Kapitel 20

Der Staatsanwalt teilte meinem Vater telefonisch mit, wann ich vor Gericht zu erscheinen hatte. Bis dahin hielt ich mich von dort lieber fern, um niemandem zu begegnen. Vor allem nicht den Whites, Casey, Mrs Glass oder sonst wem.

Den Prozess zu verfolgen war kein Problem, die Nachrichten waren ja voll davon.

Am Anfang wurden erst einmal die Geschworenen gewählt, dann nahmen die Experten Stellung zu Stephanies Todesumständen. Einer von ihnen legte dar, dass Blut und Gewebespuren von Casey unter Stephanies Fingernägeln gefunden wurden. Mela erkundigte sich daraufhin, ob das Blut auch von einem Kratzer stammen könnte, der Casey von Stephanie vorher beigebracht wurde. Das bejahte der Experte. Außerdem sei es durchaus möglich, dass Caseys Haare in der Spange möglicherweise schon Tage zuvor herausgerissen wurden.

Das Tinker-Bell-Shirt, das sie in Caseys Tasche gefunden hatten, wurde laut einem Zeitungsbericht mit viel Tamtam präsentiert. Das herzzerreißende Schluchzen von Mrs Glass habe den gesamten Gerichtssaal erfüllt, war zu lesen. Ein Kriminalpsychologe trat in den Zeugenstand und erläuterte, dass viele Mörder eine Trophäe ihrer Tat behielten.

Dann wurden die Fotos von dem Baum, wo Stephanie gefunden wurde, ausführlich analysiert, und die Staatsanwaltschaft behauptete, Casey hätte etwas sehen müssen, wenn sie richtig gesucht hätte. Mela gab zu bedenken, dass durch Zweige und Laub hindurch kaum etwas zu erkennen war und die Polizei bei ihrer Suchaktion Stephanie schließlich auch nicht entdeckt hatte. Stephanie wurde erst gefunden, nachdem der Regen aufgehört hatte und Spürhunde zum Einsatz kamen.

Ich fand es schrecklich, dass die Ereignisse des Sommers derart zerpflückt werden mussten.

Am Morgen meiner Zeugenaussage zog ich mich fünfmal um – von Jeans über Kirchenkleid bis hin zu einem Zwischending und wieder zurück zu Jeans –, als ob das richtige Outfit die ganze Sache irgendwie besser machen würde.

Ich hatte Dad gebeten, zu meiner Aussage mitzukommen, aber sein Unwillen war so unübersehbar, schon sein Gesichtsausdruck reichte aus, dass ich abwinkte. Ich war vollkommen allein.

Als ich beim Gericht ankam, war ich derart fertig mit den Nerven, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich das alles überstehen sollte.

Im Korridor sah ich den Staatsanwalt Mr Tesler und sprach ihn an: »Ich möchte nicht aussagen. Ich fühle mich nicht wohl heute und außerdem hab ich auch gar nichts zu sagen – ehrlich! Ich will das einfach nicht.«

»Sie sind gerichtlich vorgeladen worden«, antwortete er. »Was Sie wollen, steht hier nicht zur Debatte. Sie werden in den Zeugenstand treten und Ihre schriftliche Aussage bestätigen. Ansonsten landen Sie wie Ihre kleine Freundin hinter Gittern. Glauben Sie bloß nicht, dass ich so etwas nicht machen kann, denn das kann ich sehr wohl.« Damit ließ er mich stehen.

Kurze Zeit später saß ich ein Stück entfernt von Caseys Gerichtssaal auf einer Bank, von der aus ich die Tür jedoch im Blick hatte, damit ich mitbekam, wenn ich aufgerufen wurde. Ich saß vornübergebeugt und starrte zu Boden. Da sprach mich jemand an.

»Ich wusste doch, dass du hier irgendwo steckst.«

Ich schaute auf. Es war Mrs Keefer, die Campleiterin. Sie setzte sich neben mich.

»Du machst heute deine Aussage, oder?«

Ich nickte. »Woher wissen Sie denn das?«

»Der Staatsanwalt muss der Verteidigung seine Zeugenliste zur Verfügung stellen«, erklärte sie. »Ich sage dann später aus. Für Casey.«

Ich erschrak. »Dann weiß Casey also Bescheid?«

Mrs Keefer nickte. »Ja, Casey weiß Bescheid.«

Schamesröte stieg mir ins Gesicht. »Wie soll ich ihr nur je wieder ins Gesicht sehen?«

Mrs Keefer schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »Erinnerst du dich an die Inschrift auf der Tafel im Zentrum von Ten Willows?«

