Kapitel 6

Der Anwalt beendete die Fragerei und lotste uns allesamt aus dem Raum, den Korridor entlang und durch den Haupteingang hinaus ins Freie, wo strahlend die Sonne schien.

»Du hast nichts zu befürchten«, beruhigte er mich. »Wenn du willst, kannst du noch mal mit der Polizei reden, aber du musst nicht. Auf jeden Fall fand ich den Ton dieser Ermittlerin ziemlich unpassend«, sagte er noch zu meinem Vater, ehe er sich mit ihm wie üblich für Mittwoch früh auf dem Golfplatz Piney Lakes verabredete. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr los. Auch mein Vater ging zu seinem Auto. Ich sah mich suchend nach meiner Mutter um, aber die war schon losgelaufen. Jeder ging halt seiner Wege.

Ich hätte Mom natürlich hinterherrennen und mit ihr zusammen nach Hause gehen können, aber das war so ziemlich das Letzte, was ich jetzt wollte. Und zu Casey konnte ich ja auch nicht. Ich hatte echt keine Ahnung, was ich mit mir anfangen sollte.

Da fiel mir ein, dass gerade Kirmes war. Zwar war ich gerade alles andere als in Kirmeslaune, aber wenigstens war es ein Plan. Also schloss ich mein Fahrrad los und machte mich auf den Weg.

Die Herbstkirmes von Galloway fand immer im Lion’s Park statt, das war eine Freifläche gleich neben dem Friedhof – für den Fall, dass mal einer von den Festbesuchern vor lauter Aufregung tot umfällt. Also, aufregend war der Rummel nicht wirklich, aber damit passte er ja bestens zu Galloway.

Ich bezahlte am Eingang ein paar Kröten Eintritt, stellte mein Fahrrad irgendwo ab und schlenderte ein bisschen herum.

Sonst sind Casey und ich immer zusammen auf den Jahrmarkt gegangen, und als wir noch kleiner waren, fanden wir das irre aufregend. Aber eigentlich war es jedes Jahr das Gleiche und nach zwei Schritten hatte man so ziemlich alles gesehen: drei bis vier Karussells für die ganz Kleinen, genauso viele größere Fahrgeschäfte, ein paar Losbuden und die üblichen Fressstände. Die Preise waren auch jedes Jahr mehr oder weniger dieselben. Selbst das Grünzeug und die Backwaren auf der Landwirtschaftsausstellung sahen immer gleich aus.

Gelangweilt lief ich umher. Mehrmals dachte ich, ich hätte Casey gesehen – einmal am Fischteich von den Lady Lions und dann noch mal am Stand mit den Slush-Getränken. Aber natürlich hatte ich mich getäuscht.

Trotzdem hörte ich ständig ihren Namen.

»Diese Casey White ist verhaftet worden.«

»Wohl wegen Mord.«

»Diese Kinder heutzutage. Da läuft doch was gründlich schief. Ich meine, wir haben auch schon mal was angestellt, aber doch niemanden umgebracht.«

»In der Nähe von Galloway sind schon öfter Kinder verschwunden. Nicht dass ich Beweise hätte, dass sie was damit zu tun hat, aber solche Leute machen das ja meistens nicht nur einmal – das hört man doch immer.«

Der Mord an Stephanie Glass war das größte Ereignis in Galloway seit dem Bau der neuen Tankstelle vor zwei Jahren. Vielleicht kam es mir ja nur so vor, aber ich hatte den Eindruck, dass die Eltern ihre Kinder jetzt fester an die Hand nahmen und schneller panisch wurden, wenn eins mal kurz aus ihrem Blickfeld verschwand.

Ich stellte mich neben ein Karussell, bei dem die Kids mit kleinen Booten im Kreis fahren und dabei mit den Händen im Wasser planschen konnten.

23. August

2. Tag

»Du darfst heute nicht mit den anderen aus der Gruppe Kanu fahren«, sagt Casey zu Stephanie.

