Kapitel 12

In dieser Nacht habe ich kein Auge zugemacht.

Gegen zwei Uhr bin ich aufgestanden und wie üblich auf mein Fahrrad gestiegen. Diesmal war mein Ziel das Gewerbegebiet am Stadtrand, wo die Straßen lang und gerade sind. In die eine Richtung hab ich wie verrückt in die Pedale getreten, sodass ich total ins Schwitzen kam, und zum Abkühlen bin ich ganz langsam zurückgeradelt, bis ich vor Kälte zitterte. Dann das Ganze noch mal. Das war zwar kompletter Schwachsinn, aber so verging wenigstens die Zeit. Ich stellte mir vor, dass ich ein wissenschaftliches Experiment zur Körpertemperatur durchführte. In meiner Fantasie erlangte ich damit internationale Anerkennung und wurde sogar von der Presse wahrgenommen – mehr noch als Casey. Ziemlich albern, ich weiß, aber das ging mir nun mal durch den Kopf.

Auf jeden Fall lenkte es mich so weit ab, dass ich nicht mehr an das Gespräch mit Mela Cross in dem Donut-Laden denken musste. Bei ihren Worten hatte ich mich so schrecklich klein und mies gefühlt. »Hast du überhaupt eine Seele?«, hatte sie mich gefragt.

Natürlich glaubte ich nicht, dass Casey die kleine Stephanie umgebracht hatte. Ich konnte die ganzen sogenannten Beweise Stück für Stück herbeten und widerlegen – besser als ihre Anwältin wahrscheinlich. Warum hatte ich das nicht gesagt?

Weil ich dann als Nächstes auf jeden Fall hätte einwilligen müssen, eine Zeugenaussage zu machen. Dann kämen noch mehr Gesprächstermine, Fragen, scheele Blicke und Auseinandersetzungen auf mich zu. Dabei wollte ich das alles doch nur so schnell wie möglich abhaken.

Je länger ich über die Unterhaltung nachdachte, desto wütender wurde ich. Was bildete sich diese Anwältin eigentlich ein, mich zu verurteilen? Sie kannte mich doch überhaupt nicht! Kein bisschen wusste sie von meinem Leben. Ich hasste sie. Und ich war sauer auf Casey, weil sie mir diese Zicke auf den Hals gehetzt hatte.

Als ich gegen vier Uhr morgens nach Hause kam, war das Haus hell erleuchtet. Ich kriegte die Panik und fuhr erst einmal eine Weile vor unserem Haus hin und her, ehe ich mich hineintraute. Letztendlich ging ich vor allem deshalb rein, weil ich befürchtete, dass meine Mutter mich bei der Polizei als vermisst gemeldet hatte.

Mom war in der Küche zugange. Schon an der Tür roch ich, dass sie etwas gebacken hatte. Sie verlor kein Wort darüber, dass ich von draußen kam, sondern sagte nur: »Hey, Jude, kannst du mir mal bitte die Muffinbleche abwaschen?«

Eine Ladung Muffins lag schon zum Abkühlen auf dem Kuchengitter. Mom beugte sich über ihr Kochbuch und rührte die Zutaten für die nächste Runde zusammen. Ich säuberte die Bleche. Danach fettete ich sie ihr noch ein und bestäubte sie mit Mehl. Obwohl es in der Küche sehr warm war, begann ich in meinen verschwitzten Sachen zu frieren. Ich ging hoch in mein Zimmer, zog mich aus und verkroch mich unter der Bettdecke. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht mitbekommen, dass ich weg war.

Ich schlief ein bisschen – oder ruhte zumindest. Dass Mom mitten in der Nacht zu backen anfing, war ein denkbar schlechtes Zeichen. Alle paar Minuten schreckte ich wieder hoch, weil ich Angst hatte, dass sie vergaß, was sie gerade tat, und versehentlich das ganze Haus abfackelte. Als um sieben mein Wecker klingelte, fühlte ich mich, als ob ich die ganze Nacht in einer Schlacht gekämpft hätte. Unter der warmen Dusche wurde ich zwar sauber, aber kein bisschen wacher.

