Kapitel 13

Liebe Libelle,

wie geht’s Dir da draußen? Aus irgendeinem Grund kommen Deine Briefe nicht durch. Mela will sich aber drum kümmern. Das alles hier wäre viel leichter zu ertragen, wenn ich was von Dir hören dürfte.

Ich wette, in Galloway geht’s gerade mächtig aufregend zu. Mela hat mir erzählt, dass die Stadt der reinste Zirkus ist, mit mir in der Arena, sozusagen. Als meine beste Freundin stehst Du wahrscheinlich auch ganz schön im Rampenlicht. Denk einfach dran, dass Galloway trotzdem bloß Galloway ist, auch wenn es gerade auf Zirkus macht.

Die Wachen lassen mich neuerdings nach draußen, zwar nur eine Stunde pro Tag und auch nur in einen betonierten Innenhof. Aber Insekten gibt es überall, sogar auf Beton!

Vor zwei Tagen ist ein Schwarzer Schwalbenschwanz, ein Papilio polyxenes, über die Mauer geflattert und hat sich auf meine Schulter gesetzt. Er blieb dort sitzen und sah ganz toll aus, bis ihn einer von den Wachleuten verscheucht hat. Gestern hab ich eine Grille gefunden, eine Gryllus veletis, und mit in meine Zelle genommen. Sie hat die ganze Nacht für mich gezirpt. Ich hab sie in eine Wasserpfütze in mein Waschbecken gesetzt und zugeguckt, wie die Saitenwürmer aus ihr rausgekrochen kamen. Ihhhh …nteressant! Unglaublich! Auf dem Hofgang heute hab ich die Grille aber wieder freigelassen. Es reicht völlig, wenn eine von uns beiden eingesperrt ist.

Allmählich freunde ich mich ein bisschen mit einer Kolonie von Rasenameisen hier an, Tetramorium caespitum, die sich in den Betonfugen eingenistet hat. Ich glaube, wir verstehen uns irgendwie. Die Kolonie besteht im Wesentlichen aus weiblichen Ameisen, die nie Kinder haben werden. Ich hatte immer gedacht, dass es bestimmt toll wäre, ein Kind zu haben. Weißt Du noch, wie wir uns mal drüber unterhalten haben? Wie ich mir das Kleine auf den Rücken binden und zu Feldforschungen mitnehmen würde. Da könnte es mir dann suchen helfen. Ich wollte ihm alles über Insekten beibringen. Aber ich glaube, das könnte ich jetzt nicht mehr. Stell Dir vor, wenn ihm was zustößt! Wie ertragen Menschen ihre Trauer, wenn sie ein Kind verlieren? Wie schafft es Mrs Glass, jeden Morgen aufzustehen? Erst verliert sie ihren Mann wegen einem betrunkenen Autofahrer und jetzt auch noch Stephanie.

Stephanie war ein kleines Ekel, aber bestimmt hätte sich das im Laufe der Zeit gegeben. Hätte ich mir doch nur mehr Mühe gegeben, sie gernzuhaben. Vielleicht wäre sie dann jetzt nicht tot.

Hier versuchen sie mich immer noch fernzuhalten von den anderen Häftlingen, aber da unterhalte ich mich eben mit den Leuten, die mir das Essen bringen, und die scheinen ganz nett zu sein. Mela kommt ziemlich oft her, das hilft schon. Ihr eigentliches Fachgebiet ist Umweltrecht. Da haben wir immer viel zu reden, wenn sie Zeit hat. Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass ich mich auf Wasserinsekten spezialisieren will. Sie geben zum Beispiel Hinweise, wie gesund das Ökosystem in einem Teich ist, und Grundwasser ist ja ungeheuer wichtig, wie wir alle wissen! Mela sagt, dass sie mich, sobald ich hier rauskomme, mit ein paar Umweltwissenschaftlern von ihrer ehemaligen Uni bekannt machen will. Sie sagt, die sind ständig auf Exkursion, und vielleicht kann ich ja mal mit. Als kleiner Ausgleich dafür, dass das mit Australien nun nichts wird.

Die Verhandlung ist für Ende Januar angesetzt. Ich werde also noch eine Weile hier sein. Mom und Dad machen immer auf gute Stimmung, wenn sie mich besuchen, und ich versuche das auch. Aber es fällt mir von Mal zu Mal schwerer. Das hier ist ein echter Albtraum.

Deine Mom ist so klasse zu meiner Familie! Bitte sag ihr Danke von mir, obwohl ich weiß, dass sie keinen Dank will. Sie hat so viel für mich getan im Laufe der Jahre. Sie hat mir geholfen, die Bücher aufzutreiben, die ich brauchte, sie hat mir den Kontakt zu den Leuten von der Stipendienabteilung an der Uni vermittelt, sie hat mir mit dem Mikroskop geholfen – na ja, das weißt Du ja alles.