Die anderen Kinder gehen schon mal voraus zum Frühstück, während Casey und ich uns noch mit Stephanie auseinandersetzen.

»Einfach zu verschwinden, vor allem so wie gestern nach dem Baden, ist absolut unmöglich. Wir haben gedacht, du wärst ertrunken, und wollten schon die Polizei rufen!«

»Da hättet ihr euch aber ganz schön blamiert, wenn die Polizei gekommen wäre, denn ich war ja gar nicht ertrunken«, antwortet Stephanie. »Falschen Alarm können die gar nicht leiden.«

»Schön, dass du dich da so gut auskennst«, sagt Casey und ist dabei immer noch ganz ruhig. »Weißt du, was es bedeutet, wenn man einer Forderung Nachdruck verleiht?«

Stephanie weiß Bescheid. »Wenn man zu einem Hund ›Sitz!‹ sagt und ihn dann so lange haut, bis er es auch macht. Klappt bei meinem Hund aber nicht. Wahrscheinlich haue ich ihn nicht doll genug.«

Casey und ich sehen uns über Stephanies Kopf hinweg an. Casey wird langsam ungehalten.

»Du sollst überhaupt nichts und niemanden hauen«, erklärt sie. »Um der Forderung, dass du nicht weglaufen und dich verstecken sollst, Nachdruck zu verleihen, wirst du heute Morgen vom Kanukurs ausgeschlossen. Bei der Einweisung an Land darfst du noch mitmachen, aber wenn die anderen aus deiner Gruppe die Kanus zu Wasser lassen, werden wir beide auf der Bank sitzen und zuschauen.«

Stephanie sagt nichts dazu.

»Ich weiß, dass du das jetzt gemein findest«, fügt Casey hinzu, »aber vielleicht können wir uns auf der Bank mal ein bisschen darüber unterhalten, was du besonders gerne magst. Vielleicht können ja wir im Laufe der Woche was davon machen.«

Stephanie dreht sich um, schaut Casey ins Gesicht und sagt: »Gar nichts weißt du.«

Ich sehe, wie Casey antworten will. Ich versuche, ihren Blick aufzufangen, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nicht weiter darauf eingehen soll. Aber sie redet immer weiter und kümmert sich gar nicht um das, was ich vielleicht dazu denke.

Da lasse ich sie einfach machen und jage die anderen Kinder den Hügel hoch zum Frühstück.

Aber das Frühstück ist mir egal. Es ist ja nur ein Zeichen dafür, dass wieder ein bescheuerter Tag anfängt.

Als es Vormittag wird, traben wir alle runter an den Strand. Der Rettungsschwimmer spult erst seinen Sicherheitskram ab und setzt die Kids dann paarweise auf Baumstämme, damit sie lernen, wie man das Paddel richtig hält.

Casey und ich haben dabei gut zu tun, denn manche Kinder können ihre linke und rechte Hand nicht auseinanderhalten. Deshalb kriegen wir auch nicht mit, dass Stephanie sich schon wieder selbstständig gemacht hat und zum Anlegesteg gegangen ist. Dort hat sie alle Kanus losgemacht und ins Wasser geschoben. Der Wind treibt sie in den verkrauteten Teil der Bucht. Casey und ich müssen ihnen hinterherschwimmen und sie alle einzeln wieder zum Steg ziehen. Dabei geht die ganze Kanuzeit der Gruppe flöten.

»Ich hab doch gar nichts gemacht!«, behauptet Stephanie, als ich sie zur Rede stelle. »Habt ihr mich dabei beobachtet? Nein. Also war ich’s auch nicht.«

Aber als sie sieht, wie Casey und ich uns die Blutegel von den Beinen klauben, grinst sie hämisch. Und sie wirft ihr langes lockiges Haar zurück, als sich die anderen Kinder über die vermasselte Gelegenheit beschweren.

»Man kann sich nirgendwo mehr sicher fühlen«, hörte ich eine Frau sagen, die gerade ihrem Kind zuwinkte, das in einem der kleinen Boote saß.

