3.
»Ich fragte nichts – er sagte nichts«
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir gefahren sind und wie viele Pausen wir gemacht haben. Obwohl ich ständig auf die Uhr sah. Zu Hause hatte ich keine Uhr getragen und die Zeit am Stand der Sonne abgelesen. Aber nun starrte ich auf diese kleine, runde Scheibe wie auf eine Glaskugel, die mir die Zukunft voraussagen konnte. Abdullah machte immer wieder einen Anlauf, ein Gespräch anzufangen, aber ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte nichts von seiner deutschen Tochter wissen, nichts. Wollte er mich noch mehr demütigen? Oder mir etwas von Deutschland erzählen? Aber ich hörte nicht und spielte an meinen Fingern herum.
Draußen trieb der Wind graue Wolkenfetzen aufgetürmt wie Zuckerwatte vor sich her, irgendwann prasselten die ersten Regentropfen. Abdullah stellte den Scheibenwischer an. Noch nie hatte ich dieses gleichmäßig schlurfende Geräusch gehört. Immer im gleichen Tempo, hin und her, links und rechts, auf und ab. Der eintönige Rhythmus lullte mich ein, und meine Gedanken kreisten um einen einzigen Ort: Heim, ich sehnte mich nach Hause zurück, nach Tunesien und zu meiner Familie.
Wie wäre es, wenn ich mich in Hamburg in den Zug oder in einen Bus oder ins Flugzeug setzen würde? Einfach zurückfahren? Das habe ich noch nie gemacht, ich weiß nicht, wie ein Bahnhof aussieht oder ein Flughafen, keine Ahnung, ich bin noch nie verreist. Ganz abgesehen davon, dass ich kein Geld dafür habe. Nicht einmal ein Portemonnaie. Abdullah bezahlt mir den Kaffee an der Autobahnraststätte und drückt mir auch ein paar Pfennige für die Toilettentür in die Hand – die ich dann doch nicht aufbekomme, weil mir der Mechanismus fremd ist. O Gott, und die Spülung erst! Zu Hause haben wir ein Plumpsklo gehabt, wie soll ich wissen, wie eine Spülung funktioniert? Was hätte ich getan ohne meine tunesische Freundin vom Schiff? Nicht einmal einen Wasserhahn aufdrehen kann ich. Manchmal gab es auch nichts aufzudrehen, sondern das Wasser lief je nach Verrenkung, die ich vor dem Spiegel machte. So kam es mir zumindest vor. Vor dem Waschbecken hatte ich mir angewöhnt, immer alle anderen vorzulassen. Weil ich zusehen wollte, wie die anderen Frauen es anstellten, ihre Hände zu waschen. Manchmal musste ich die Hände direkt unter den Wasserhahn halten, damit das Wasser lief, manchmal rechts davon, manchmal gab es irgendwo einen Knopf, den ich drücken musste. Ich beobachtete und lernte schnell. Auf den Autobahnraststätten habe ich gelernt zu tun, was andere tun, ohne zu verstehen, warum. Leute beobachten und nachmachen. Bis heute lerne ich so: hingucken und nachmachen.
Es war Nacht, die Straßen glitzerten nass. Am Horizont versanken sie im Licht der Straßenlampen. Kein anderes Auto war auf der Straße, nur wir. Mit unseren neuen Freunden hatten wir beim letzten Halt Adressen ausgetauscht und uns dann verabschiedet. Abdullah fuhr langsamer, plötzlich hielt er alle paar Meter: rot, gelb, grün. Geisterhaft blinkten die Ampeln im Dunkel. Ich kniff die Augen zusammen und sah, wie sich rote und grüne Streifen wie Wollfäden ineinanderknäulten. »Hamburg«, sagte mein Mann. Wir waren schon mitten in der Stadt, ohne dass ich es richtig bemerkt hatte.
