Schwanger
Meist bin ich abends als Erste ins Bett gegangen. Sobald ich hörte, dass Abdullah den Fernseher ausschaltete, tat ich so, als ob ich schliefe. Manchmal hatte ich Glück, manchmal nicht. Wenn er kam und mit mir schlafen wollte, war ich eiskalt, gewehrt habe ich mich nie. Es war sowieso immer schnell vorbei. Wie ein Gewitter.
Wenn ich ihm sagte, dass ich meine Tage habe, gefiel ihm das gar nicht, und er machte mir Vorwürfe: »Wie kannst du nur?«, oder »Warum wirst du nicht schwanger?« Richtig beleidigt und wütend war er und wollte es nicht dulden. Als ob eine Schwangerschaft in meiner Macht stünde. Dann ging es aber doch sehr schnell. Wie es ist, schwanger zu sein, wusste ich nicht.
Ich war deprimierter als ohnehin alle Tage, und morgens, wenn ich meinem Mann Brot und Tee richtete und sein Essen einpackte, war mir schwindlig. Ich wollte nicht darauf achten. »Was ist los mit dir?«, fragte er mich und schien mich mit seinen grünen Augen zu durchbohren. »Weiß nicht«, antwortete ich achselzuckend. »Wenn du bloß schlauer wärst!«, sagte er. »Vielleicht bist du schwanger und merkst es nicht mal?« Und er beschloss, mich zu einer gynäkologischen Untersuchung zu bringen.
Als er mich nach der Arbeit abholte, um mit mir zum Arzt zu fahren, saßen schon ein Freund und dessen Frau im Auto. »Sie wissen Bescheid und kommen mit zum Frauenarzt«, sagte mein Mann. Ich reichte beiden die Hand und lächelte. Wenn die gewusst hätten, wie unangenehm mir die Situation in Wirklichkeit war? Ich genierte mich so.
Wir kamen in eine große Praxis nur mit Frauen: Frauenärztin, Arzthelferinnen und Laborantinnen. Das war mir recht, ich war zum ersten Mal zu einer solchen Untersuchung in einer Arztpraxis, ein Mann hätte mir sicher große Angst gemacht. Überall standen bequeme helle Sessel, sogar Kaffee und Saft gab es zu trinken, trotzdem roch es anonym. Die Mädchen an der Rezeption schauten uns fragend an, vier Personen kamen selten zu einem einzigen Termin, dann boten sie uns Wasser an.
Mit den Pappbechern in der Hand nahmen wir in einem großen Wartezimmer Platz. Keine der Patientinnen, die dort saßen, blickte aus ihrer Zeitschrift auf. Ich beobachtete eine Neonröhre an der Decke oben, die kurz vor ihrem Ende vor sich hin glimmte. Wir warteten schweigend. Irgendwann klopften sich die Männer Zigaretten aus den Packungen und gingen vors Haus.
In der Zwischenzeit wurde ich aufgerufen. Mir war schlecht vor Angst, ich hatte ganz feuchte Hände, die ich zusammenpresste, als würde ich mich selbst an der Hand nehmen. Man kann sich das nicht vorstellen, wie es ist, wenn man kein einziges Wort versteht, keine einzelne Zeile lesen kann, wenn man taub und stumm gleichzeitig ist. Weder das Wort »Wartezimmer«, noch »Behandlungsraum«, noch »Labor« konnte ich entziffern, keinen Namen auf den Schildchen lesen, die die Mädchen an ihren weißen Kitteln stecken hatten. Mein Gesicht brannte, doch die Frau des Freundes hakte mich unter und begleitete mich ins Labor. Sie übersetzte, was die Arzthelferin sagte: auf die Waage stellen, Blutdruck messen, Blut abnehmen lassen, den Urin abgeben zur Untersuchung.