»Wir hatten diese Casey oft als Babysitterin«, berichtete eine andere Frau. »Nie wieder. Ich werde meine Kinder auf jeden Fall mal beim Psychologen vorstellen.«

»Hat man ihr denn was angemerkt?«

»Was soll denn das heißen? Denken Sie, dass ich ihr dann meine Kinder anvertraut hätte?«

»Nein, ich meine, wenn Sie noch mal zurückdenken. Ist Ihnen an ihr irgendwas Komisches aufgefallen?«

»Nicht dass ich wüsste. Sie war die perfekte Babysitterin. Immer pünktlich, immer zuverlässig, hat das Haus ordentlich verlassen und die Kinder fanden sie nett. Ich musste mir nie Sorgen machen, dass sie sich Jungs einlädt, wenn wir nicht da waren. Na ja, wenn eine dermaßen perfekt ist, macht man sich natürlich schon so seine Gedanken, ob sie damit nicht doch was vertuschen will. Höchstwahrscheinlich Drogen. Darauf läuft es doch meistens hinaus, oder?«

Meine Mutter wäre ihr an die Kehle gesprungen. Aber ich schlenderte einfach nur weiter in Richtung Schafweide, wurde aber unterwegs aufgehalten.

»Ziemlich übel das mit Casey, was?«

Neben mir stand Amber Bradley. Wir waren zwar nicht befreundet, aber auch nicht direkt verfeindet. In der 6. Klasse hatten wir mal zusammen ein Geo-Projekt gemacht, irgendein Inka-Modell. Sie gehörte definitiv zur coolen Fraktion.

»Jep«, antwortete ich. »Jetzt verpasst sie die ganzen tollen Sachen hier.«

Abfällige Bemerkungen über die Kirmes gehörten unter den Jugendlichen aus Galloway zum guten Ton.

»Ist genau wie bei den kleinen Jungs, die in dieser Schule rumgeballert haben«, fügte Amber hinzu.

»Was für Jungs und welche Schule denn? Und was hat das damit zu tun?«

»Na, wenn die Kleine ’ne Knarre dabeigehabt hätte, würde sie jetzt noch leben.« Dieser Spruch kam von Nathan Ivory, einem dauergrinsenden Typen, dessen Eltern den Schreibwarenladen in Galloway betrieben.

Er war derjenige, den Casey damals vom Stuhl geschubst hatte, weil er ihre Gottesanbeterin gekillt hatte. Er und noch ein paar andere – allesamt Leute aus der Clique, zu der auch Amber gehörte – waren jetzt zu uns rübergekommen.

Die Vorstellung von Monstergöre Stephanie mit einer Knarre in der Hand jagte mir eine Gänsehaut den Rücken runter, aber das sagte ich natürlich nicht, sondern merkte nur an: »Stephanie war doch erst acht.«

»Man kann damit nicht früh genug anfangen«, meinte Nathan, entsicherte ein imaginäres Maschinengewehr und feuerte in die Runde. Wenn er in Ambers Nähe war, wirkte er immer wie bei einem Schauspielcasting.

»Was diese Jungs angeht«, sagte Amber und warf ihr Haar zurück. »Alle haben gemeint, dass die total normal waren.«

»Das hat keiner gesagt«, antwortete ich.

»Dass Casey normal ist, kann man nun nicht gerade behaupten.«

»Was soll das denn heißen?«, gab ich zurück.

»Ach komm, Jess. Schon klar, dass sie deine beste Freundin ist, aber du musst doch zugeben, dass sie ’nen ganz schönen Knall hat. Man kann ihr ja nicht mal Guten Morgen sagen, ohne dass sie einen mit irgendwelchem Käferkram zutextet.«

»Sie will halt Entomologin werden«, verteidigte ich sie.

»Und ich will Chirurgin werden, aber deswegen laber ich doch nicht am laufenden Band über Körperteile«, schimpfte Amber.