Wie sieht’s bei Dir mit dem Geländelauf aus diesen Herbst? Mach Dir um mich bloß nicht so viele Gedanken, nicht dass Deine Noten schlechter werden oder Du beim Laufen nachlässt. Ich komme wieder raus aus diesem Schlamassel, hole die verlorene Schulzeit nach und fange nächsten Herbst mit Dir zusammen an der Uni an. Ich zähle auf Dich, dass Du unseren Plan nicht aus den Augen verlierst!

Jetzt wird schon wieder der Platz auf dem Papier knapp. Hey, ist Dir aufgefallen, dass ich jetzt zwei Blätter bekomme, nicht mehr nur eins? Wenn das die Steuerzahler wüssten!

Halt die Flügel steif, Libelle! Und schreib bald!

Liebe Grüße,

Casey

Ich wusste genau, dass ich auch diesen Brief nicht beantworten würde.

Ich ging in mein Zimmer und ließ mich auf mein ungemachtes Bett fallen. Es war noch genau so wie am Morgen, als ich total durch den Wind war. Casey dachte also, dass ich mir so einen Kopf wegen ihr mache, dass ich meinen Schulkram vernachlässige und im Geländelauf durchhänge. Sie ging also einfach mal davon aus, dass ich mein ganzes Leben auf Eis lege, nur um mir Sorgen um sie zu machen? Wie arrogant war das denn! Ich hatte doch noch jede Menge andere Sachen am Laufen als meine Freundschaft mit Casey! Jede Menge!

In meinen Groll gegen sie mischte sich noch ein anderer Gedanke. Diese ganzen Sachen, die meine Mutter angeblich für sie getan hatte – nichts davon hatte ich gewusst. Mom hatte doch gar keine Ahnung, wie man Bücher auftreibt. Sie kannte keinen Menschen an der Uni. Was wusste sie schon über Mikroskope? Mom hatte keinen Schimmer davon, wie es in der richtigen Welt zuging. Sie war doch nur Pflegerin in einem Altenheim – und oft genug war sie selbst dafür zu sehr neben der Spur. Casey machte sicher Witze.

Aber andererseits hat Casey noch nie Witze über meine Mutter gemacht. Sie kannte eine Seite an meiner Mutter, die ich nie vermutet hätte. Das wiederum erinnerte mich daran, dass ich noch andere Gründe hatte, sauer auf sie zu sein.

Ich hasste sie.

Und trotzdem fehlte sie mir.

Ich war fest entschlossen, die nächste Nacht durchzuschlafen. Als ich wieder früh um zwei aufwachte, blieb ich im Bett. Meine Beine wollten Rad fahren, aber ich ließ sie nicht. Ich versuchte alles Mögliche, um wieder einzuschlafen, aber es war bestimmt schon vier, als ich endlich wieder einduselte. Ich träumte immer wieder, dass ich falle, und in dem Moment, als ich fast auf dem Boden aufschlug, wachte ich wieder auf. Dann döste ich wieder ein. Das war so dermaßen unerholsam, dass ich auch gleich hätte Rad fahren können.

Am nächsten Tag nach der Schule zog ich wieder mit der Clique los. Casey erwähnten wir nach wie vor nicht. Eigentlich redeten wir über gar nichts so richtig, aber ich fand’s toll. Und ich hatte auch kaum ein schlechtes Gewissen, weil ich mein Lauftraining geschwänzt hatte. Es war noch genug Zeit, um mir eine Ausrede für die Trainerin auszudenken.

Beim Abendessen war Mom sehr still. Sie aß kaum etwas. Ich hätte fragen können, was mit ihr los war, aber ich wollte es eigentlich gar nicht wissen. Dad war wahrscheinlich mal wieder überhaupt nichts aufgefallen.

In der Nacht fuhr ich dann wieder mit dem Rad los. Es ist eh sinnlos, mich dagegen aufzulehnen, dachte ich, als ich mich um zwei Uhr morgens wieder im Bett hin und her wälzte. Wenigstens machte ich auf die Weise ein bisschen vom verpassten Training wett.

Nachdem ich eine Weile ziellos umhergeradelt war, bog ich in Caseys Straße ein. Schon im Näherkommen bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Lautlos stellte ich mein Rad hinter dem Forsythienbusch eines Nachbarn ab und schlich näher.

Mehrere Leute in meinem Alter machten sich an Caseys Haus zu schaffen. Sie hatten den Rollstuhltransporter ihres Vaters komplett mit Farbe übergossen und jetzt warfen sie gerade Farbe an die Fenster und die Hauswand. Ich konnte die Lösungsmittel schon von Weitem riechen. Sie hatten eimerweise Farbe dabei.

Zwei von ihnen schrieben etwas auf die Straße vor dem Haus. »Los, macht hin!«, flüsterte jemand. Ein anderer unterdrückte ein Lachen.