Keine Ahnung, was diese Untersuchungen zu bedeuten hatten und wozu sie dienten. Aber alle waren freundlich zu mir und verständnisvoll. Sprachlose Ausländerinnen waren ihnen schon öfters begegnet. Keiner machte sich lustig, weil »ich Ausländer, ich nix verstehen«. Und wenn, dann wäre es mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, so aufgeregt wie ich war. Als ich mit meinem Pappbecher voll mit Urin aus der Toilette kam und nicht wusste, wohin damit, kam ich mir trotzdem ziemlich blöd vor.
Ich fühlte mich fehl am Platz, aber gleichzeitig war ich neugierig, was hier mit mir passierten sollte. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als alles mit mir geschehen zu lassen. Die Freundin führte mich bis zur Tür einer Kabine, sagte, dass ich mich bis aufs Unterhemd ausziehen solle, und verschwand. Ich tat wie geheißen, und nach kurzer Zeit rief mich eine Ärztin in ihr Sprechzimmer. Sie zeigte mit ihrer Hand auf eine Art Liegestuhl und deutete mir an, dass sie mich nun untersuchen wolle. Ich genierte mich, wie ich so halb nackt im Hemdchen vor der bekleideten Frau stand. Trotzdem legte ich mich gehorsam auf den Stuhl. Während die Ärztin meinen Bauch von außen abtastete, redete sie ununterbrochen. Dann vaginal – ich war wie gelähmt vor Angst, aber versuchte trotzdem zu lächeln. Dann mit dem Ultraschallgerät – als sie merkte, dass ich zitterte, nahm sie meine Hand in ihre, führte mich und ließ mich mit dem Apparat selbst meinen Bauch beschallen. Wie eine Blinde.
Sie konnte nicht wissen, wie gut mir das tat, oder doch? Es dauerte nicht lange, und ich durfte mich wieder anziehen. Inzwischen hatte die Ärztin meinen Mann rufen lassen. In einer Wolke von Nikotin kam er ins Untersuchungszimmer hereingeweht, setzte sich und begann, mit der Ärztin zu sprechen. Ich verstand nichts, aber mir war schlecht. Ich setzte mich neben ihn auf einen Stuhl, drückte meinen Rücken gegen die Lehne und schaute zu Boden. Rosa Linoleum mit hellgelben Einsprengseln. Ohne mir etwas zu erklären oder auf mich zu warten, verließ mein Mann schließlich den Raum.
Ich stand auf, holte mein Tuch aus der Kabine, band mir die Schuhe, dann gab ich der Ärztin die Hand und sagte »Danke« und »Auf Wiedersehen«. Auf dem Flur sah ich Abdullah am Tresen stehen und mit der Arzthelferin einen neuen Termin vereinbaren. Er nahm keine Notiz von mir. Dafür kam die Frau seines Freundes auf mich zugestürmt, breitete ihre Arme aus, drückte mich an sich und küsste mich: »Du bist schwanger. Herzlichen Glückwunsch!« – »Nein«, entfuhr es mir, während ich mich ihr umständlich entwand, es war mir peinlich: »Das kann nicht sein, oder? Sag das noch einmal, bitte.« – »Doch, es ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. In ungefähr sieben Monaten werdet ihr ein hübsches Baby haben.« Es war wie ein Überfall, ich wusste nicht wohin mit mir, hilfesuchend schaute ich mich nach meinem Mann um. Stimmte das wirklich? Warum hatte er es mir nicht gleich im Behandlungszimmer erzählt?
Abdullah scherzte mit der Arzthelferin und schien in bester Laune. »On y va«, sagte er weltmännisch und schlenkerte sein Täschchen am Handgelenk: »Gehen wir?« Als er an mir vorbei in Richtung Tür ging, streifte er mich am Arm, sonst nichts. Vor dem Labor sahen wir eine ausländisch aussehende Frau hilflos mit ihrem übervollen Becher Urin stehen. Die Männer lachten, es war die Frau eines Kollegen, der unten im Auto auf sie wartete. Ich fand das überhaupt nicht witzig.
