Kapitel 4

Der Tag nach Caseys Verhaftung war Labor Day, der Feiertag am ersten Montag im September. Ich wollte eigentlich ausschlafen. Nicht nur weil es der letzte Tag der Sommerferien war, sondern weil ich zu einer völlig blödsinnigen Zeit Rad gefahren war. Aber die Polizei musste ja schon vor acht bei uns klingeln.

Wir wohnten in einem dieser kleinen, kompakten Häuser im Ranch-Stil. Casey auch. Mein Fenster lag direkt neben der Eingangstür, sodass ich hören konnte, wie Mom aufmachte.

»Ich würde gern mit Ihrer Tochter Jessica sprechen«, sagte eine Frauenstimme. »Ist sie da?«

Die Stimme kannte ich. Sie gehörte Detective Ann Bowen, der leitenden Ermittlerin bei Stephanies letztem Verschwinden.

»Was wollen Sie denn von Jude?«, fragte sich meine Mutter ungehalten. »Sie sollten lieber nach dem Mörder der Kleinen suchen, denn das Mädchen, das sie da verhaftet haben, war es auf gar keinen Fall!«

Dann hörte ich die ruhige und ausdruckslose Stimme meines Vaters.

»Kommen Sie doch bitte rein«, sagte er. »Ich hole Jess.«

Als Dad an meine Tür klopfte, sprang ich auf und rief, dass ich gleich komme. Ich schoss in meine Klamotten und raste ins Bad, um mir kurz das Gesicht zu waschen und mich zu sammeln. Als ich aus dem Bad kam, hörte ich, wie sich Mom in der Küche mit der Polizistin unterhielt.

»Ihr Vater hat sie Jessica genannt, wegen Jessica Lang – seit Tootsie ist er ein großer Fan von ihr. Und ich habe Jude ausgesucht, nach dem Beatles-Song.« Als ich in die Küche kam, schenkte Mom gerade Kaffee ein. »Hier ist sie ja schon, meine Jude. Sie wird Ihnen bestimmt weiterhelfen, so gut sie kann. Casey White ist schließlich ihre beste Freundin.«

Mom kam auf mich zu und fing an, mir die Haare glatt zu streichen, aber ich duckte mich weg und setzte mich an den Tisch.

Detective Bowen nickte mir zur Begrüßung zu, doch der Blick, mit dem sie mich ansah, gefiel mir gar nicht.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen helfen soll«, sagte ich. »Ich war ja nicht dabei.«

»Ich habe nur ein, zwei Fragen«, entgegnete Detective Bowen.

»Ich kann Ihnen wirklich nichts mehr dazu sagen.«

»Sollte ich unseren Anwalt anrufen?«, schlug mein Vater vor. Typisch Dad, immer auf der Hut.

»Ihre Tochter wird im Mordfall Stephanie in keiner Weise verdächtigt«, antwortete Detective Bowen. »Es steht Ihnen natürlich frei, einen Anwalt hinzuzuziehen, aber das ist eigentlich nicht nötig. Jess, ich weiß, dass du deiner Freundin helfen willst. Es gibt da noch ein paar kleine Ungereimtheiten, die du uns vielleicht erklären könntest. Würdest du das für Casey tun?«

»Das wird sie auf jeden Fall«, antwortete meine Mutter.

Detective Bowen sah mich unverwandt an.

»Ja natürlich«, bestätigte ich. »Ich werde alles tun, um Casey zu helfen.«

»Gut.« Detective Bowen lächelte. Aber ihre Augen lächelten nicht mit. »Kannst du mir etwas über Caseys Verhältnis zu Stephanie sagen?«

Sie nahm ein Diktiergerät aus ihrer Tasche und stellte es vor mir auf den Tisch. Dann holte sie noch Stift und Notizbuch hervor.

»Sind Sie einverstanden, wenn ich aufnehme, was Ihre Tochter dazu sagt?«, fragte sie meine Eltern. »Mit den Jahren wird mein Gedächtnis immer schlechter.«

Mein Vater druckste erst ein bisschen herum, aber meine Mutter wischte seine Bedenken vom Tisch.

Sie holte dann auch noch meine Erlaubnis ein, und mir fiel kein Grund ein, der dagegen sprach.

»Also, das Verhältnis zwischen Casey und Stephanie«, wiederholte sie.