Als ich zum Frühstück nach unten kam, war die Küche picobello sauber. Mom packte gerade frisch gebackene Muffins in eine alte Keksdose, die sie mit Wachspapier ausgelegt hatte. »Trink einen Schluck Orangensaft und iss einen Muffin«, sagte sie.

Dad saß hinter der Zeitung versteckt am Tisch. Vor ihm auf dem Teller lag ein aufgeschnittener und mit Butter bestrichener Muffin. Er hatte schon ein paar Bissen davon gegessen. Ich erhaschte seinen Blick über den Zeitungsrand und er nickte unmerklich. Die Muffins waren also essbar.

»Die Muffins sind völlig in Ordnung. Deine kleinen Signale kannst du dir sparen«, zischte Mom. Schuldbewusst nahm ich mir zwei, obwohl ich nicht mal auf einen einzigen Appetit hatte. Sie schmeckten gut, aber ich musste reichlich Saft dazu trinken, um sie herunterzuschlucken.

»Ich möchte, dass du auf dem Schulweg noch kurz bei den Whites vorbeigehst und ihnen diese Muffins hier bringst«, eröffnete mir Mom, während sie die Keksdose mit einem Deckel verschloss.

Ich stellte mein Saftglas ab. Auf gar keinen Fall wollte ich dorthin. Hilfe suchend schaute ich zu Dad, dessen Gesicht aber komplett hinter seiner Zeitung verborgen war.

»Ich muss heute schon früher in der Schule sein«, log ich. »Geschichtsprojekt.«

»Es dauert maximal zwei Minuten«, widersprach Mom. »Du musst doch nicht bleiben. Eigentlich brauchst du nicht mal reinzugehen. Klingle einfach und gib ihnen die Dose.«

»Ich hab aber keine Zeit dazu!«, wiederholte ich, nun etwas energischer.

Sie kam so rasant auf mich zu, dass sie mich fast umrannte. »Nimm jetzt die Dose«, befahl sie mir und drückte sie mir in die Hand.

Ich wich so heftig zurück, dass fast mein Stuhl hinter mir umkippte. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich keine Zeit habe!«

»Nimm sie jetzt!« Sie presste mir die Dose gegen den Bauch.

Um sie nicht berühren zu müssen, hob ich die Hände.

Moms wütender Blick durchbohrte mich. Sie knallte die Dose so heftig auf den Tisch, dass das Frühstücksgeschirr klirrte.

Ich floh aus der Küche. Und Dad blieb wahrscheinlich seelenruhig hinter seiner schützenden Zeitung sitzen.

An diesem Tag schleppte ich mich nur mühsam durch den Unterricht, bekam kaum etwas mit, döste vor mich hin und machte bei meinem Job in der Schulkantine ständig Fehler. In Bio schrieben wir einen Test, aber was kümmerte mich das schon.

»Ich weiß ja, dass du ein Sportstipendium anstrebst, Jessica«, sprach mich die alte Miss Burke nach der Stunde an. Sie war die älteste Lehrerin an der Schule und mochte Casey sehr. »Aber du brauchst auch in den anderen Fächern gute Noten. Das Schuljahr hat zwar erst angefangen, aber du solltest dich auf keinen Fall hängen lassen …«

Sie hörte gar nicht wieder auf, mir gute Ratschläge zu geben, was ich schrecklich ermüdend fand.

»Na, wieder mal Post von Casey gekriegt?« Amber und ihre Getreuen passten mich nach der letzten Stunde an meinem Spind ab.

»Geht euch nichts an«, antwortete ich.

»Hey, krieg dich mal ein. Wir sind schließlich auch mit Casey befreundet. Du hast ja wohl kein Monopol auf sie.«

»Casey – eure Freundin?«, gab ich zurück, »soll das ’n Witz sein?«

»Was hat dich denn gebissen?«, fragte jemand. »Eifersüchtig?«

Ich bahnte mir einen Weg durch die Gruppe und ließ sie einfach stehen. Nathan kam mir hinterher.