Ich war schwanger. Abdullah muss es sofort seinem Freund und dessen Frau erzählt haben. Aber warum mir nicht? Nichts? Gleich im Beisein der Ärztin hätte er mit mir darüber sprechen müssen. Dann hätte ich darauf reagieren können: Fragen stellen, was weiß ich. Es war doch mein Bauch, in dem das Kind wuchs. Doch Abdullah tat, als ob mich das Ganze nichts anginge. Er war der Vater des Kindes, mein Körper gehörte ihm! Aber bin ich nicht die Mutter? Und habe ich nicht als Erste ein Anrecht darauf, zu erfahren, was los ist?
Abdullah hetzte zum Parkplatz vor der Praxis, schloss das Auto auf, auch die Beifahrertür für seinen Freund und die Türen hinten für uns Frauen. Wie üblich startete er mit quietschenden Reifen durch, zwei Minuten später bremste er schon wieder ab und hielt an einer Tankstelle: Zigaretten holen. Mit einem Grinsen im Gesicht kam er zurück. Er hatte eine Packung Gummibärchen mitgebracht, die er verteilte. Sogar wir Frauen bekamen etwas ab. Das war seine einzige Reaktion auf die freudige Nachricht meiner Schwangerschaft.
In den folgenden Wochen sprach Abdullah nicht mehr mit mir als sonst. Aber er sorgte dafür, dass ich genug und regelmäßig zu essen und zu trinken hatte. Wie er sein Auto mit Benzin betankte und samstags auf Hochglanz polierte, so kümmerte er sich auch um mich. Nie war ich hungrig, aber dauernd wollte er mich mit Oliven und Trauben stopfen. Wahrscheinlich sorgte er sogar dafür, dass ich genug Eisen und Magnesium zu mir nahm. Auf jeden Fall löste er immer wieder Tabletten in Wasser auf. Grässliches Gesöff. Aber er hatte ja recht, ich selbst war ahnungslos. Am liebsten trank ich in dieser Zeit Cola – vielleicht sogar aus Trotz.
Dass ich irgendwann einmal schwanger werden würde, hatte ich erwartet. Ob gewollt, unter diesen Umständen und mit diesem Mann – ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war meine Freude darüber zwiegespalten. Einerseits freute ich mich wie verrückt auf das Kind, Aziim, mein Liebling, nannte ich es heimlich, andererseits hatte ich Angst vor dem, was auf mich zukommen würde. Woher sollte ich wissen, ob es gut werden würde mit Kind oder nicht? – Doch! Endlich nicht mehr allein sein! Sondern mit jemandem, den ich lieben kann, für den ich Verantwortung übernehmen darf und mit dem ich mich beschäftigen muss. Darauf freute ich mich. Und weil ich erst als Mutter eine vollwertige Frau sein würde. Aber kann ich das überhaupt – Mutter sein?
Die nächsten Monate verbrachte ich wieder zu Hause hinter den weißen Gardinen oder im leeren Kinderzimmer auf dem Teppich. Ab und zu holte ich mir Brötchen aus der Bäckerei. Abdullah legte mir dafür ein wenig Kleingeld auf die Ablage des Wohnzimmerschranks. Aber die meiste Zeit schlief ich. Bis die Ärztin meinem Mann sagte, ich müsse mehr essen und raus und laufen. »Was soll ich machen, wenn sie nichts isst. Ich kann sie nicht zwingen zu essen«, hatte mein Mann ihr widersprochen. »Unternehmen Sie etwas zusammen, was ihrer Frau Freude macht.« – »Wie meinen Sie das?« – »Gehen Sie mit ihr ins Kino.« – »Sie versteht doch kein Deutsch.« Dass ich trotzdem Lust gehabt hätte, etwas anderes zu sehen als meine vier Wände, kam ihm nicht in den Sinn. Alleine durfte ich nicht raus, das geziemt sich nicht für eine Frau, für eine schwangere schon gar nicht. Ein- oder zweimal ist mein Mann mit mir dann die Straße auf und ab gegangen.