»Sie war Stephanies Gruppenleiterin im Camp.«

»Und?«

»Mehr nicht.«

»Und wie sind sie miteinander klargekommen?«

»Gut. Sie standen sich nicht sonderlich nahe, aber zu unserer Gruppe gehörten auch noch sieben andere Kinder. Wir mussten uns ja um alle kümmern.«

Detective Bowen klopfte mit ihrem Stift auf den Tisch. »Du sagst also, dass es keine besonderen Spannungen zwischen Casey und Stephanie gab?«

»Ja genau.«

»Hör mal, Jess. Du scheinst mir eine kluge junge Frau zu sein. Aber was du da gerade tust, ist sehr dumm von dir.«

»Es ist ja wohl nicht nötig …«, begann mein Vater.

Ich fing an zu zittern und schlug die Beine übereinander, damit es nicht so auffiel. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Sich der Polizei gegenüber in Widersprüche zu verwickeln. Das macht dich für mich nicht unbedingt vertrauenswürdiger.«

»Jude, wovon redet sie da?«, fragte meine Mutter.

Detective Bowen starrte mich immer noch an. Ihr Blick war noch bohrender als der meiner Mutter. Ich hielt ihm nicht stand.

»In unseren vorigen Gesprächen, direkt nachdem Stephanie als vermisst gemeldet wurde und auch während die Suche lief, hast du häufig davon gesprochen, wie anstrengend Stephanie war und dass sie gestohlen und die Gruppe gestört hat. Und jetzt erzählst du mir auf einmal, dass Stephanie eine Bilderbuch-Teilnehmerin war und Casey die beste Gruppenleiterin der Welt.«

»Casey war eine tolle Gruppenleiterin! Versuchen Sie mal, Kinder den ganzen Sommer ohne Fernseher, Computer oder Videospiele bei Laune zu halten. Casey kann das wirklich gut, viel besser als ich. Für mich ist das nur ein Job. Zwar grottenschlecht bezahlt, aber auf jeden Fall lustiger, als bei Burger World zu schuften. Für Casey war es mehr als nur Arbeit.«

»Inwiefern?«

»Es war …« Ich überlegte nach dem richtigen Wort. Das einzige, das mir einfiel, klang zwar irgendwie zu religiös, aber ich fand es trotzdem passend. »Es war wie eine Mission. Genauso wie Insekten für sie eine Mission sind. Sie konnte einem Kind, das schreckliche Angst vor kleinen Krabbelviechern hatte, diese Tierchen so nahebringen, dass es am Ende des Camps kein Problem mehr damit hatte, Spinnen und Käfer auf sich herumlaufen zu lassen. Sie sagt, dass Mädchen viel stärker werden, wenn sie mit solchen Krabbeltieren klarkommen, weil sie damit sämtliche Rollenklischees sprengen. Auch mit Schlangen. Fragen Sie sie ruhig. Sie kann das viel besser erklären als ich. Außerdem glaubt sie, dass das Camp etwas Magisches an sich hat und zehn Tage dort bei jedem Kind alles zum Guten verändern können.«

»Aber mit Stephanie hat das nicht funktioniert, oder?«, hakte Detective Bowen nach.

Nach kurzem Zögern antwortete ich: »Nein.«

»In diesem Fall war es doch so, dass es mit Stephanie im Laufe der Zeit immer schlimmer wurde, richtig?«

»Casey hat sich solche Mühe gegeben!« Plötzlich kamen mir fast die Tränen. Ich versuchte, sie so sehr zu unterdrücken, dass mir das Gesicht wehtat.

»Jemand so Engagiertes wie Casey gibt sich immer Mühe«, sagte Detective Bowen. »Sie hat bestimmt nichts unversucht gelassen.«

»Casey White ist ein ganz besonderes Mädchen«, warf Mom ein. »Diszipliniert. Engagiert. Grundanständig. Und wirklich ausgesprochen sympathisch. Wussten Sie, dass man ihre Bewerbung angenommen hat, im Dezember an einer Exkursion nach Lord Howe Island vor der australischen Küste teilzunehmen? Ihre Familie ist nicht gerade reich. Die Reisekosten muss sie selber tragen. Sie hätte sich für die Sommerferien auch einen besser bezahlten Job suchen können – jedes Geschäft hier hätte sie mit Kusshand genommen. Aber sie hatte schon bei Ten Willows zugesagt. ›Ich such mir einfach im neuen Schuljahr ’nen Nachmittagsjob‹, hat sie zu mir gesagt. Sie ist sich wirklich nicht zu schade, sich die Finger schmutzig zu machen!«

Ich wollte, dass Mom aufhörte. Ihre Vorträge über die ach so fleißige Casey hatte ich gründlich satt.

