1.
»Vater hat dir einen Mann ausgesucht«
Ich war nicht zu Hause, als er zum ersten Mal kam. Ich kannte meinen zukünftigen Bräutigam nicht, auch mein Vater nicht, keiner aus meiner Familie kannte ihn. Seine Familie stammte aus einem Dorf 150 Kilometer südlich von unserer Stadt mitten in Tunesien. Abdullah war ins Ausland gegangen, um Geld zu verdienen. Jetzt kam er mit seinem älteren Bruder.
Es muss ein paar Tage zuvor gewesen sein, im Herbst 1979, als ich meine Schwester Fatma bei ihrer Arbeit auf dem Sozialamt – sie kümmerte sich um Wohngeld und Sozialhilfe – besuchte. Heimlich wieder einmal. Ich freute mich, so wie ich mich immer freute, wenn ich rauskam von zu Hause, wo ich mich seit sieben Jahren um meine jüngeren Geschwister kümmerte. Kochen, Waschen, Putzen, und das mit knapp 19 Jahren, wo junge Mädchen eigentlich andere Träume haben. Doch ich hatte keine Wahl, jemand musste die Arbeit machen, unsere Mutter saß meist apathisch auf ihrem Stuhl neben dem Küchenherd, oder sie lag im Bett.
Hätte mein Vater davon gewusst, dass ich ohne Erlaubnis losgezogen war, um die Schwester abzuholen, hätte er getobt. Nicht einmal über den Garten zu den Nachbarn ließ er seine unverheirateten Töchter. Wenn er uns vor der Mauer unseres Hauses erwischte, setzte es Schläge. Ich nutzte trotzdem jede Gelegenheit, um zu entwischen.
Obwohl schon Oktober, staut sich die Hitze um die Mittagszeit in Fatmas Büro, die Klimaanlage gibt einen monotonen Summton von sich. »Warte, ich hab’s gleich«, sagt meine Schwester, »muss nur noch ein paar Akten einräumen, dann können wir gehen.«
Ich stelle mich ans Bürofenster, schiebe die Lamellen der Jalousie aus grauem Blech zusammen und schaue durch den Spalt nach draußen. Ein Eselskarren mit hochaufgetürmten Teppichen rattert vorüber. Das dumpf klappernde Geräusch der eisenbereiften Holzräder auf dem Asphalt hallt von den Häuserfronten wider. Aus dem Café im Erdgeschoss des Gebäudes ziehen Duftschwaden aus Kardamom und Ingwer nach oben, vermischt mit nach Benzin stinkenden Auspuffabgasen.
Plötzlich, ohne anzuklopfen, steht Mahmoud, der direkte Vorgesetzte meiner Schwester, im Büro. Er hat ein paar Anträge in der Hand, die er Fatma auf den Schreibtisch legt. »Zum Fertigmachen«, sagt er. Als ich ihn reden höre, wende ich mich den beiden zu. »Netter Chef«, denke ich. Er wirft mir einen Blick zu, im Gehen, dreht sich noch einmal um und zeigt auf mich. Im kurzen Sommerkleidchen, mit großen, dunklen Augen, ein wenig kokett vielleicht. Hübsches Mädchen, aber sehr naiv mit meinen dunklen Zöpfen und den abgekauten Fingernägeln. »Wer ist sie?«, fragt er. Fatma und ich sehen uns nicht ähnlich. »Meine kleine Schwester.« – »Und was tut sie hier?« – »Mich von der Arbeit abholen.« Mahmoud zupft mit einer Hand an seiner Krawatte, etwas muss seine Aufmerksamkeit erregt haben. Er zaudert, lässt die Türklinke los, die er schon in der Hand hatte, und macht einen Schritt auf mich zu.
»Suchst du einen Job?«, fragt er unvermittelt. Einfach so, aus heiterem Himmel. Er hat mich noch nie vorher gesehen, noch kein Wort mit mir gewechselt. Er weiß nicht meinen Namen, nicht wo ich wohne, nicht welche Schule ich besucht oder welche Ausbildung ich habe, nichts.
Ich lache. Gurrend, und wenn ich lache, dann werden mein schmales Gesicht und die Augen kindlich rund. Ich lache aus Hilflosigkeit, weil mir seine Frage so absurd vorkommt. Was will dieser Mensch, der mich vor drei Minuten zum ersten Mal im Leben gesehen hat, von mir? Was soll ich für einen Job machen? Ich bin nicht wie meine Schwester, die sich zu Hause durchgesetzt und eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin gemacht hat.
Ich habe nichts gelernt, sondern die Schule abgebrochen. Weil ich ja sowieso heiraten würde, weiter dachte ich nicht. Ich habe keine Ausbildung. Es sei denn, kleine Geschwister wickeln, Putzen und das Essen auf den Tisch stellen sei eine Ausbildung. Meine jüngeren Geschwister freuten sich über ihre große Zuhause-Schwester. Aber welche Arbeit kann ich wohl auf dem Sozialamt machen?