Dass es Winter wurde, habe ich kaum mitbekommen. An den ersten Schnee in Hamburg kann ich mich erst erinnern, als die Kinder da waren. Aber der Krokus auf den schmalen Rabatten vor den Häusern meiner Straße, ich kannte diese lila und gelben Blümchen nicht, fiel mir im Frühjahr auf, als ich aus dem Fenster schaute, und später die Tulpen, die ich einmal in einem Katalog gesehen hatte.
Einmal, vormittags, als ich runtergehen wollte, um Brötchen und Cola zu kaufen, schnappte ich den Briefkastenschlüssel vom Haken im Flur. Abdullah hatte ihn nicht wie sonst immer mitgenommen. Ich hatte es gleich bemerkt, nachdem er morgens aus dem Haus war. Jetzt wiegte ich den Schlüssel in der Hand und umschloss ihn mit meinen Fingern. Ein schönes Gefühl – das kühle Metall! Wer den Schlüssel hat, hat die Macht. Auch mein Vater hatte den Schlüssel.
Ich wollte den Schlüssel nehmen, um damit den silbernen Kasten mit dem Namen »Abdelhamid«, der im Flur unten gleich hinter der Haustür angebracht war, aufzuschließen. Zum ersten Mal ein Schloss aufsperren! Auch wenn ich genau wusste, dass mein Mann das nicht gutheißen würde und dass in diesem Briefkasten sicher keine Post für mich liegen würde. Trotzdem, ich wollte jeden Brief einzeln herausnehmen, so wie ich das schon ein paar Mal bei meinem Mann beobachtet hatte, und dann den Schlüssel wieder in den Kasten stecken, umdrehen und zuschließen.
Es waren drei Briefe, die Schrift konnte ich nicht lesen, und eine Werbebroschüre. Mit der Colaflasche und der Post in der Hand stieg ich langsam die Treppe hoch. Ich war neugierig, hielt die Briefe gegen das Licht und drehte sie hin und her. Oben in der Wohnung holte ich ein spitzes Messer aus der Küche und ritzte die Umschläge auf: drei maschinengeschriebene Formulare. Natürlich waren die nicht für mich, ich hätte sie auch gar nicht lesen können, aber ich wollte die Briefe öffnen und sie anschauen, sehen, wie ein offener Brief aussieht. Schön. Aufgereiht wie ein Kartenspiel habe ich dann alle Papiere auf dem Couchtisch ausgebreitet. Wie meine Schwester die Formulare auf dem Schreibtisch ihres Büros im Sozialamt ausgebreitet hatte.
Als mein Mann nachmittags nach Hause kam und die geöffneten Briefe sah, fand er das überhaupt nicht lustig. Was mir denn einfiele, seine Post zu öffnen, schrie er, seine Privatsphäre zu verletzen, das alles ginge mich einen Dreck an.
»Das darfst du nicht, und davon verstehst du nichts, kapiert?« Dann schüttelte er mich. »Das sind meine Briefe, untersteh dich ja, dich da noch einmal einzumischen.« Ich schaute an die Decke, und er schlug zu.
Geschlagen hat mich Abdullah wie immer. Auf seine typische Art: Er packte mich an beiden Armen, schüttelte mich, wie man einen Sack Getreide ausschüttet, und warf mich weg, zu Boden oder an die Schrankwand, einfach weg. Manchmal gab er mir vorher noch eine Ohrfeige, je nach Laune. Ich fing dann immer an zu schreien: Hilfe, mein Baby! Wie sollte ich es schützen? Ich hatte doch nur zwei Arme. Mit denen umklammerte ich meinen Bauch wie einen Ball. Aber was, wenn er platzen würde?