Sofort war ich wach, schaute mich um und wurde richtig aufgeregt. Die Straßen waren leer. »Warum hältst du an den Ampeln an. Wir sind doch alleine?«, fragte ich. – »Hier ist nicht Tunesien«, antwortete Abdullah. »Wir sind in Deutschland, hier gelten andere Regeln, und alle müssen sich daran halten. Es ist nicht egal, wie und wo man fährt.« – »Was für eine tote Stadt!«, sagte ich. In Tunesien haben die Cafés und Restaurants fast die ganze Nacht auf, Männer sitzen auf der Straße, rauchen und spielen Karten. Hier ist alles ausgestorben.
Aber mir gefielen die hohen, alten, mit Stuck verzierten Bürgerhäuser, die aufgereiht wie Bauklötze am Straßenrand standen, mit ihren vielen immer gleich großen Fenstern mit Gardinen. Dazwischen niedrige Backsteinhäuser, hineingestreut wie rote Perlen, auch mit weißen Gardinen. Es kam mir alles gleich vor, die bunten Autos an den Straßenrändern, brav hintereinander geparkt, keines tanzte aus der Reihe, die Ampeln in regelmäßigen Abständen, Zebrastreifen, Bäume – alles solide, kräftig, verlässlich.
Irgendwo dazwischen würde mein Platz sein – passte ich überhaupt hierher? Ich unselbständiges Gewächs aus dem Süden, das innerhalb ihres Familienclans ihren Ort und ihre Rolle einnahm wie die Mistel ihren Platz in den Zweigen eines Baumes? Was aber, wenn dieser Baum, die Familie, plötzlich fehlt? Durch die Heirat mit einem fremden Mann habe ich nicht nur meine Familie, sondern auch mich verloren. Alles ist fremd: das Land, der Mann, ich mir selbst. Ich würde mich nicht nur in einem neuen Land zurechtfinden, sondern auch selbst neu finden müssen.
Das Grün fiel mir auf und die vielen Parks und Bäume mitten in der Stadt. »Hamburg-Harburg«, zischte Abdullah neben mir und fing an zu fluchen. Ich verstand nicht. Er war bestimmt erschöpft, kein Wunder, nach zwei Tagen Autobahn. »Was ist?«, fragte ich. Keine Antwort. Er lenkte das Auto drei- oder viermal um den gleichen Block, wie ein Hund, der kreisend das Gras platt tritt, bevor er sich setzt.
Plötzlich hielt er vor einem Haus. »Hier, schau her, hier wohnen wir.« – »Wo?« – »Oben, im ersten Stock, über der Bäckerei.« – »Welche Fenster?« – »Bist du blind? Die mit den weißen Gardinen.« – »Ach?« Eine riesige goldene Brezel hing neben den Fenstern und ein Schild, das ich nicht lesen konnte.
Abdullah war schon aus dem Auto gesprungen und hatte die Heckklappe aufgerissen, während ich noch fröstelnd auf dem Sitz kauerte. »Beeil dich, und nimm, so viel du tragen kannst«, rief er und drückte mir ein paar prall gefüllte Plastiktaschen in die Hand. Wie einem Esel, dem man Säcke auf den Rücken packt. Selbst griff er sich zwei schwere Koffer und bugsierte mich dann vor sich her zu einer dunklen Haustüre. Drei hohe Stufen, rechts daneben ein erleuchtetes Schaufenster mit rot karierter Decke, auf der Brötchen und Brote ausgelegt waren. Solches Gebäck kannte ich nicht. Er schloss auf, ich fragte mich, ob das ganze Haus ihm gehörte, weil er den Schlüssel dazu hatte.
Wie gut es roch, nach Brot, und es war warm. Von ganz weit hinten hörte ich Stimmen – später erfuhr ich, dass dort die Backstube war, in der schon mitten in der Nacht gebacken wurde. Dicht neben mir ein Brummen, das mir Angst machte. Es war ein riesiger Kühlschrank, aber richtig gesehen habe ich den erst ein paar Tage später.
Abdullah ging voran, tastete an der Wand entlang, und plötzlich ging ein schummriges Licht an. Ich sah mich um. »Mara«, rief er von oben, »Weib, wo bleibst du?«, und ich stieg die Treppe hinauf. Eine Tür stand halb offen, dahinter brannte Licht. Ich stieß sie ganz auf und stand auf festem Boden. Fester Boden unter den Füßen, ein seltsames Gefühl, das merkte ich jetzt erst, nach so vielen Stunden Schiff- und Autofahrt. Zaudernd machte ich einen Schritt über die Schwelle, dann noch einen, dann ließ ich die Taschen fallen.