Detective Bowen goss sich noch einen Schluck Milch in ihren Kaffeebecher und rührte bedächtig um.

»Haben Sie sonst noch Fragen?«, erkundigte ich mich schließlich.

Detective Bowen sah mich lächelnd an. Sie wusste genau, dass sie mich jetzt so weit hatte.

»Ist Casey gegenüber Stephanie irgendwann ausfällig geworden?«

»Casey ist noch nie ausfällig geworden«, antwortete meine Mutter. »Kein einziges Mal.«

»Was meinst du dazu, Jessica?«, bohrte Detective Bowen. »Wir haben mit den Mädchen aus eurer Gruppe schon gesprochen.«

»Und warum fragen Sie dann mich?«

»Detective, wozu wollen Sie das alles denn noch mal von Jess hören, wenn Sie die Informationen schon haben?«, wollte mein Vater wissen. »Das alles ist doch auch für sie schon schlimm genug.«

»Ich versuche mir nur ein vollständiges Bild von den Geschehnissen zu machen.«

»Ich muss Ihre Fragen gar nicht beantworten, weil ich ja nicht verhaftet wurde«, wandt ich ein. »Und selbst dann könnte ich die Aussage verweigern. Das weiß ich aus dem Rechtskurs in der Elften.«

»Ich dachte, du willst deiner Freundin helfen.«

»Wie soll ihr das denn helfen? Sie fragen ja nur nach negativen Sachen! Jeder verliert doch bei Kindern mal die Geduld. Weil Kinder tierisch nerven können. So sind sie halt. Zwar nicht alle Kinder und auch nicht ständig, aber sie können einen manchmal echt zur Weißglut bringen!«

Ich stand auf und fummelte an dem Tetrapak mit Orangensaft herum, der auf der Küchentheke stand, nur um Abstand zu gewinnen.

»Dann lassen wir diese Frage erst einmal«, meinte Detective Bowen. »In Caseys Tasche wurde ein T-Shirt von Stephanie gefunden. Kannst du mir sagen, wie es da hineingekommen sein könnte?«

Ich fixierte die Theke und konnte nicht in Richtung Tisch sehen. Ich merkte, wie ich innerlich erstarrte, und goss mir ein Glas Saft ein.

»Woher soll ich denn das wissen?«, fragte ich.

»Es wird von vielen angenommen, dass sie dieses T-Shirt am Tag ihres Verschwindens getragen hat. Auf der Vorderseite war ein Bild von Tinker Bell. Kannst du dich daran erinnern?«

Ich trank einen Schluck Orangensaft und drehte mich wieder zum Tisch um.

»Tinker-Bell-Shirts haben diesen Sommer ganz viele Mädchen angehabt.«

»Ihre Mutter meinte, es sei ihr Lieblingsshirt gewesen. Es war nicht bei ihren Sachen, und sie hatte es auch nicht an, als ihre Leiche gefunden wurde. Und dann taucht es in Caseys Tasche auf. Mit Blutflecken. Das Blut stammt sowohl von Stephanie als auch von Casey.«

»Im Camp passieren schon mal Verletzungen«, sagte ich. »Sie schürfen sich das Knie auf, wenn sie hinfallen, oder zerkratzen sich bei Wanderungen an Zweigen die Wangen. Casey und ich hatten immer Erste-Hilfe-Sets dabei.«

»Dann kannst du mir also nichts zu Stephanies T-Shirt sagen? Casey hat nämlich ausgesagt, dass wahrscheinlich du es in ihre Tasche gesteckt hast, weil du die Hütte aufgeräumt hast, während sie mit dem Suchtrupp unterwegs war. Deshalb möchte ich von dir wissen, ob du das Shirt in Caseys Tasche gepackt hast.«

»Natürlich hat sie das nicht getan«, erwiderte Mom. »Was hat denn Kinderkleidung in der Tasche ihrer Freundin zu suchen? Weshalb sollte sie das tun?«

»Vielleicht war es ja ein Versehen.« Die Stimme von Detective Bowen war im Vergleich zum schrillen Tonfall meiner Mutter betont ruhig. »Vielleicht war Jess ja in Eile. Möglicherweise hatte sie sehr viel zu tun und wenig Zeit dafür. Ich werfe ihr doch gar keine bösen Absichten vor. Es könnte ja sein, dass sie einfach nur nachlässig war.«

Bei dem Wort nachlässig schoss Moms Blick in meine Richtung und meine Beine fingen sofort wieder an zu zittern. Hastig setzte ich mich hin.