»Hey, Jess, jetzt sei mal nicht sauer«, sagte er und hakte sich bei mir unter. »Ist doch nur Spaß.«

»Auf meine Kosten oder was?«

»Tut mir leid. Aber das ist nun mal das größte Ding, das in dieser Stadt je passiert ist. Da sind wir halt alle ein bisschen durch den Wind.«

Wie oft Nathan seit dem Kindergarten mit mir geredet hatte, konnte ich an einer Hand abzählen. Er gehörte schon seit frühester Kindheit zu den besonders Coolen und wurde von anderen lässigen Kids mit den gleichen tollen Klamotten und Haarschnitten umschwirrt. Natürlich vom schicken Profifriseur und nicht von einer Mutter, die mitten in der Nacht mit der Zickzackschere bewaffnet denkt, sie wäre Edward mit den Scherenhänden.

Nathan behandelte mich, als ob ich eine von ihnen wäre und keine schräge Außenseiterin. Ich entschloss mich, seine Entschuldigung anzunehmen. Zumindest vorerst.

»Trink doch noch ’ne Cola mit uns oder so«, lud er mich ein, während er auf die anderen deutete, die uns aus einiger Entfernung beobachteten. »Wir gehen nach der Schule meistens ins Cactus und chillen vor dem Heimweg noch ein bisschen. Willst du nicht mal mitkommen?«

Natürlich musste mir Nathan nicht erzählen, dass sie immer im Cactus saßen, denn ich hatte sie oft genug dort gesehen – immer am selben Fenstertisch, wo sie Pommes aßen und eine Menge Spaß zusammen hatten. Sie waren eine ziemlich exklusive Truppe – zumindest für die provinziellen Verhältnisse in Galloway. Noch nie hatte mich jemand von ihnen dabeihaben wollen.

Nachdem Nathan mich eingeladen hatte, kam mir ein Gespräch mit Casey aus dem vorigen Jahr in den Sinn.

»Die braucht doch kein Mensch«, hatte sie gesagt, als ich ihr gestanden hatte, wie gerne ich Teil dieser Cactus-Clique wäre. »Wenn wir dazugehören würden, müssten wir jeden Tag nach der Schule einen Haufen Geld ausgeben, das wir uns hart verdient haben. Und außerdem labern die doch eh nur Gülle.«

»Woher weißt du das denn?«

»Na, aus dem Unterricht. Sie haben nie eigene Gedanken und können sich für nichts begeistern, sondern dreschen sich nur gerade so viel Stoff ins Hirn, dass sie einigermaßen durchkommen. Sich über andere lustig zu machen, ist ihr einziges Hobby, und dabei sind sie nicht mal besonders witzig. Was könnten die also schon Spannendes zu reden haben?«

»Du bist ja wohl nicht allwissend«, widersprach ich. »Vielleicht wollen sie sich vor den Lehrern bloß nicht wichtigmachen.« Als ob Casey eine Wichtigtuerin wäre. Dazu müsste sie sich ja erst mal dafür interessieren, was andere über sie dachten.

Aber Casey ließ sich natürlich nicht provozieren. »Die sind überhaupt nichts Besonderes, keine Götter oder so. Wenn du mit denen zusammen sein willst, dann geh doch einfach in diesen Laden und setz dich dazu. Vielleicht schätze ich sie ja ganz falsch ein und du findest es toll. Und wenn nicht, dann weißt du hinterher wenigstens Bescheid. In beiden Fällen war dann das Experiment erfolgreich.«

Aber ich habe mich der Cactus-Clique weder an diesem Tag noch sonst irgendwann angeschlossen, sondern mich weiter an Casey gehalten. Nicht dass sie beleidigt gewesen wäre, wenn ich mich mit den anderen angefreundet hätte. So was ist bei ihr überhaupt kein Problem. Es wäre total okay für sie gewesen, wenn ich gemacht hätte, was ich wollte, denn das tat sie selber ja auch immer. Aber genau das war der Punkt. Im Gegensatz zu mir wusste sie, was sie wollte.