Ich stand in einem Flur, klein wie eine Telefonzelle, und wartete. Automatisch, wie ich immer wartete, dass Abdullah etwas sagen würde, damit ich wüsste, was ich zu tun hatte. Ich erhaschte einen Blick ins Wohnzimmer, es hatte bunt tapezierte Wände, rote, gelbe, braune Kreise und Bögen, wie ich es noch nie auf Wänden gesehen hatte. Eine riesige Sofaecke, glänzend blaues Kunstleder, darauf lag eine beige Steppdecke, gegenüber eine dunkle Schrankwand und ein Fernseher. »Mein neues Zuhause!«, dachte ich, ohne irgendetwas zu fühlen. »Schuhe ausziehen!«, hörte ich die Stimme meines Mannes neben mir sagen. Und dass er noch einmal rausgehe, aber gleich wiederkäme. »Mach die Tür zu!«
Gehorsam zog ich die Tür hinter ihm zu und beugte mich hinunter, um die Sandalen auszuziehen. Dann richtete ich mich wieder auf, schüttelte meine Haare nach hinten und streifte das umgebundene Tuch von meiner Schulter. Auf eine Toilette wäre ich gern gegangen, fragt sich nur wo?
Ich fühlte mich fremd, wie auf Besuch. Nichts hatte mir Abdullah von der Wohnung erzählt und auch nichts gezeigt. Nun traute ich mich kaum, mich umzusehen. Ich spürte den weichen Teppichboden unter meinen nackten Füßen, grub die Zehen ein, ein schönes Gefühl, ähnlich wie auf dem Sand zu Hause. Wie ein Streicheln. Durch das Wohnzimmer ging ich direkt auf das Fenster zu. Ich fühlte mich allein. Fasste mit meinen Händen nach der weißen Gardine und hob sie hoch. Dann trat ich vor, ließ sie hinter mir fallen, stützte meine Ellenbogen auf das Fensterbrett auf, legte den Kopf in die Hände und starrte hinaus in die Nacht. Das Fenster war geschlossen, es sollte in den nächsten Monaten zu meinem besten Freund werden.
Kein Mensch war zu sehen. Die Beleuchtung der Bäckerei erhellte einen kurzen Abschnitt der Straße, alles war still. Wo ist Abdullah bloß? Ich mache mir Sorgen, wie noch oft im Laufe der nächsten Monate. Was, wenn er nicht wiederkommt? Ich kenne niemanden in der Stadt, keine Menschenseele, kann die Sprache nicht, habe kein Geld. Er hat mich hier haben wollen, er ist der Einzige, den ich habe, an den ich mich wenden und an dem ich mich orientieren kann. Ich mag ihn nicht, aber ich brauche ihn. Und was tut er? Lässt mich einfach stehen, ohne mir zu sagen, was er vorhat.
Ich fürchtete mich. Wie sollte ich wissen, dass er nur einen Parkplatz fürs Auto suchen und Zigaretten holen gegangen war? Als ich den Schlüssel im Schloss der Eingangstür hörte, drehte ich mich vom Fenster weg. »Wo warst du?«, fragte ich, »ich habe mir Sorgen gemacht.« Anstatt zu antworten, warf Abdullah mit einer lässigen Bewegung eine Packung Zigaretten auf den Couchtisch. Ich senkte den Blick, mein Mann zog die Schultern hoch, als wolle er sagen »Geht dich nichts an«, und verschwand durch die Tür ins Schlafzimmer.