»Ja klar. ›Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande. Denn die uns gefangen hielten, hießen uns dort singen und in unserem Heulen fröhlich sein.‹«

»Weißt du auch, was das bedeutet?«

»Nein, tut mir leid.«

»Das bedeutet, wenn Leute, die etwas Falsches tun, von uns Gefälligkeiten verlangen, dann sind wir nicht dazu verpflichtet. Wir haben immer noch die Wahl. Wir können unsere Harfen weglegen und uns weigern zu singen.«

Ich sah sie an. »Aber was …« Ich wollte sie fragen, was das denn bitte mit mir, jetzt und hier, zu tun hatte, aber als ich in ihr Gesicht schaute, wusste ich es plötzlich. Ich ertrank fast in Scham und sie warf mir einen Rettungsanker zu.

Sie umarmte mich und überließ mich dann meinen Gedanken.

Und ich dachte in der Tat nach.

Jetzt wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich musste in den Zeugenstand treten, den Eid leisten, Tesler in die Augen schauen und sagen: »Casey White ist meine beste Freundin. Sie wäre nie dazu fähig, jemanden umzubringen.«

Eigentlich hatte ich ihnen noch viel mehr zu sagen Aber ich wusste genau, dass ich das niemals fertigbringen würde.

Vielleicht genügte es ja auch, einfach nicht mitzuspielen. Vielleicht reichte es aus zu sagen: »Casey White würde niemals jemanden töten, und wenn Sie das nicht begreifen, ist das Ihr Pech, denn es ist die Wahrheit.« Weiter würde ich mich nicht äußern.

Damit würde die Anklage wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Die Whites würden unendlich erleichtert sein. Casey würde mir verzeihen, Mom würde davon erfahren und wieder gesund werden. Alles würde endlich wieder normal sein. Der Frühling stand vor der Tür und wir wären endlich wieder glücklich.

Immer wieder malte ich mir aus, was ich tun und was ich sagen würde. Ich stellte mir vor, wie ich unter dem Jubel der Anwesenden der Missachtung des Gerichts beschuldigt und in Handschellen abgeführt werde. Die Leute würden mich wieder mögen und vielleicht könnte sogar Mela meine Verteidigung übernehmen. Vor lauter Adrenalin schwitzte und zitterte ich. Als die Mittagspause vorbei war und die Assistentin des Staatsanwalts zu mir kam und mich hereinbat, war meine Anspannung auf dem Siedepunkt.

Ich ging in den Gerichtssaal.

Als ich in den Zeugenstand trat, den Eid auf die Bibel leistete und vor dem Mikrofon Platz nahm, fühlte ich mich, als würde ich neben mir stehen. Ich sah, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren. Ein Großteil der Einwohner von Galloway saß auf den Zuschauerplätzen, einschließlich Miss Burke. Mr und Mrs White saßen ganz vorn. Neben Mela sah ich Casey sitzen. Sie trug ein schlichtes blaues Kleid, das ich an ihr noch nie gesehen hatte. Unsere Blicke trafen sich. Sie sah mich weder wütend noch feindselig an, sondern einfach nur enttäuscht. Es fiel mir unsagbar schwer, das auszuhalten.

Denk an deinen Plan, ermahnte ich mich. Zieh diese eine Sache jetzt durch und dann wird alles wieder gut.

Hätte ich in diesem Moment aufstehen und das Wort ergreifen dürfen, wäre bestimmt alles gut gegangen. Menschen können verzeihen. Wir hätten uns aussprechen können.

Aber Mr Tesler trat nach vorn und fing an, mir Fragen zu stellen. Und da verfiel ich wieder in mein gewohntes, unterwürfiges Verhalten. Er begann mit ganz einfachen Fragen, die ich ohne viel Nachdenken beantworten konnte: wie lange ich Casey schon kannte, worin unsere Aufgaben im Camp bestanden und ob Casey verärgert war, weil Stephanie ihr Sachen gestohlen hatte. Ich hoffte inständig, dass es während der Befragung eine Gelegenheit gab, meine große Mutprobe geschickt einzubauen. Aber als ob Mr Tesler das ahnte, gab er mir keine Chance dazu. Sobald meine Antworten etwas länger ausfielen, fiel er mir ins Wort und verlangte, dass ich zum Punkt kommen sollte. Er gab mir keine Möglichkeit, mich länger zu äußern oder etwas Eigenes hinzuzufügen.