Sie ließen die leeren Farbeimer auf der Straße und im Vorgarten liegen, stiegen in ihr Auto und fuhren an mir vorbei. Im Vorüberfahren wurden ihre Gesichter in der Straßenbeleuchtung sichtbar. Es war die Clique aus dem Cactus. Amber entdeckte mich im Gebüsch. Mit zwei Fingern deutete sie eine Pistole an, dann verschwanden sie in der Dunkelheit.

Ich ging näher und warf einen Blick auf die Zerstörung, die sie hinterlassen hatten. Giftige Farbe sickerte ins Gras, in die Blumenbeete, in die Ziegel des Hauses. Das Familienauto war leuchtend gelb angepinselt. Auf der Straße, neben einem Pfeil, der auf das Haus wies, stand in großen Buchstaben: HIER WOHNTE KILLER-CASEY.

Ich war so geschockt, dass ich mich nicht bewegen konnte. Allein das Ausmaß der Sauerei war erschütternd. Ich starrte wie gebannt darauf, bis ein Geräusch mich aufschreckte. Vermutlich nur eine Katze auf der Suche nach etwas Fressbarem, aber ich zuckte zusammen. Verstört rannte ich zu meinem Rad und fuhr panisch davon.

Erst am nächsten Morgen bemerkte ich, dass ich Farbe an einem meiner Turnschuhe hatte. Ich musste aus Versehen hineingetreten sein. Aber da ich nur ein Paar Turnschuhe besaß, konnte ich es mir nicht leisten, sie einfach wegzuschmeißen. Hektisch suchte ich das Haus nach Farbflecken ab, fand aber keine.

Ich hörte die Haustür zuknallen. Mom war gerade wiedergekommen. Auch ohne zu fragen, wusste ich, wo sie herkam.

»Ich hasse diese Stadt!«, schimpfte sie. »Ich hasse diese Stadt! Ich hasse diese Leute.«

Ich ging zu ihr in die Küche, um zu sehen, ob ich sie beruhigen konnte. »Ist ja gut, Mom.«

Sie fuhr herum. »Gar nichts ist gut. Wie kannst du so was sagen? Selbst von ihrer eigenen Kirchgemeinde werden die Whites gemieden. Die Rollstuhlrampe ist immer noch nicht wieder da. Ich hab versucht, Reverend Fleet zu erreichen, aber er geht nie ans Telefon, wenn ich anrufe. Und jedes Mal, wenn ich bei ihm im Büro oder im Pfarrhaus vorbeigehe, sagt mir die Pfarrsekretärin oder seine Frau, dass er gerade unterwegs ist. Unterwegs, ich lach mich kaputt. Unter der Kanzel wird er sich verstecken! Aber Christentum hat auch was mit Mut zu tun – er tut mir jetzt schon leid, wenn er mal vor der Himmelspforte steht.

Außerdem bekommen die Whites inzwischen Drohbriefe. Michael White, ein Held in dieser Stadt, und Linda White, die immer für jeden da war, der sie gebraucht hat … und jetzt so was!«

»Was meinst du?«

Als Antwort nahm sie mich am Arm und zerrte mich den ganzen Weg zu ihrem Haus.

Bei Tageslicht sah alles noch viel schlimmer aus.

Die Cactus-Clique hatte die schrillsten und grellsten Farben genommen, die man sich vorstellen konnte. Giftgrün überall auf den roten Ziegeln. Leuchtendes Orange auf den Fenstern und der Rollstuhlauffahrt. Pink auf dem Rasen und im Garten. Und das ekelhafte Gelb auf dem Auto und der Straße.

Gegenüber stand ein Polizeiwagen am Straßenrand. Ich entdeckte den zugehörigen Beamten ein Stück weiter unten in der Straße, wo er gerade mit einer Frau über den Gartenzaun hinweg sprach. Sie schüttelte den Kopf und sagte wahrscheinlich: »Nein, ich habe nichts gesehen.« Noch ein paar andere Nachbarn standen in ihren Vorgärten, gafften neugierig und machten ein finsteres Gesicht. Kein einziger bot Hilfe beim Saubermachen an.

Auf dem Fußweg trocknete eine große Farbpfütze vor sich hin. Plötzlich hatte ich eine geniale Eingebung. Unter dem Vorwand, mir den Schaden genauer ansehen zu wollen, ging ich in Richtung Pfütze und trat in die noch nasse Farbe.

»Pass doch auf, wo du hintrittst!«, schrie Mom auf. Hastig zog ich den Fuß zurück. Jetzt hatte ich eine Erklärung für die Farbe an meinen Schuhen. Ich war wieder auf der sicheren Seite.

Ohne darüber nachzudenken, war mir klar, dass ich Amber und die anderen nicht verraten würde. Sie hätten problemlos behaupten können, dass ich auch dabei war, und sie waren schließlich zu sechst. Da hatte ich keine Chance. Aber das war nicht der eigentliche Grund dafür, dass ich den Mund hielt. Der eigentliche Grund war der: Wenn ich petzte, würden sie mich nie mehr ins Cactus einladen.

Und dann wäre ich ja wieder allein.