Da wünschte ich mir, dass mein Kind ein Junge werden würde. Ein Sohn. Wenn ich Abdullah einen Sohn schenkte, dann würde er mich besser behandeln müssen. Davon war ich überzeugt. Er selbst hat nichts dazu gesagt, wir haben auch nicht miteinander über das ungeborene Kind gesprochen, aber ich wusste es. Ich wollte einen Jungen. Damit er es besser haben würde als ein Mädchen.
Kurz vor der Geburt kam Abdullah eines Tages mit einem Kinderwagen nach Hause, nagelneu. »Wo hast du den her?« – »Ein Sonderangebot im Drogeriemarkt.« – »Was ist ein Drogeriemarkt?« – »Das wirst du schon noch sehen.« Er hatte einen Kinderwagen besorgt, ohne mich mitzunehmen! Warum nicht? Ich wäre gerne dabei gewesen, trotzdem fragte ich nicht: Warum hast du mich nicht mitgenommen? Genauso wenig, wie ich ihn in den folgenden Tagen fragte oder etwas sagte, wenn er nach der Arbeit immer wieder mit neuen Dingen aufkreuzte: Wickeltisch, Windeln, Strampelhosen, Fläschchen, alles, was ein Baby braucht. Alles hat er ohne mich gekauft. Ich machte ihm keine Vorwürfe, aber es herrschte eine Stille zwischen uns, die mir den Atem abschnürte. Als er die Sachen auspackte und in unserem Kinderzimmer abstellte, weinte ich. »Stell dich nicht so an. Sei froh, dass ich an die nötigsten Dinge denke«, sagte er dann ungerührt. »Du hast doch gar keine Ahnung davon, was wir brauchen. Du bist zu blöd dazu.«
Es war im Mai, als die Ärztin bei einer Routineuntersuchung plötzlich sehr besorgt reagierte und sagte, ich müsse sofort ins Krankenhaus. »Zu viel Cola getrunken«, tobte mein Mann, »das hat dem Kind nicht gutgetan.« – »Zu viel alleine«, sagte ich und fasste ihn am Arm. Das war frech, aber wir waren noch in der Arztpraxis, Abdullah konnte mir nichts tun.
Es war warm an diesem Tag, so warm, dass ich sogar ein buntes weites Kleid aus Tunesien angezogen hatte. Ich hatte mich auf den Besuch bei der Frauenärztin gefreut, weil ich wusste, dass sie eine Ultraschalluntersuchung machen wollte. Wiedersehen mit meinem Baby im Bauch: Was strengte es sich an, seine Beinchen zu strecken, obwohl es keinen Platz mehr dafür gab. Ich liebte die Ruhe auf der Liege und dieses weiche Auf- und Abfahren mit dem in glitschiges Gel getauchten Schaller auf dem Bauch. Es war wie Streicheln, während auf dem Bildschirm am Kopfende wundersam die Umrisse des Kindes in Schwarz-Weiß auftauchten.
Doch als die Ärztin dieses Mal mit dem Gerät über meinen Bauch glitt, sahen wir nicht viel. Das Fruchtwasser war dunkel, die Herztöne des Kindes unregelmäßig. »Ich stelle Ihnen eine Überweisung fürs Krankenhaus aus«, sagte sie erschrocken und bat meinen Mann, mir das nicht nur zu übersetzen, sondern mich umgehend dorthin zu fahren. Man müsse die Geburt einleiten.
Ein flaches Backsteingebäude im Grünen, so viele grüne Bäume hatte ich noch nie gesehen. Überhaupt kannte ich keinen Frühling mit Rosen, wie sie zu dieser Zeit überall blühten. Es roch so frisch wie süßes Früchtegelee, das wir in Tunesien kochten, ich war überhaupt nicht beunruhigt. Zum ersten Mal, seit ich in Deutschland war, spürte ich so etwas wie Freude.