Wir waren dreizehn Geschwister, vier davon sind als Kleinkinder gestorben. Vier Mädchen und fünf Brüder blieben übrig, ich irgendwo in der Mitte. Wenn wir Mädchen selbständig zur Schule gingen, wurde das akzeptiert, aber keiner guckte danach, ob wir morgens aufstanden, uns anzogen, frühstückten, vielleicht sogar ein Brot für die Pause einsteckten. Wenn wir gingen, gut, wenn nicht, auch.
Mit Zahlen und Buchstaben tat ich mich schwer. Vielleicht hatte ich Angst davor, vielleicht war ich zu verträumt, vielleicht auch nur zu aufgeregt, auf jeden Fall blieb nur wenig davon hängen. Wenn ich von den Lehrern in die hinterste Bank gesetzt wurde oder der Vater den Gartenschlauch holte, um mich durchzutrimmen, weil ich schlechte Noten nach Hause gebracht hatte, hasste ich die Schule. Es war schlimm, aber das Schlimmste daran war, dass es eigentlich keinen interessierte, was und ob ich etwas lernte. Auch mich selbst nicht, irgendwann bin ich morgens nicht mehr aufgestanden und nicht mehr zur Schule gegangen.
Die Großmutter, die mit im Haus wohnte, war sowieso immer gegen Schule gewesen. »Für Mädchen«, pflegte sie zu sagen, »die reine Geldverschwendung. Eine Frau geht durch die Haustür nur zu ihrem Mann oder ins Grab.« Die Frau gehört ins Haus, nirgendwohin sonst, so hatte sie selbst gelebt, so lebte ihre Tochter, und so sollten auch ihre Enkeltöchter leben. Mädchen müssen früh begreifen, dass sie nichts sind. Sie lernen Putzen statt Lesen und Schreiben, kochen Tee und servieren ihn den Männern, die Karten spielen. Ihre Aufgabe ist es, einen Mann zu heiraten und ihn zufriedenzustellen. Der Mann will Söhne, die gebiert sie ihm und versorgt alle.
»Na ja, eine Arbeit wäre nicht schlecht«, druckse ich nun herum und komme mir dabei sonderbar vor, »aber nicht unbedingt für eine wie mich. Ich habe die Schule abgebrochen, bin einfach nur zu Hause.« Mahmoud schaut mich nicht an, wahrscheinlich hat er selten so eine dumme Antwort bekommen, ich muss es erklären: »Aber bitte«, sage ich, »ein Job würde mir schon gefallen. Wenn Sie etwas für mich haben, gerne.«
Da schlendert der Sozialbeamte die paar Schritte bis zum Fenster und stellt sich direkt neben mich. Mit beiden Händen greift er nach der Kurbel der Jalousie und beginnt sie hochzudrehen. Es klingt blechern, wenn die Lamellen, die auf Fäden aufgezogen sind, aneinanderstoßen. Darauf achtet Mahmoud aber nicht, sondern richtet seinen Blick direkt auf mich. »Jahaaaaaa?«, sagt er langsam und breitet sein eigenartiges Ja wie ein Netz über mir aus. Gleichzeitig mustert er mich von oben bis unten, nicht unangenehm, eher großspurig. »Das lässt sich wohl machen«, sagt er und wiederholt noch einmal: »Jahaaa, warum nicht? Ich hab einen sehr guten Job für dich, genau das Richtige. Die Arbeit passt, das kann ich mir gut vorstellen.«
Ich schlucke und geniere mich, was will er von mir?, denke ich, spreche es aber nicht aus. Trotzdem muss ich irgendwie reagieren: »Okay, können Sie meiner Schwester bitte sagen, wann und wie und was«, sage ich. Ich bin nicht verwundert, nur aufgeregt. Ich frage auch nicht, was jeder andere an meiner Stelle tun würde: Was für ein Job? Warum ausgerechnet ich? Kein Wort. Es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen, Fragen zu stellen. Das habe ich nie gelernt, aber hören konnte ich und gehorchen. Und wenn er sagt, ein Job, dann hat er einen Job für mich, fini. Soll er mir doch etwas anbieten, es liegt an meinem Vater zu entscheiden, ob ich arbeiten darf oder nicht.
Für Mahmoud ist die Sache damit offensichtlich erledigt, er lässt die Jalousie offen und steckt die Kurbel wieder in ihre Halterung. Er geht zum Schreibtisch, von wo aus Fatma die Szene verfolgt hat, greift zum Telefon, wählt die Nummer der Kantine, »Bitte zwei Orangina auf Zimmer 7«, wünscht uns einen guten Tag und verschwindet. Fatma und ich sehen uns an: »Was will er von dir?«, fragt meine Schwester. Ich zucke mit den Achseln und drehe mich ein paar Mal auf dem Absatz hin und her. Wir können uns keinen Reim darauf machen, was der Mann mit seinem »passenden Job« meinte. Doch Frauen fragen nicht, also trinken wir unsere Orangina und machen uns auf den Heimweg.