Das war nun der Witz des Jahres, denn Amber war sogar zu dämlich gewesen, um den Erste-Hilfe-Teil des Babysitterkurses zu bestehen, den wir in der Achten zusammen gemacht hatten.

»Keine Ahnung, ob Casey schon mal ein Date hatte«, warf jemand ein. »Schon schräg. Ich meine, sie ist ja nicht direkt hässlich oder so.«

»Passt doch ins Bild«, warf Nathan ein. »In der Zeitung stand, dass ein paar von Stephanies Klamotten fehlten. Casey ist wahrscheinlich so ’ne abartige Perverse.«

»Was?«, rief ich entsetzt.

»Ist sie echt pervers, Jess?«, hakte Amber nach. »Weil, ich meine, wenn das jemand weiß, dann ja wohl du. Schließlich hängt ihr ja viel zusammen rum und so.«

»Ja genau, ihr seid doch so was wie beste Freundinnen«, ergänzte Nathan.

Mein Mund ging auf und zu wie bei einem Fisch an Land. Dann kehrte ich ihnen den Rücken und ließ sie einfach stehen.

»Wann hattest du eigentlich dein letztes Date, Jess?«, schrie mir noch jemand hinterher. Ihr Gelächter begleitete mich bis zum Parkausgang. Und vermutlich auch die Blicke sämtlicher Jahrmarktsbesucher.

In dieser Nacht wachte ich um zwei Uhr auf. Ich holte mein Fahrrad und kurvte in der schlafenden Stadt herum. Die Polizeiwache mied ich sorgfältig. Stattdessen fuhr ich rüber zum Lion’s Park, wo die Kirmes schon wieder halb abgebaut war.

Unter dem Dinosaurier-Gerippe der teilweise demontierten Wilde-Maus-Achterbahn stieg ich vom Rad. Weil ich meine Freundin so sehr vermisste und weil das Alleinsein mich so fertigmachte, setzte ich mich hin und fing an zu weinen.

Am Ende schlief ich unter der Wilden Maus ein. Erst in der kalten Morgenluft wachte ich wieder auf, zitternd und von Tau bedeckt. Mir fiel ein, dass heute die Schule wieder anfing.

Mein Kopf war ganz leer. Ohne Casey schaff ich das nicht, dachte ich.

Und eigentlich hatte ich das auch gar nicht vor.

Durch dichten Nebel radelte ich nach Hause. Ich machte mir nicht mal die Mühe, zu duschen oder mich umzuziehen. Von der Küchentheke nahm ich Moms Autoschlüssel, schloss den Kofferraum auf und fing an, meine Campingausrüstung einzuladen. Danach ging ich in mein Zimmer und stopfte ein paar Klamotten in meine Reisetasche. Casey und ich hatten dieselbe Kleidergröße – obwohl sie ein paar Zentimeter größer war als ich.

Als ich die Tasche zumachte, hörte ich aus den Schlafzimmern meiner Eltern, dass sie am Aufstehen waren, und beeilte mich. Hastig kritzelte ich Mom noch eine Nachricht, dass ich ihr Auto hatte, legte den Zettel auf den Küchentisch und verließ das Haus.

An diesem Morgen hatte Casey ihren ersten Gerichtstermin. Aus dem Polizeirevier konnte ich sie ja wegen der hohen Polizistendichte dort nicht befreien, aber vielleicht fand sich im Gerichtsgebäude eine bessere Gelegenheit. Wenn ich es schaffte, früh genug da zu sein, um im Verhandlungssaal einen Platz ganz vorn zu erwischen, könnte ich mich sofort auf Casey stürzen, sobald sie hereingeführt wurde. Wir mussten uns den Überraschungseffekt zunutze machen. Noch bevor jemand reagieren konnte, wären wir schon zur Tür raus und über alle Berge. Wir könnten untertauchen, im Zelt schlafen, uns Jobs suchen und ein neues Leben anfangen. Vielleicht schafften wir es ja sogar an einer wenig bewachten Stelle über die Grenze. Ich wollte sie so weit weg von Galloway bringen wie möglich. Und selber wollte ich hier auch nicht mehr bleiben.