An der Pforte des Krankenhauses wurden wir zum Untersuchungszimmer geschickt. Ein langer Gang im ersten Stock, wir suchten nach der richtigen Tür. Dort angekommen, drückte mir mein Mann unvermittelt den Brief, den wir mitbekommen hatten, in die Hand. »Da nimm und gib alles dem Arzt, der dich untersuchen wird.« – »Und du?«, fragte ich überrascht. »Muss zur Nachtschicht«, sagte er, »aber ich komm gleich morgen früh wieder.« Weg war er. Das war doch wohl nicht sein Ernst? Es war doch noch mitten am Tag. Macht der sich einfach aus dem Staub? »Gleich« kann lange dauern. Verdammt nochmal, das hatte ich schon befürchtet: Abdullah hält es nicht für nötig, dabei zu sein, wenn sein Kind zur Welt kommt. Ich kramte nach einem Taschentuch, um mir die Tränen abzuwischen, die mir schon wieder übers Gesicht liefen.
Von den Frauen seiner Freunde hatte ich gehört, dass der Mann bei der Geburt seines Kindes dabei sein könne in Deutschland. Das wünschte ich mir auch, ich wollte, dass Abdullah mir hilft. Er musste! Es war doch schließlich unser erstes Kind. Ich hatte von nichts eine Ahnung, er würde mir wenigstens übersetzen können. Woher sollte ich wissen, was auf mich zukäme? Bei einem Geburtsvorbereitungskurs war ich nicht gewesen, ich wusste nicht einmal, dass es so etwas gab.
Doch mein Mann war verschwunden, so als ginge ihn das Ganze nichts an. Ob er ein paar Sachen für mich holen wollte? Oder wirklich arbeiten gegangen war? Diese Unsicherheit machte mich verrückt. Warum ist er nicht dageblieben, um mich zu beruhigen? Sollte ich ihm hinterherlaufen?
Mir war schwindlig, die Beine waren schwer, ich hatte Angst. Als eine Krankenschwester vorbeikam, streckte ich ihr müde den Arztbrief entgegen. Sie lächelte und legte ihre Hand auf meinen Arm: immer mit der Ruhe. Ein paar Sekunden, dann eilte sie weiter. Ich suchte einen Stuhl, um mich zu setzen. Legte nun selbst beide Hände auf den Bauch und atmete tief in mich hinein. »Keine Sorge, Baby Amin«, flüsterte ich beschwörend, »wenn du erst da bist, dann sind wir nicht mehr allein.« Den Namen Amin hatte ihm mein Vater gegeben, als Abdullah ihm am Telefon erzählte, dass ich schwanger sei. »Es wird ein Junge werden«, hatte der Vater gesagt. »Er soll Amin heißen.«
Ich schaute auf die Uhr, verfolgte das Vorrücken des Sekundenzeigers, tak, tak, tak, blickte auf die hohen, weißen Wände, die sich links und rechts vor mir auftaten wie Gebirgszüge, verfolgte den Sekundenzeiger, tak, tak, tak. Die Zeit ließ sich weder stoppen noch beschleunigen, aber das Tak, Tak versetzte mich in Trance. »Was soll dir jetzt noch passieren?«, hörte ich mich murmeln, wie ein Gebet. Ich starrte auf meine Hände auf dem Bauch. Bald würde das Kind da sein. Aber »bald« dauerte eine halbe Ewigkeit. »Bald« war auch eine Frau in Weiß, sogar auf dem Kopf trug sie Weiß, es musste die Hebamme sein, die mich in den Kreißsaal begleitete.
Meine Handtasche solle ich ihr geben, bedeutete sie mir und griff danach. Aber nein, das möchte ich nicht, ich drückte sie an mich, den einzigen Halt, den ich hatte. Mich ausziehen solle ich. Sie legte mir ein dünnes weißes Hemdchen zurecht. Ich ging durch den großen Raum nach hinten, wo ich eine Umkleidekabine entdeckt hatte. Es war warm, ich zog mein Sommerkleid über den Kopf, der Schweiß sammelte sich zwischen den Brüsten, ich stopfte meine Unterwäsche in die Handtasche, faltete mein Kleid der Länge nach, hängte es darüber und streifte mir das weiße Hemd über. Dann löste ich das Gummiband, das meine Haare zusammengehalten hatte, warf sie nach hinten, sodass sie sich mir wie ein Kranz um die Schultern legten. Mit der blauen Handtasche in der einen und den Schuhen in der anderen Hand trat ich aus der Kabine.