Drei Tage später stand Mahmoud mit seinem Bruder Abdullah vor unserem Hoftor am weißen Haus am Rand unserer kleinen Stadt. Eine gesichtslose Provinzhauptstadt in Zentraltunesien, in der die französischen Kolonialherren vor über 100 Jahren eine Garnison angesiedelt hatten. In den 70er Jahren bauten Investoren aus dem Ausland eine kleine Fabrik für die Verarbeitung von Espertogras. Das war alles. Andere Verdienstmöglichkeiten gab es nicht für die Nomaden, die aus der Umgebung hierher gezogen waren. Abdullah hatte zu dieser Zeit schon längst sein Glück in Europa versucht. Über Frankreich war er nach Deutschland gekommen, wo er bei einer Hamburger Baufirma Arbeit gefunden hatte.
Die Brüder hatten sich nicht angemeldet. Es war Spätnachmittag, als sie klingelten. Sie waren mit dem Auto gekommen. Mit Abdullahs Auto, einem roten mit fremdem Nummernschild, daran war gleich zu erkennen, dass er aus dem Ausland kam. Ich war nicht da. Meine älteste Schwester hatte eine Fehlgeburt gehabt, sie lag im Bett bei sich zu Hause, ich kümmerte mich um ihre älteren Kinder und den Haushalt. Ein guter Anlass, um für ein paar Stunden von zu Hause abzuhauen. Ich brachte ihr Essen, wusch die Wäsche und kehrte erst abends zurück.
Mein Vater war da, auch meine jüngeren Geschwister, die neugierig waren und alles mitbekamen. Noch am gleichen Abend erzählte mir meine kleine Schwester haarklein vom Besuch der Brüder. Der Vater hatte ihnen das große Tor in der Mauer, die um Garten und Haus gezogen war, geöffnet und sie hereingebeten. Auf der mit Platten ausgelegten Terrasse vor der Haustür blieben sie stehen. Vater wusste sofort, wer Mahmoud war, unter Beamten in so einer kleinen Stadt kennt man sich. »Was wollt ihr hier?«, fragte er. Da hat Mahmoud gar nicht lange drum herum- geredet, sondern gleich die Karten auf den Tisch gelegt: Man sei wegen Esma gekommen.
»Abdullah. Er ist mein kleiner Bruder und noch nicht verheiratet. Wir suchen dringend eine Frau für ihn«, sagte er. »Dringend, am besten noch, solange er auf Urlaub in Tunesien ist.« »Ich arbeite in Deutschland«, mischte sich Abdullah ein, »seit sieben Jahren schon.« Er habe noch keine Gelegenheit gehabt, eine Frau zu suchen, weil er Tag und Nacht schufte. »Außerdem gibt es in Deutschland nicht viele tunesische Frauen. Eine kleine Auswahl nur, deshalb will ich lieber eine von hier heiraten.«
Abdullah sagte, er sei nach Tunesien zurückgekehrt, um sich nach einer passenden Frau umzusehen. Er sagte nicht, dass seine Familie ihn unter Druck gesetzt hatte, weil er schon über 25 Jahre alt war. Und er sagte auch nicht, dass er in Deutschland eine Freundin mit Kind hatte.
Wie sein Vater schon und auch der Großvater wolle er die Verantwortung für eine Frau und Kinder übernehmen und für sie sorgen, sagte er nun dem Vater. »Mein Bruder erzählte mir von Ihrer Tochter, wie heißt sie …?« – »Esma.« – »Mein Bruder sagt, sie sei schön und eine gute Hausfrau?« – »Ja.« – »Das könnte passen.« – »Kommt darauf an.« – »Von der ganzen Familie habe ich nur Gutes gehört.«
Nachdem Abdullah einen ersten Redeschwall schon im Garten losgeworden war, blickte er erwartungsvoll auf meinen Vater. Ein stattlicher, respekteinflößender Mann, kein einziges graues Haar, seine Uniform mit den silbernen Knöpfen und den Schulterklappen zog er auch im Haus nur selten aus. Nun bat er beide Brüder hinein ins Wohnzimmer. Die Fenster standen weit offen, nachdem sie wegen der Hitze fast den ganzen Tag über verschlossen gewesen waren.
Man zog die Schuhe aus und setzte sich an ein kleines Tischchen in der Ecke, Teppiche dämpften die Stimmen der Männer. »Wegen Esma«, rief der Vater zu seiner Frau hinaus in die Küche und dass sie Tee bereiten solle. Er war nicht überrascht, er hatte Routine mit jungen Männern, die seinen Töchtern den Hof machten. Ständig kamen welche und brachten Geschenke, irgendwelche Leckereien, einer war gleich mit einem ganzen Schaf gekommen.
Alle wegen mir. Um die Hand meiner zwei Jahre älteren Schwester Fatma wollte lange keiner anhalten. Doch vor ein paar Monaten hatte man endlich ihre Hochzeit gefeiert, das war nun erledigt. Von uns vier Schwestern wurde am meisten um mich geworben. Ich fühlte mich gut dabei, es war ein tolles Gefühl, so begehrt zu werden. Doch mein Vater fragte sich oft, was die Männer alle an mir fanden. Eigentlich hätte man nicht lange überlegen müssen, um darauf zu kommen. Mein Reiz lag auf der Hand: Ich war ein traditionell erzogenes tunesisches Mädchen, unselbständig, gehorsam, dumm, naiv, aber hübsch wie ein Püppchen und außerdem eine gute Hausfrau. Und: Ich hatte keine Flausen im Kopf wie meine ältere Schwester, die unbedingt einen Beruf lernen wollte. Viele wollten mich heiraten, das reichte mir.