Ich war noch gar nicht richtig wach.

Der Parkplatz hinter dem Gerichtsgebäude war halb leer, als ich in die Einfahrt bog. Ich platzierte das Auto mit der Motorhaube in Richtung Highway, damit wir nachher sofort losrasen konnten. Dann stellte ich den Motor ab, streckte mich hinter dem Lenkrad, so gut es ging, und schloss ganz kurz die Augen.

Als ich sie wieder aufmachte, war der Parkplatz brechend voll.

Ich war total verwirrt und wusste einen Moment lang nicht mal mehr, was ich hier eigentlich wollte. Aber dann sammelte ich mich und ging auf den Eingang des Gerichtsgebäudes zu.

Schon vom Parkplatz aus konnte ich die Menschenmenge hören, und als ich um die Ecke kam, sah ich sie am Eingang stehen. Manche hatten Plakate dabei: Auge um Auge, Gerechtigkeit für Stephanie – daneben war ein Galgenstrick gemalt. Es gab noch andere Varianten, aber alle trachteten nach dem Leben meiner besten Freundin.

Auch die Medien waren präsent. Vier verschiedene Fernsehsender hatten Kamerateams geschickt, die wahllos Leute interviewten. Einige von denen, die da ins Mikro plapperten, hatten null Bezug zu Casey oder Stephanie, soweit ich das beurteilen konnte.

Auch Amber Bradley flötete gerade in eine TV-Kamera und hatte sich in Schale geworfen, als wolle sie gleich über einen Laufsteg stolzieren.

»Wir haben immer geahnt, dass sie mal so was machen würde«, berichtete Amber eifrig und schüttelte dabei den Kopf, damit ihre Haare anmutig um die Schultern wippten. »Keiner von uns war richtig mit ihr befreundet. Dazu war sie viel zu abgedreht.«

Ich ging an Amber vorbei ins Gerichtsgebäude hinein.

Den richtigen Verhandlungssaal zu finden, war kein Problem, man musste nur dem Lärm folgen.

Auch vor der Saaltür stand eine Traube von Menschen.

»Warum dürfen wir denn nicht rein?«, rief jemand. »Wir haben ein Recht darauf, dabei zu sein.«

Detective Bowen stand an der Tür und bewachte sie. »Der Gerichtssaal ist überfüllt«, verkündete sie.

Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge. Nachdem sie mich zweimal derart in die Mangel genommen hatte, konnte sie mir ruhig mal einen Gefallen tun, befand ich.

»Kann ich rein?«, sprach ich sie an.

Ohne zu antworten, öffnete sie die Tür einen Spalt und schob mich durch. Ich ließ den Lärm hinter mir und betrat die Stille des kleinen Gerichtssaals.

Ich schob mich in eine Bank ganz hinten, neben lauter Leute, die ich noch nie gesehen hatte. Ein paar Reihen vor uns erkannte ich einige Mitglieder unserer Kirchgemeinde. Caseys Eltern saßen ganz vorn. Eigentlich hätte ich zu ihnen hingehen und sie begrüßen müssen, aber ich tat es nicht. Stattdessen verschränkte ich die Arme und starrte angestrengt auf das Bild der Queen, das hinter dem Platz des Richters an der Wand hing.

Als der Richter hereinkam, standen alle auf, und dann setzten wir uns wieder. Danach passierte erst mal eine Weile nichts weiter, als dass wild in Unterlagen geblättert und Papiere hin und her gereicht wurden. Eine ganze Zeit debattierten die beiden Anwälte über ein bestimmtes Dokument, das sie nicht finden konnten und beim jeweils anderen vermuteten. Mit versteinerter Miene sah der Richter zu, bis alles geklärt war.

»Ist der Staatsanwalt dann so weit?«, fragte der Richter nach einer Weile.