Im Kreißsaal war es hell, Sonnenstrahlen drangen durch die schräg gestellten Jalousien und warfen ein Streifenmuster auf den Boden. Ein schöner Tag, um ein Kind zu gebären. Wie einen Thron hatte die Hebamme das hohe Bett in der Mitte des Raumes für mich vorbereitet. Ich setzte mich und ordnete meine wenigen Sachen am Kopfende. Alles still, wir waren alleine. Nur wir beide und das Kind. Vielleicht war es sogar gut so, dass mein Mann nicht hier war.
Ich schlug die leichte Bettdecke zurück und lehnte mich an das hochgestellte Kopfteil. »Ruhig durchatmen«, sagte die Hebamme. Ich begriff, ohne dass ich es verstand. Sie legte mir verschiedene Gurte um den Bauch und schloss mich an Apparate an. Plötzlich vernahm ich den dumpfen, regelmäßigen Herzschlag meines Kindes.
Es dauerte nicht lange, bis ein Arzt kam. Zum ersten Mal ein Mann, der mich untersuchen wollte und mit mir sprach. Ein großer mit weißen Haaren, älter, sympathisch. Ich schämte mich, der soll mich jetzt anfassen? Wahrscheinlich fragte er mich nach Abdullah, aber ich hörte nicht hin. Ich könnte versuchen, mich mit ein paar Worten Französisch verständlich zu machen. Aber dazu bin ich zu aufgeregt. Er hat ja den Brief gelesen und weiß alles.
Ich starre auf seine Hände, als er sich mir nähert. Große Hände. Ich verfolge seine Bewegungen, wie er seine linke Hand mit einem glänzenden Ehering auf mein rechtes Knie legt. Allah, muss das sein? Ich zittere und kann doch nichts anderes tun, als alles über mich ergehen zu lassen. Inschallah! Aber ich will sagen, dass ich Angst habe. Abdullah muss mir helfen. Wo bleibt er nur? Er kommt nicht, wahrscheinlich nicht einmal aus böser Absicht, sondern weil es in Tunesien üblich ist, dass Frauen alleine gebären.
Der Arzt diskutiert mit der Hebamme. Immer wieder sehen sie zu mir herüber. Es geht um mich, aber was ist? Es ist ein schreckliches Gefühl, ihnen ausgeliefert zu sein. Dann kommt die Hebamme, sie zeigt mir einen Gurt, den sie mir um den Arm legen will. Sie arbeitet schnell, bindet mir den Arm ab, ich zittere und denke an den heißen Wind in meiner Heimat, der mir als Kind den Sand in die Augen getrieben hat, bis sie tränten. Mit einer Nadel sucht die Hebamme die Vene und legt mir eine Infusion an. Ein Wehenmittel vermutlich, um die Geburt einzuleiten. Ich bin außer mir vor Angst und strecke ihr meine Hände entgegen. »Hier nimm!«, sagt sie, und ich kralle meine Finger in ihren Arm. Mit zusammengekniffenen Augen verfolge ich die Kurve mit den Herztönen meines Kindes auf dem Monitor. Plötzlich krampft sich mein Bauch zusammen, wellenartig, die Herztöne werden hektischer. Immer wieder, alle drei Minuten, alle zwei. Mit einem feuchten Waschlappen wischt mir die Hebamme den Schweiß von der Stirn.