Über zwei, drei Jahre ging das schon so. Alle paar Wochen kam ein anderer. Jedes Mal hatte der Vater nein gesagt, nachdem die Herren ihre Geschenke verteilt hatten, die sie natürlich nicht wieder mitnehmen konnten, das wäre gegen die Höflichkeit gewesen. Nein, er könne mich nicht verheiraten, solange meine ältere Schwester nicht unter der Haube war. So lautete die Regel. Ich war noch nicht an der Reihe. Und für Fatma fand sich keiner. Als vor geraumer Zeit wieder einer anklopfte, um nach mir zu fragen, ist es dem Vater zu bunt geworden, und er hat kurzen Prozess gemacht: »Wenn du willst, bekommst du die ältere Schwester. Fatma oder keine.« Ich weiß nicht, warum, aber der Mann ließ sich darauf ein. Er war viel älter, vielleicht hatte er Angst, gar keine Frau mehr abzubekommen. Meine Schwester ist nicht glücklich geworden mit ihm. Doch nun war der Weg frei zu mir.
Nicht ein einziges Mal hatte ich daran gedacht, dass mein Vater irgendwann einmal ja sagen könnte. Wenn die Jungen anmarschierten, fühlte ich mich wie die Prinzessin im Märchen. Sollten sie ruhig mit ihren Geschenken anrücken und mutige Taten vollbringen, am Ende würden sie doch wieder abgewiesen. Jedes Mal habe ich mich diebisch gefreut, diese Freierei brachte Abwechslung in mein Leben. Ich war kindlich und wusste nichts von Männern, aber das spielte auch keine Rolle.
Um den einen oder anderen Heiratskandidaten hatte es dem Vater sogar leidgetan, sie gefielen ihm. Ob sie mir gefielen? – Fragte er nie. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, mich etwas zu fragen. Auch nicht, ob ich überhaupt heiraten wolle. Als Vater war es seine Pflicht, seine Töchter so gut wie möglich zu versorgen, eine nach der anderen. Er wollte keine Geschäfte machen, aber seine Töchter waren jung, hübsch, konnten kochen und waschen und Kinder kriegen. Das reichte.
Fatma hatte seine Verheiratungspläne lange genug blockiert. Jetzt war es so weit, und ich war dran. Ob ich eigene Wünsche und Vorstellungen hatte, interessierte ihn nicht. Nur eines wusste er, dieses Mal würde er nicht sofort nein sagen. Er wollte den Bewerber genau prüfen und dann spontan entscheiden. Abdullah? Was der Vater sah, war nicht schlecht, das ausländische Auto beeindruckte ihn. Abdullah hatte einen traditionellen Familiensinn und offensichtlich genug Geld. Auch wenn ausgerechnet er keine Geschenke mitgebracht hatte.
»Wie alt bist du?« – »27.« – »Wo arbeitest du?« – »Bei einer Fertighausbau-Firma.« – »Was tust du da?« – »Beton gießen im Schichtdienst, manchmal Fliesen legen.« – »Bist du in der Lage, für eine Frau und eine Familie zu sorgen?« – »Ich verdiene zehnmal so viele Dinare im Monat wie mein Bruder auf dem Sozialamt.« – »Hast du ein Bankkonto?« – »Eines in Deutschland und eines in Tunesien.« – »Hast du ein Haus gebaut?« – »Sobald ich einen Ehevertrag in der Tasche habe, werde ich in der besten Straße von Hamburg eine Vierzimmerwohnung mit Küche und Bad mieten.« – »Wirst du deine Kinder in Deutschland muslimisch erziehen?« – »Ja, ich will eine anständige Familie gründen.«
Das Frage-und-Antwort-Spiel zwischen dem potenziellen Bräutigam und seinem Schwiegervater gefiel den Männern. Sie tranken Tee, tunkten gebackenes Fladenbrot in Olivenöl und wischten ihre Finger an weißen Servietten ab. Immer wenn es darum ging, seinen Bruder zu loben, meldete sich Mahmoud zu Wort: Abdullah würde viel Geld nach Hause schicken und nie ohne ein Bündel Scheine in der Hosentasche kommen. Seit er fortgezogen sei, unterstütze er die Familie in Tunesien. Man werde demnächst anfangen, ein Haus von seinem Geld zu bauen.
»Ich habe Esma im Büro ihrer Schwester auf dem Sozialamt gesehen und sofort gewusst, dass sie die Richtige für meinen Bruder ist.« – »Warum?« – »Weil sie so zahm ist.« Abdullah nickte dazu und spielte mit seiner vergoldeten Uhr, die er vom Handgelenk gezogen und auf den Tisch gelegt hatte. Überhaupt spielte er ganz den Weltläufigen. Um seinen Hals hing ein feines goldenes Kettchen, ein europäisches Hemd mit großen orange- und braunfarbenen Kringeln trug er und ein blaues Sakko, das ihm fast bis an die Kniekehlen reichte.