Nathan wartete auf eine Antwort von mir. Ich hatte zwar gleich Geländelauf-Training, aber einmal schwänzen war vermutlich kein Problem, dachte ich und war sowieso viel zu müde zum Rennen. Ein bisschen Koffein kam da gerade richtig als Energiekick für die Hausaufgaben. Man kann sich halt alles irgendwie schönreden.

»Okay«, sagte ich so beiläufig wie möglich und ging mit Nathan zu den anderen.

Was dann folgte, war so eine Art überirdische Erfahrung – vom gemeinsamen Gang durch die Einkaufsmeile von Galloway bis zum Aufenthalt im Cactus. Sie wirkten alle so locker und entspannt, wie sie da herumwitzelten und ihren Spaß hatten. Und sie gaben sich auch wirklich Mühe, mich mit einzubeziehen. Nathan zahlte sogar meine Cola.

»Da kannst du dir was drauf einbilden«, lachte Nicole. »Nathan ist nämlich sonst nicht so freigiebig.«

»Wie geht dieses Sprichwort? Dem Dummen rinnt das Geld durch die Finger. Aber zum Glück bin ich ja nicht dumm«, entgegnete Nathan.

Daraus schloss ich zwei Dinge: erstens, dass ich vielleicht wiederkommen durfte, und zweitens, dass ich in diesem Fall selbst zu zahlen hatte. Aber das ging für mich schon klar. Alle in der Runde beglichen ihre Rechnung selbst. Für mich galten also die gleichen Regeln.

Von Casey war nicht die Rede. Sie fragten mich nach meinem Wochenendjob, und ich erzählte, dass ich im Altersheim müffelnde Bettwäsche wechseln musste. Jemand riss einen Witz über alte Leute, was eine ganze Serie von platten Witzen zum Thema auslöste. So dümmlich ich sie auch fand, ich lachte trotzdem darüber.

Die Leute aus der Clique machten sich über andere Gäste des Lokals lustig und verschütteten mit Absicht Zucker auf dem Tisch, »damit die Kellnerin für ihr Geld auch was tun musste«. Sie hechelten den Schultag noch mal durch, klärten mich auf, wer gerade mit wem liiert war, und weihten mich in den neuesten Lehrertratsch ein. Ihre Gespräche drehten sich tatsächlich um lauter Nichtigkeiten. Aber mir gefiel das. Ich war zwar nicht so ganz locker, weil ich mich bei ihnen ja gewissermaßen noch in der Probezeit befand, aber ich lachte an den richtigen Stellen und lieferte sogar eigene Beiträge zur Unterhaltung.

Als ich eine abfällige Bemerkung über einen alten Mann am Tisch gegenüber machte, prusteten alle los, als ob ich was total Schlaues gesagt hätte.

Keiner erkundigte sich, was ich für Bücher las. Niemand brachte ein aktuelles Ereignis ins Spiel und wollte wissen, was ich darüber dachte. Keiner interessierte sich für mein Lauftraining. Was mich beschäftigte, spielte überhaupt keine Rolle. Alles war sehr, sehr entspannt.

Und da schlich sich plötzlich ein Gedanke in mein Hirn – so klar und deutlich wie eine Schlagzeile in der Zeitung: Es ist nur deine verdammte Schuld, dass ich jahrelang keinen Draht zu diesen Leuten hatte, Casey.

Nach rund einer Stunde verabschiedeten wir uns herzlich voneinander, und auf dem Heimweg ging Nathan noch ein Stück mit mir mit, ehe er an der Spruce Street abbog.

»Bis morgen«, rief er mir noch hinterher. Ich war mir da zwar nicht so sicher, denn schöne Sachen sind ja bekanntlich nie von Dauer, aber zumindest fühlte ich mich so beschwingt wie schon seit Wochen nicht mehr und spazierte den restlichen Weg mit federnden Schritten nach Hause.

Aber als ich dort ankam, hörte das Federn schlagartig auf, denn auf dem Tisch im Flur lag wieder ein Brief von Casey.