Ich weiß nicht, ob es Stunden oder Minuten waren, aber wenn ich an die Geburt denke, spüre ich bis heute die unerträglichen Schmerzen, die ich damals litt. Ich weinte nicht, ich schrie auch nicht, aber ich biss mir mit den Zähnen blutige Löcher in die Innenseiten meiner Backen. Schließlich legte mir die Hebamme eine Sauerstoffmaske über Nase und Mund, und ich bekam nicht mehr viel mit: Einatmen, ausatmen, einatmen, pressen. Ich schrie, erst später erfuhr ich, dass sie das Kind mit der Zange geholt haben. Amin war da.
Ein blutverschmiertes Bündel mit schwarzem Haarwuschel lag auf meinem Bauch. In ein weißes Handtuch gewickelt. Wie hübsch er war mit seinen großen, dunklen Augen, die zu mir hochschauten. Ich fühlte, wie eine Welle der Erlösung mich durchströmte: Ein gesunder Junge, seine Augen waren ihm sofort wieder zugefallen, er schlief. Ich war froh, so froh.
So froh wie zu Hause, wenn ich nach der Geburt meiner jüngeren Geschwister meine Mutter wiedersah. Jedes Jahr ein neues Kind. Manche starben gleich nach der Geburt, manche später. Mir waren die Babys nicht wichtig, aber ich sehnte mich nach meiner Mutter, die im Krankenhaus lag. Mein Vater hatte mich einmal zu ihr mitgenommen. Da versteckte ich mich hinter ihrem Bett, ich wollte nicht ohne sie nach Hause gehen. Ich sei krank, sagte ich, wolle bei ihr bleiben und sie für mich haben. »Lass sie«, bat die Mutter den Vater, und er hörte tatsächlich auf sie und ließ mich da. Eine Nacht im Krankenhaus, wo ich stundenlang neben meiner Mutter sitzen und zusehen durfte, wie sie mein kleines Geschwisterchen stillte. Sogar bei ihr im Bett schlafen durfte ich.
Als Abdullah am nächsten Tag auftauchte, war unser Sohn längst gebadet und schlief friedlich im Kinderzimmer. Man hatte es ihm gezeigt, bevor er zu mir kam. Er hat es sogar aus seinem Bettchen gehoben und ist stolz damit ins Schwesternzimmer marschiert. Mir sagte er nichts davon, als er endlich vor mir stand. Aber er strahlte, sogar einen kleinen Blumenstrauß hatte er mitgebracht. »Mara«, sagte er nur, »Frau, das hast du gut gemacht.« Und dass er Kleider und Toilettensachen für mich dabeihabe. Nacheinander packte er die Dinge aus einer kleinen Tasche aus. Ich sah zu, wie er alles ordentlich in den Schrank räumte. Säfte und Obst stellte er auf den Nachttisch.
»Bist du einverstanden damit, dass das Kind Amin heißt?«, fragte ich. »Ja, natürlich«, sagte er, »dein Vater hat es so bestimmt.« – »Gut.« – »Bist du zufrieden?«, fragte er trotzdem. Ich wusste nicht, was er damit meinte, nickte aber. »Bon, dann fahren wir im August nach Tunesien.« – »Ist das nicht zu heiß für ein Baby?« Ich war erschöpft. Vielleicht wollte er mir mit dieser Ankündigung sogar eine Freude machen, aber im Moment interessierte es mich nicht, ob wir nach Tunesien fahren würden oder nicht. Nicht jetzt. Wir sind dann auch nicht gefahren. Stumm zog ich mir die Decke über den Kopf und drehte mich zur Wand, mit dem Rücken zu Abdullah. Ich weinte. »Wir haben einen Sohn, und du heulst schon wieder?« – »Weil ich an meine Mutter denke.« – »Sie hat sich über jedes ihrer Kinder gefreut, sonst hätte sie nicht so viele geboren.« Ich habe meinem Mann nicht gesagt, dass es anders war und dass meine Ummi nach jedem Kind noch depressiver wurde.
Er war nicht lange da, zehn Minuten vielleicht, wir hatten uns nichts zu sagen. Ich wollte schlafen.