»Richtest du die Hochzeit aus?«, fragte der Vater nach einer Stunde. »Ja.« Kurz und klar. Dann klopften sich die Männer auf die Schultern. »Ich geb sie dir als Ehefrau, aber behandle sie gut! Wenn du sie nicht mehr haben willst, dann bring sie mir wieder.« Und nach einer Pause: »Aber gesund.« – »Ich werde sie nicht wieder hergeben.« – »Es geht mir nicht um Geld und Geschäfte, ich will meine Tochter in gute Hände geben. Bei meiner Ehre.« – »Was aus deinem Haus kommt, ist wertvoller als alle Schätze der Welt, ich werde sie dir nicht wiederbringen«, entgegnete Abdullah. – »Wenn sie nicht gut genug für dich ist, nehme ich sie wieder«, wiederholte der Vater.
Es war beschlossen, man rief die Mutter aus der Küche, sie brachte neuen Tee, schwieg und reichte den beiden jungen Männern die Hand. Abdullah stieß mit seinem zukünftigen Schwiegervater an, ohne dass er seine Braut je gesehen hatte. »Vater«, sagte er zu ihm und beugte sich über das Tischchen. »In zehn Tagen muss ich zurück nach Hamburg, lass uns gleich die Termine ausmachen.« Und dann erklärte er dem Vater etwas, was ich lange nicht verstanden habe: Dass er den Ehevertrag aus finanziellen Überlegungen heraus sofort abschließen wolle. Mit den entsprechenden Papieren im Gepäck würde er in Deutschland weniger Steuern bezahlen müssen.
Abdullah drängte darauf, wenigstens die standesamtliche Hochzeit noch in derselben Woche zu arrangieren. Je schneller, desto besser. Ohne viel Tamtam, die echte Hochzeit habe ja dann Zeit. Es war Montag, man würde einen Notar für Samstag bestellen und dann im kleinen Kreis, mit seiner und meiner Familie, die Verträge unterschreiben und feiern. »In Deutschland will ich dann die notwendigen Papiere für Esma besorgen, Aufenthaltsbewilligung und Ausweis.« – »Und die echte Hochzeitsfeier?«, fragte der Vater. »Machen wir nächstes Jahr im Sommer, wenn ich wieder auf Urlaub da bin«, erwiderte Abdullah, »dann haben wir genug Zeit für eine richtige Hochzeit.«
Traditionell wird der Ehevertrag in Tunesien am ersten Tag einer siebentägigen Hochzeitsfeier unterschrieben, aber Abdullah wollte den notariellen Akt von den großen religiösen Hochzeitsfeierlichkeiten trennen. In den Ohren meines Vaters hörte sich dieser Plan vernünftig und durchdacht an. Mehr noch, was für einen klugen Schwiegersohn er doch bekam! Zusammen mit Esma würde er es weit bringen. Vater war zufrieden mit seiner Wahl. Am frühen Abend ging er los, er kannte einen Notar in der Stadt, den wollte er wegen Samstag fragen.
Als ich nach Hause kam, war alles geregelt. Ich hatte einen Bräutigam, der schon wieder weg war. Weder hatte ich ihn noch er mich gesehen. Keiner hatte daran gedacht, mich zu holen, solange er noch da war. Warum auch? Der ganze Handel ging mich nichts an, ich wurde nicht gefragt und hatte auch nichts zu sagen.
Ich traf den Vater nicht an, er war noch auf seiner Polizeiwache eine Straße weiter. Dafür kam mir die kleine Schwester schon im Garten entgegen. Tänzelnd: »Weißt du waaas? Weißt du was? Nein, du weißt nichts, gar nichts«, überfiel sie mich. »Heute war jemand für dich da.« – »Wer?« – »Er hat um deine Hand angehalten und will dich sofort heiraten.« – »Hat er etwas mitgebracht?« Das war das Einzige, woran ich denken konnte: »Schade, dass ich ihn verpasst habe.« Hochzeit und Ehe kamen in meinem Kopf nicht vor, der Vater hatte immer nein gesagt, warum sollte er dieses Mal etwas anderes sagen? »Nein, aber du hast Glück. Er wird dir bestimmt noch viele Dinge mitbringen«, plapperte die Schwester wie ein Wasserfall, indem sie um mich herumtanzte. »Er sieht toll aus und fährt ein schönes Auto.« – »Ich will ihn sehen.« – »Zu spät, Vater hat schon ja gesagt.«
»Du hast Glück« – ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, was meine Schwester gerade gesagt hatte. »Vater hat ja gesagt«, was bedeutete das? Dass ich heiraten würde? »Klar«, rief die Schwester. »Nein, nein«, lachte ich, gurgelnd wie immer, wenn ich unsicher war. »Aus dem Ausland, er arbeitet im Ausland«, hörte ich die Schwester. »Du hast Glück, dein Mann wird dich mit nach Deutschland nehmen.« »Ausland? Wie? Wo?«, fragte ich. »Nein, das will ich nicht. Niemals.« Was sollte das heißen? Dass ich von hier wegmusste? Ich stand in der Haustür, es traf mich wie ein Stromschlag. Unwillkürlich wich ich zurück, alles fühlte sich taub an.