»Ist es so gewesen?«, wollte Mom von mir wissen. »Denn das klingt mal wieder typisch für dich.« An Detective Bowen gewandt fügte sie hinzu: »Ich finde nämlich andauernd Suppendosen im Restmüll. Der Recyclingbehälter steht direkt daneben, aber sie schafft es nicht, die Dose kurz auszuspülen und reinzuwerfen. Das dauert maximal zwei Sekunden und hilft der Umwelt. Casey …«

Ich sah, wie Dad seine Hand auf Moms Unterarm legte, damit sie aufhörte. Gleich würde sie berichten, wie Casey für die von ihr gestartete Kampagne zur Umgestaltung der Müllkippe bei der alten Unterwäschefabrik in einen Naturpark den Umweltpreis des Bürgermeisters bekommen hatte. Das wollte ich mir auf keinen Fall schon wieder anhören.

»Ist es so gewesen?«, fragte Detective Bowen. »Und ich möchte, dass du vorher genau nachdenkst. Wenn Casey verurteilt wird, weil dieses Shirt in ihrer Tasche war, und sie in Wirklichkeit unschuldig ist, dann heißt das, der wahre Mörder von Stephanie läuft immer noch frei herum und tötet vielleicht noch jemanden. Meine Aufgabe ist es, den Mörder anhand der Indizien zu überführen. Und bisher deutet alles auf Casey. Falls ich mich täusche, muss ich das unbedingt wissen. Außerdem solltest du dir deine Antwort auch gut überlegen, weil es den Tatbestand der Behinderung polizeilicher Ermittlungen gibt. Das ist strafbar. Und die Polizei anzulügen ist durchaus als Behinderung zu werten.«

»Jetzt reicht es aber«, empörte sich mein Vater. »Das ist ja wohl die Höhe. Wenn Jessica sagt, dass sie es nicht getan hat, dann ist das auch so.«

»Ich habe von ihr nicht gehört, dass sie es nicht war.«

Das war mein Stichwort. Alle Blicke richteten sich auf mich.

»Ich bin es nicht gewesen«, hörte ich mich sagen. »Ich hab das nicht getan.«

22. August

1. Tag

Heute hat der letzte Campdurchgang dieses Sommers begonnen. Scharen von kleinen Mädchen bevölkern mit ihren Eltern den Speisesaal, geben ärztliche Atteste ab und werden auf die einzelnen Gruppen verteilt. Man sieht auf den ersten Blick, wer von ihnen schon mal hier war. Die Erfahrenen lachen, begrüßen ihre Freunde und wollen so schnell wie möglich ihre Eltern abschütteln. Die Neulinge sind auch leicht zu erkennen. Sie hängen Mami und Papi am Rockzipfel, sehen ganz verängstigt und verloren aus. Manche weinen sogar.

Ich sehe Stephanie Glass, achte aber nicht weiter auf sie.

Ich kenne sie mehr oder weniger aus der Kirchgemeinde. Sie singt im Kinderchor mit und ist im Gottesdienst immer mit zur Kleinkinderbetreuung und später dann zur Sonntagsschule gegangen. Ich weiß, dass ihr Vater tot ist. Herzinfarkt? Krebs? Keine Ahnung. Sie sitzt mit ihrer Mutter immer auf der anderen Seite der Kirche. Unsere Familien sind nicht miteinander befreundet.

Dass sie am Camp teilnimmt, ist nicht überraschend. Viele Kinder von hier sind mit dabei. Ich kümmere mich nicht um sie, sondern halte Ausschau nach den Achtjährigen, die in unsere Gruppe kommen sollen. Stephanie sieht älter aus als acht.

Casey steht hinter dem Anmeldetisch und ist bereit, sämtliche Kinder in Empfang zu nehmen, die Hütte Nr. 3 zugeordnet werden. Ich sitze auf einer Bank an der Seite, beobachte das Geschehen und warte, bis die Kinder zu mir kommen. In den nächsten zehn Tagen werde ich sie noch mehr als genug um mich herum haben.

Ich bin heilfroh, dass das der letzte Durchgang für diesen Sommer ist. In Ten Willows bin ich eigentlich am liebsten, wenn Casey und ich allein hier sind. Aber diesmal sind wir schon den ganzen Sommer als Helferinnen der Gruppenleiter dabei. Für diesen Durchgang hat einer der sonstigen Betreuer kurzfristig abgesagt, sodass wir doch noch zusammen in eine Gruppe kommen.