»Wie gut kannten Casey und Sie die Wanderwege rund um Ten Willows?«

»Sehr gut«, antwortete ich. »Wir fahren dort schon seit Jahren hin und hatten außerdem die Erlaubnis, uns auch außerhalb der Ferien dort aufzuhalten. Die Camp-Verwaltung hatte vor allem zu Casey großes Vertrauen und …«

»Stephanies T-Shirt wurde in Casey Whites Reisetasche gefunden, versteckt unter ihrer eigenen Kleidung. Als Ms White danach gefragt wurde, hat sie versichert, dass sie es nicht hineingetan hat. Außerdem hat sie berichtet, dass Sie gebeten wurden, die Hütte zu reinigen und auch die Taschen von Ms White und Stephanie zu packen. Daraufhin hätten Sie den Ort der Suche verlassen und der Aufforderung Folge geleistet. Haben Sie dann die Hütte gereinigt und die Sachen von Casey und Stephanie zusammengepackt?«

»Ich habe alles erledigt, was mir aufgetragen wurde.«

Und dann kam er zu der Frage, vor der ich mich am meisten fürchtete.

»Haben Sie Stephanies Tinker-Bell-Shirt in Casey Whites Reisetasche gesteckt?«

Da war sie also.

Ganz unvermittelt überkam mich ein Hustenanfall. Ich konnte gar nicht wieder aufhören zu husten und zeigte auf einen Wasserkrug, der auf einem Tisch stand.

Mr Tesler runzelte vorwurfsvoll die Stirn, als ob er genau wüsste, dass alles nur gespielt ist. In aller Seelenruhe schenkte er mir ein Glas Wasser ein und gab es mir. Ich nahm mir viel Zeit beim Trinken und versuchte mich innerlich für meinen großen Auftritt zu wappnen.

»Soll ich die Frage für Sie noch einmal wiederholen?«, fragte Mr Tesler.

Ich nickte.

»Haben Sie Stephanies Tinker-Bell-Shirt in Casey Whites Reisetasche gesteckt?«

In diesem Moment – es war wie im Film – bekam der Gerichtsmitarbeiter durch einen Boten eine Nachricht hereingereicht und übergab sie dem Richter. Wir beobachteten gespannt, wie er sie las.

»Ich bitte die Anwälte, die Angeklagte und die Eltern der Angeklagten umgehend in mein Büro.«

Alle Anwesenden standen auf, als der Richter zusammen mit den Aufgerufenen den Gerichtssaal verließ. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, blieb ich im Zeugenstand. Es war schrecklich unangenehm, dass mich dort alle sehen konnten. Ich merkte, wie ich auf meinem Platz immer kleiner wurde. Ich versuchte, meine große Rede noch einmal durchzugehen, aber ich fühlte mich immer weniger dazu imstande, und mein Wunsch, einfach nach Hause zu gehen, wurde immer stärker.

Eine halbe Stunde später ging der Gerichtsmitarbeiter auf Mrs Glass zu und bat sie auch noch mit ins Büro des Richters. Zwanzig Minuten später kamen alle wieder herein. Es sah aus, als ob alle geweint hätten. Alle bis auf Mr Tesler und der Richter.

Mr Tesler baute sich nicht wieder vor mir auf. Stattdessen stand er hinter seinem Tisch und besprach sich mit dem Richter.

»Euer Ehren, angesichts der neuen, unumstößlichen Beweise, die uns soeben vorgelegt wurden, lässt die Krone hiermit sämtliche Anklagen gegen Casey White fallen.«

Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal. Davon gänzlich unbeeindruckt sagte der Richter:

»Casey White, bitte erheben Sie sich.«

Casey und Mela standen auf.

»Alle Anklagepunkte gegen Sie wurden fallen gelassen. Sie sind frei. Die Klage wurde abgewiesen.« Er schlug mit dem Richterhammer auf den Tisch und verließ den Saal.

Niemand regte sich. Alle waren völlig überrumpelt.

Dann verließ Casey die Anklagebank und ging auf Mrs Glass zu. Mrs Glass stand auf und sie umarmten sich.

Casey fing an zu weinen. »Die arme kleine Stephanie«, schluchzte sie. »Die arme kleine Stephanie.«

Casey und Stephanies Mutter hielten sich tränenüberströmt aneinander fest, dann kamen Mela und die Whites dazu und begleiteten die beiden aus dem Gerichtsgebäude nach draußen. Die Bewohner von Galloway verließen langsam die Zuschauerplätze. Ich weiß nicht, ob irgendjemand von ihnen Casey ansprach oder nicht. Mit mir redete jedenfalls keiner. Ich blieb sitzen, wo ich war – im Zeugenstand, einsam und allein im Gerichtssaal. Irgendwann schaltete der Hausmeister das Licht aus und scheuchte mich hinaus.

Draußen waren alle längst gegangen.