Unser Vater war als Polizist oft von einer Dienststelle zur nächsten versetzt worden, und jedes Mal musste die Familie mit. Wir sind dauernd umgezogen, aber im Grunde genommen habe ich nie etwas von einem Ort oder einer Stadt mitbekommen. Seit vielen Jahren lebten wir nun in dieser kleinen Stadt in Zentraltunesien. Hier hatte ich mich eingelebt. Wollte mich dieser unbekannte Mann tatsächlich in ein Land mitnehmen, von dem ich bisher nicht einmal wusste, dass es existiert? Deutschland, wo war das, was war das? »Du hättest sein Auto sehen sollen, total chic und rot«, rief die Schwester. »Und der Mann erst. Er ist groß, schlank. Grüne Augen hat er.«
Ich war schockiert und schob sie ins Haus. Aber das war nun wirklich etwas Besonderes. Alle haben schwarze Haare und dunkle Augen, aber blaue oder grüne, das sieht man selten. Genauso wenig wie blonde Frauen. Aber eigentlich interessierte mich das alles überhaupt nicht. Ich war zu gelähmt, um auch nur einen einzigen Gedanken fassen zu können. Angst stieg in mir hoch, ich ging in die Küche, um mir heiße Milch mit Honig zu kochen. Mir war kalt, ich musste mich bewegen. »Er kommt wieder«, redete meine Schwester weiter. »Wann?« Wusste sie nicht. Ich hatte einen trockenen Mund, ich konnte nichts sagen und hätte doch gerne tausend Fragen gestellt. Aber meine Schwester verstand nicht, warum ich mich nicht freute, und ging zu Bett.
Auch meine Mutter hatte sich schon schlafen gelegt. Ich wärmte mir meine klammen Finger an der heißen Milchtasse und setzte mich auf eine Matratze im Wohnzimmer. Hier würde ich auf meinen Vater warten. Den Fernseher anstellen, einen Film ansehen. Aber nein, das war nicht erlaubt. Wenn mein Vater mich beim Fernsehen erwischte, würde er sofort anfangen zu schimpfen. Also nahm ich mein Strickzeug, wenigstens Stricken hatte ich auf einer Haushaltsschule gelernt, und verharrte, ohne eine Masche abzustricken. Ich musste mit meinem Vater sprechen. Ich stand auf, legte Holz im Küchenherd nach, wusch mir die Hände und wartete.
Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich: Ich will nicht weg von hier, ich kenne nichts anderes. Wo würde ich wohnen, was essen? Ist es kalt oder warm in diesem Deutschland, gibt es wilde Tiere dort, Schlangen, Vipern? Ich kenne keinen, der je dort gewesen ist. Aber ich habe gehört, dass man da Geld verdienen kann, viel Geld. Und mein zukünftiger Ehemann? Was ist er überhaupt für einer?
Als der Vater dann endlich nach Hause kam, beachtete er mich gar nicht. Wie immer hielt ich den Blick gesenkt, während ich ihm die Jacke abnahm und seine Schuhe wegräumte. Er schaltete den Fernseher ein und ließ sich aufs Sofa fallen, auf dem sich ein Berg aus Kissen türmte, auch ein Kamel aus braunem Plüsch, das mein Bruder einmal aus der Hauptstadt mitgebracht hatte. In mir brodelte es, doch ich traute mich nicht, ihn zu fragen: Baba, was hast du mir für einen Ehemann ausgesucht? Stattdessen holte ich Wasser, um seine Hände und Füße zu reinigen. Warum sagte er nichts? Ich trocknete seine Füße ab, blickte hoch zu ihm, doch er starrte in den Fernseher, wo er die letzten Nachrichten des Tages verfolgte. Ich war in der Küche, um ihm einen Teller Couscous mit Gemüse zu holen, als Vater nach mir rief. Endlich! Was wird er mir erzählen? Kann ich ihm sagen, dass ich gar nicht heiraten will? Einen Mann aus Deutschland? Die meisten Landsleute fanden Arbeit in Frankreich, warum Abdullah nicht? Ich schnitt Brot, es bröselte, goss Buttermilch in ein Glas, trug alles auf einem Tablett ins Wohnzimmer und stellte es auf das niedrige Tischchen vor den Vater. Und wartete. Doch er tat, als ob nichts gewesen sei. Was ging um Himmels willen in seinem Kopf vor? Wollte er nicht mit mir sprechen?.
Ich lehnte an unserer großen braunen Kommode mit dem guten Geschirr, auf der die ganzen gerahmten Familienfotos standen. Die Fotos der verstorbenen Großeltern, die Hochzeitsbilder meiner älteren Schwestern und Brüder, die ersten Enkelkinder, krabbelnd und mit Schleifchen im Haar. Dazwischen eine blau-gelbe Porzellanvase mit rosa Plastiknelken. Meine Beine waren schwer, ich musste mich setzen. Dem Vater gegenüber, der schweigend seinen Eintopf löffelte und seine Buttermilch trank, wie er es immer tat, bevor er ins Bett ging. Er schaute nicht auf, der Fernseher lief, ich sollte ihn jetzt fragen: »Vater, was ist das für ein Mann, den du für mich ausgesucht hast?« Wollte ihn fragen: »Muss ich jetzt wirklich heiraten?« Aber nein, das hätte ich nicht fragen können. In meinem Innern gärte es. Sollte ich doch? Ihn fragen, warum er dieses Mal »Ja« gesagt hatte, warum ausgerechnet bei diesem Mann? Bei einem, den ich überhaupt nicht kannte und meine Familie auch nicht? Warum hatte mein Vater mich einem Mann versprochen, der mich weg aus der Stadt und weg von den Eltern bringen würde?