»Was meint ihr, würden es die Teilnehmer überleben, wenn ich euch beiden die Leitung einer Gruppe übertrage?«, hat uns die Campleiterin Mrs Keefer gefragt.

»Überleben und genießen«, antwortete Casey. »Das kriegen wir auf jeden Fall hin.«

Natürlich kriegen wir das hin, denke ich, während ich beobachte, wie sich das Chaos langsam lichtet. Wir kommen ja schon seit Jahren hierher, erst zum Kindercamp im Sommer, dann zu den Jugendwochenenden im Winter, zu Jugendleiterkursen und endlosen Putz- und Arbeitseinsätzen in den belegungsfreien Zeiten.

Nach allem, was wir für das Camp getan haben, haben wir es uns echt verdient, mal ein bisschen Zeit zusammen hier zu verbringen.

Hoffentlich stören uns die Teilnehmer dabei nicht so sehr.

Da taucht Casey plötzlich mit acht kleinen Mädchen vor mir auf. Stephanie ist auch darunter. Sie steht ein bisschen abseits. Mit ihrem Tinker-Bell-Shirt sieht sie aus wie eine Puppe oder wie eine Tortendeko. Das weiß sie auch ganz genau. Die anderen Mädels sehen Casey und mich erwartungsvoll an, damit wir ihnen sagen, was als Nächstes passiert. Stephanie dagegen betrachtet prüfend ihr Spiegelbild in einer Vitrine, in der im Camp entstandene Bastelarbeiten ausgestellt sind, und zupft ihre Löckchen zurecht.

Wir nehmen unser Gepäck und stapfen los zu unserer Hütte. Nachdem alle in den Doppelstockbetten ihren Schlafplatz gefunden, wir einen Gruppennamen (Schmetterlinge) ausgesucht und Casey und ich die Campregeln erklärt haben, ist es Zeit zum Mittagessen. Wir sammeln die Gruppe vor der Hütte und Casey zählt einmal durch. Irgendjemand fehlt. Daraufhin gibt sie mit ihrer Trillerpfeife zwei kurze Signale.

»Mit Partner aufstellen«, ruft sie.

Wir haben sie vorher in Zweiergruppen eingeteilt. Alison, Stephanies Partnerin, steht alleine da.

»Wo ist denn Stephanie?«

Wir suchen rings um die Hütte und in den Waschräumen nach ihr, rufen ihren Namen, aber keine Spur. 20 Minuten später taucht sie wieder auf.

»Ich wusste doch nicht, dass ihr nach mir sucht«, flötet sie mit gewinnendem Lächeln und schüttelt selbstgefällig ihre Haare.

Wir nehmen es mit Humor. Abgesehen davon, dass unsere Käsetoasts inzwischen kalt sind und wir das Johnny-Appleseed-Danklied allein vor allen anderen singen müssen, bleibt der Zwischenfall folgenlos.

Nach dem Essen verschwindet sie wieder, wodurch sich die Badezeit der Schmetterlingsgruppe um eine Viertelstunde verkürzt. Nach dem Schwimmen frieren wir noch einmal eine Viertelstunde lang in unseren nassen Badesachen und suchen sie. Casey entdeckt sie schließlich – sie hatte sich hinter einem Kanu versteckt und uns grinsend beobachtet.

»Du musst bei der Gruppe bleiben«, schärft Casey ihr ein. »Wir müssen immer wissen, wo ihr seid. Du willst doch nicht, dass alle auf dich warten müssen, oder?«

»Wenn sie sich unbedingt verstecken muss, dann soll sie doch«, sage ich zu Casey. »Wenn wir uns nicht weiter drum kümmern, hat sie bestimmt bald keine Lust mehr dazu.«

Aber Casey hat sich fest vorgenommen, einen Draht zu ihr zu finden. Vor der Nachtruhe versucht sie noch mal, mit ihr zu reden.

»Wir möchten dich gern kennenlernen«, sagt sie zu Stephanie. »Wie soll das denn gehen, wenn du dauernd wegläufst?«

»Ist mir doch egal, ob ihr mich kennenlernt oder nicht«, zickt Stephanie. »Und außerdem müsst ihr aufpassen, wo ich bin, und nicht umgekehrt.«

Casey gibt nicht auf.

»Du musst bei der Gruppe bleiben, weil wir viele schöne Sachen machen. Und die verpasst du, wenn du von uns weggehst. Wir wollen schließlich, dass es dir im Camp gefällt.«

Aber Klein-Stephanie grinst nur süßlich und flötet: »Es gefällt mir doch.«