es war ihre Art, mich zu trösten. Ich irrte durch die Straßen. Plötzlich bemerkte ich, dass ich auf dem Weg zur Freundin meines Mannes war. Ich kannte die Adresse, dort gewesen war ich noch nie, aber es war nicht weit. Abdullahs Auto stand vor der Tür. Das Telefon lag auf dem Rücksitz. Ich stieg die Treppen hoch zur Wohnung von El Hemla, klingelte. Sie öffnete, ich fragte, wo Abdullah sei. Wisse sie nicht, war ihre Antwort. Ohne ihr eine Szene zu machen, kehrte ich um.