Ich beobachtete ihn, ohne ihm in die Augen zu sehen, jede seiner Bewegungen. Wie gerade er seinen Arm mit dem Glas von sich hielt. Ich hörte, wie er schluckte, und roch die buttrige Milch. Als der Vater ausgetrunken hatte und mit seiner linken Hand über das nach hinten gekämmte Haar fuhr, meinte ich die Pomade auf meinen Fingern zu spüren. Ich wollte ihn fragen und Antworten hören, aber es kam kein Laut über meine Lippen. Ich wusste, dass er, wenn er spät von der Arbeit heimkam, seine Ruhe haben wollte. Bloß nicht stören, aber heute, an diesem Tag, an dem er mich versprochen hatte, war das nicht eine Ausnahme? Doch der Vater sagte nichts, und ich hielt meine Fragen krampfhaft zurück. Das tat weh, denn je mehr ich die Fragen verdrängte, desto mehr blähten sie sich auf. Bis sie mich schmerzten, wie Seitenstechen, weil ich nicht richtig atmete.
Ich konnte meinem Vater so spät am Abend nicht mit Fragen kommen, als Mädchen schon gar nicht. Wie oft hatte ich ihn explodieren sehen, wie oft hatte er mir dann mit seiner breiten Hand ins Gesicht geschlagen oder mir seinen Stock über den Rücken gezogen. Aus nichtigen Anlässen. Manchmal griff er schon nach dem Stock, nur weil ich nicht rechtzeitig Tee nachgegossen hatte. Mein Vater war streng. »Aber gerecht«, pflegte er zu sagen, und dass die Strafe nur zu meinem Besten sei.
Wenn ich ihn jetzt belästigen würde, würde er mich für undankbar halten. Ich saß ihm gegenüber, sah, wie seine Lider zufielen, und sah, wie sich seine buschigen Brauen verzogen, wenn er die Augen langsam wieder aufschlug. Bis er seine Hände tief im Schoß versenkte, ein wenig nach vorne kippte und einschlief.
Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Als ich morgens in die Küche schlich, war der Vater schon weg. Die Mutter saß mit meiner frisch verheirateten Schwester am Küchentisch, über den eine Wachstuchtischdecke mit bunten Blümchen gespannt war. Die Küche hatte nur ein winziges Fenster, die nackte Birne über der Spüle strahlte an, was direkt unter ihr war, alles andere verlief sich im öden Schummerlicht. Sie tranken Kaffee, Fatma hatte süßen Kuchen mitgebracht. Ich zog einen Holzhocker, der in der Waschecke stand, dazu und setzte mich. »Ist gut, probier«, sagte die Mutter und schob mir ein süßes Teil hin. Aber ich wollte nicht, keinen Bissen. Die beiden sprachen von Fatmas Arbeit, ich legte die Unterarme auf das Plastik und malte mit den Fingerkuppen kleine Kreisspiralen darauf. Bis die Frage zäh aus mir herausquoll: »Was habt ihr mir für einen Mann ausgesucht, Mutter?« Die Mutter hustete und wackelte ein bisschen mit dem Kopf: »Es gibt keinen Besseren für dich. Der Vater bestimmt. Richte dich her und sei höflich zu dem Mann, wenn er wiederkommt. Damit er sieht, was für eine schöne Frau du bist.« – »Ja, aber wie ist er? Freundlich, nett? Was ist das für ein Mann?« Darauf erhielt ich keine Antwort, die Mutter zuckte mit den Schultern, als wolle sie sagen: Es ist beschlossen, egal, ob der Mann dir gefällt oder nicht. Ich hatte auch keine Wahl damals, warum sollte es für dich anders sein? Du bist dran.
Langsam, sehr langsam begann ich zu begreifen, dass es nun keine Gründe und keine Argumente mehr gab, einen Bräutigam abzulehnen. Ich war diesem Mann versprochen. Einem Fremden, von dem ich nichts wusste, außer dass er mich irgendwann in ein fremdes Land mitnehmen würde.