Die Koffer und Taschen standen noch im Flur. Aber es sah nicht so aus, als müssten sie gleich ausgepackt werden. Trotzdem machte ich mich daran zu schaffen. Wollte Zeit gewinnen und alleine sein. Ich nahm die Tüte mit den mitgebrachten Lebensmitteln und suchte die Küche. Sie war links vom Flur, samt kleiner Dusche und Geräten, die mir fremd waren: Brotschneidemaschine, Kaffeemaschine. Ich sah mich um, während ich Brot und Kaffee auspackte, dann machte ich das Licht aus und tastete mich auf Zehenspitzen wieder über die Taschen zurück durch das Wohnzimmer ins gemeinsame Schlafzimmer. Mein Mann hatte die Bettdecke über sich gezogen und atmete gleichmäßig. Er schlief! Allah sei Dank, dachte ich. Wieder eine Nacht, in der er nichts von mir wollte. Mich nicht automatisch und gefühllos nahm, wie er auch seine Zigaretten rauchte. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, doch hätte ich einen Wunsch frei gehabt, hätte ich mir ein Leben ohne Nächte gewünscht – nur noch mit Tagen.
In Tunesien hatten alle gedacht, ich hätte das große Los gezogen. Mit diesem Mann, der mich nach Deutschland holt, der gut verdient und mir alles bieten kann. Stimmt ja auch, aber um welchen Preis? Wenn die wüssten. Noch einmal tappte ich zurück ins Wohnzimmer und stellte mich ans Fenster. Der Teppichboden unter meinen Füßen beruhigte mich. Ich bin ihm ausgeliefert, dachte ich. Er ist jetzt meine Familie. Keiner wird mir zu Hilfe kommen, wenn er mich schlecht behandelt, ich würde nicht einmal um Hilfe rufen können.
Ich schaute in die Lichtkegel, die die Laternen auf die Straße warfen. Alleine! Es würde lange dauern, eigene Wurzeln zu schlagen, das spürte ich. Doch es gab kein Zurück mehr, ich musste da durch, immer weiter. Ich drehte mich um und schlich zurück in das Zimmer rechts vom Flur. Es war fast leer. Das Kinderzimmer. Dort zog ich mich aus, faltete meine Kleider zusammen, legte sie auf den Boden und ging leise zurück ins Schlafzimmer.
Am nächsten Morgen wurde ich von Lärm geweckt. Laute Kinderstimmen hallten an den drei- und viergeschossigen Hausfassaden aus dem vorigen Jahrhundert hoch. Ich versuchte, mich mit geschlossenen Augen zu orientieren. Wo war ich? In einem fremden Bett, in einer fremden Wohnung, in einem fremden Land mit einem fremden Mann. Ich schlug die Augen auf. Das Bett neben mir war leer. Die Decke ordentlich zurückgeschlagen, keine Kleider, keine Schuhe lagen herum. Wo war Abdullah? Wir waren doch gemeinsam mitten in der Nacht hier angekommen. Oder hatte ich alles nur geträumt? Schweißperlen rannen mir über den Rücken, voller Panik sprang ich aus dem Bett. Lief ins Wohnzimmer. Die Koffer und Reisetaschen im Flur waren noch ungeöffnet. Ich träumte nicht. Aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wohin mein Mann hätte verschwunden sein können. Verdammt nochmal, warum sagte er mir nie etwas? Barfuß lief ich zum großen Wohnzimmerfenster, schob die Gardine zurück, rüttelte am Griff. Es war gekippt, ich hätte es gerne richtig geöffnet, so wie ich das von Tunesien her kannte, bloß wie?
Draußen war es regengrau, kleine Kinder mit Schulranzen auf den Rücken trabten im Tross die Straße hinauf. Von Abdullah weit und breit keine Spur. Auch nicht von seinem Auto. Ich wusste nicht, auf welcher Seite des Hauses er es geparkt hatte, aber unwillkürlich suchte ich danach. Wie zerzaust die kleinen Mädchen aussahen im Hamburger Wind. Mir fiel auf, dass die meisten ihre langen blonden Haare offen trugen, keine hatte sie zu Zöpfen gebunden, wie ich es von zu Hause her kannte. Warum nicht? Von meinem Vater habe ich übrigens auch nie gewusst, was er tat und wo er war, ging es mir durch den Kopf. Warum sollte mir Abdullah jetzt Rechenschaft ablegen? – Weil ich Angst hatte und weil ich mir einen anderen Ehemann als meinen Vater gewünscht hätte.