Wenn mir der Vater wenigstens einen ausgesucht hätte, den ich kannte. Einen aus der Familie, einen Cousin, warum nicht? Ich war bisher keinem Jungen wirklich näher gekommen. Das heißt nicht, dass ich nicht verliebt gewesen wäre. Zumindest eingebildet hatte ich mir das. In Wirklichkeit wusste ich natürlich gar nicht, was »verliebt sein« heißt. Zwölf war ich, als ich manchmal mit meinen Geschwistern und den Cousins und Cousinen heimlich loszog vor die Stadt, um auf dem staubigen Gelände der antiken römischen Ruinen zu spielen. Damals gab es noch keine Zäune und keine Wächter. Wir sind auf den Stufen des Amphitheaters umhergehüpft, immer zu zweit, und haben dann zwischen Kakteen, Ginsterbüschen und irgendwelchem verrosteten Schrott, den die Leute dort abluden, Verstecken gespielt: Mein zwei Jahre älterer Cousin Ahmed immer dicht auf meinen Fersen, wir ducken uns hinter Mauerreste und Disteln, und einmal quetschen wir uns sogar in ein öliges Blechfass. Als ich spüre, wie seine Haut an meiner Haut klebt, wird mir warm. Ich weiß genau, dass das nicht von der Sonne kommt. Abends meine ich seine Haut immer noch zu spüren, kühl und glatt und schön. Und dann fällt mir ein, dass wir beide schon als kleine Kinder Braut und Bräutigam gespielt haben.
Verliebt sein, dachte ich damals, sei etwas zwischen mir und meinen Gefühlen. Ich hatte keinen Einfluss darauf, genauso wenig wie darauf, dass mir Schokolade besser schmeckte als Brot. Ich liebte Schokolade. Natürlich war es der Traum aller Mädchen, sich in einen Mann zu verlieben, aber heiraten, das war etwas ganz anderes. Verliebt sein, ich wusste es eigentlich, ist ein dummer Traum, ebenso wie der vom reichen Märchenprinzen, ganz und gar blödsinnig, und doch träumten wir Mädchen ihn.
Mädchen werden von Vätern und Onkeln verheiratet, für manche wird der Handel schon bei der Geburt gemacht, Mädchen können ihren Mann nicht frei aussuchen. Wie auch, woran sollten sie sich orientieren, was sind die Kriterien für einen guten Mann? Das Kribbeln im Bauch? Wohl kaum, Mädchen wie ich haben nichts zu fühlen, sondern lassen über sich ergehen. Mädchen denken nicht, sondern gehorchen, Mädchen entscheiden nicht, sondern nehmen, was kommt. Mädchen tragen auch keine Verantwortung, sondern ertragen Einsamkeit, Mädchen planen nicht, sondern leben in den Tag hinein wie die Tiere.
Ich hatte noch nie eine eigene Entscheidung getroffen, nicht einmal selbständig einkaufen war ich gewesen. Der Vater trug die Verantwortung, er sorgte für mich, und nun hatte er mir einen Mann besorgt. Ich hatte Angst. »Bitte, sag dem Vater, dass ich nicht möchte«, beschwor ich meine große Schwester, die sich die letzten Kuchenreste in den Mund schob. Fatma war als verheiratete Frau eine vollwertige Person und hatte mehr Rechte. Sie hätte beim Vater ein Wort für mich einlegen können, wenn sie gewollt hätte. Aber das wollte sie nicht, im Gegenteil. »Willst wohl alles besser wissen«, schimpfte sie. »Der Vater sucht dir einen tollen Mann aus, und was machst du? Anstatt ihm dankbar zu sein, beklagst du dich. Du spielst dich auf wie eine Prinzessin, keiner ist dir gut genug. Willst du dem Vater ewig auf der Tasche liegen?« – »Wenn ich nur nicht ins Ausland müsste.« Ich stand auf und ging in der Küche auf und ab, es schnürte mir die Kehle zusammen. Was kam da auf mich zu? Ich würde die Stadt und meine Familie verlassen müssen und womöglich nur noch selten zurück nach Hause kommen. Ich würde allein sein mit diesem Fremden, entsetzlich allein. »Sei doch froh«, sagte die Schwester, »dass du aus diesem Hundeleben fortkommst.« Fatma war neidisch auf mich. So einen richtigen Kerl wie Abdullah, mit Auto und Goldkettchen, hätte sie auch gerne gehabt. Nicht den, den der Vater ihr ausgesucht hatte.
»Du wirst dich an ihn gewöhnen. Heiraten muss jede von uns.« – »Vielleicht.« – »Ich musste auch. Und es geht mir nicht schlecht.« – »Ich weiß nicht, aber ich kenne diesen, wie heißt er eigentlich, doch gar nicht. Er ist ein Fremder.« – »Nein, nicht ganz fremd. Es ist Abdullah, der Bruder von meinem Chef Mahmoud. Mein Chef, dem du kürzlich im Büro begegnet bist.« – »Wie bitte, der Bruder?« – »Ja, weißt du nicht mehr? Mahmoud hatte doch von einem Job gesprochen, den er für dich hat. Wir wussten beide nicht, was er meinte.« Jetzt verschlug es mir tatsächlich die Sprache. Sollte ich lachen oder weinen? Das war’s also, hier war die Antwort auf seine rätselhafte Frage: »Willst du einen Job?«
Der Mann, dem ich versprochen war, war mein Job! Unglaublich – was ist das für ein Spiel? Überhaupt nicht witzig fand ich das. Wie naiv war ich bloß gewesen, zu glauben, dass Mahmoud mir einen Arbeitsplatz beim Sozialamt verschaffen wollte? Einfach so, dachte ich. Aber nein: Abdullah ist mein Job. Wie eine stumme Dienerin saß meine Mutter da und hörte zu, sagte aber nichts mehr.