»Ja, Euer Ehren«, antwortete ein großer, hagerer Mann in einem tadellos gebügelten Anzug. »Können wir Casey White jetzt bitte vorführen?«

Die Gerichtsangestellte steckte ihren Kopf durch eine Tür hinter der Richterbank und rief: »Casey White!«

Casey wurde von zwei Polizeibeamten in den Gerichtssaal gebracht. Bei ihrem Anblick stockte mir der Atem und mein Herz raste.

Caseys langes rotes Haar hing ihr wirr ins Gesicht. Ihre Hände waren mit einer Kette gefesselt, die an ihrer Hüfte hing. Und nach ihrem schlurfenden Gang zu urteilen, trug sie auch Fußfesseln. Als sie bei der Anklagebank angekommen war, drehte sie sich zu den beiden Beamten um. Als ihr die Handschellen und Ketten abgenommen wurden, hallte das Klicken und Rasseln durch den stillen Gerichtssaal. Dann nahm sie auf der Anklagebank Platz.

Mit ihren nunmehr freien Händen strich sich Casey die Haare aus dem Gesicht. Wieder hielt ich den Atem an und ihre Mutter stieß einen unterdrückten Schrei aus. Caseys Gesicht war völlig zerkratzt, ein Auge geschwollen und blau angelaufen.

»Euer Ehren, was hat denn das zu bedeuten?« Die Verteidigerin sprang auf. »Meine Mandantin wurde erst vor zwei Tagen verhaftet, und zwar unversehrt. Wir fordern eine Erklärung für diesen Zustand.«

»Das kann ich Ihnen sehr gern darlegen, Euer Ehren«, erwiderte der Staatsanwalt.

»Derartige Erklärungen können bis nach der Vorstellungsrunde warten«, wandte der Richter ein. »Mr Jack Tesler, ich bin schon im Bilde, dass Sie die Krone vertreten. Würde sich jetzt bitte noch die Verteidigung dem Gericht vorstellen?«

»Mein Name ist Mela Cross. Ich bin beauftragt, Casey White zu vertreten.«

»Sehr gut«, sagte der Richter. »Und nun Mr Tesler bitte, Ihre Erklärung.«

»Die Angeklagte hat einen Fluchtversuch aus dem Polizeigewahrsam unternommen, woraufhin ihre Bewegungsfreiheit unter Anwendung legitimer Polizeigewalt eingeschränkt wurde.«

»Im Polizeirevier gibt es überall Überwachungskameras«, sagte Mela Cross. »Würden Sie bitte Videobeweise für die legitime Polizeigewalt vorlegen?«

»Unglücklicherweise war die Kamera am betreffenden Tag in diesem Bereich defekt«, entgegnete Mr Tesler.

»Na, so ein Zufall aber auch«, gab Ms Cross sarkastisch zurück.

»Vor dem Gerichtssaal ist die Stimmung aufgeheizt genug«, schaltete sich der Richter ein. »Hier drinnen sollten wir doch versuchen, sachlich zu bleiben. Ms Cross, wenn Ihre Mandantin der Polizei unangemessen brutale Behandlung vorzuwerfen hat, dann ist dies über die dafür vorgesehenen Wege geltend zu machen. Mr Tesler, wenn Sie den Fluchtversuch in der Anklage festhalten möchten, dann wissen Sie, was zu tun ist. Und falls die Angeklagte nochmals Verletzungen erleidet, dann erwarte ich, dass die Kameras funktionieren. Die Aufnahmen sind mir vorzulegen, haben wir uns verstanden? Wir haben uns hier heute eingefunden, um die Klageerwiderung und die Argumente pro und contra Freilassung auf Kaution zu hören. Ms Cross, ist Ihre Mandantin bereit für die Verlesung der Anklageschrift?«

»Diese Vorwürfe sind zwar allesamt völlig abwegig, aber lesen Sie ruhig alles vor.«

»Heben Sie sich Ihre Einwände für später auf, Ms Cross. Die Justizangestellte wird nun die Anklagepunkte verlesen.«

Die Mitarbeiterin erhob sich und las den Text mit deutlicher, aber total ausdrucksloser Stimme vor, als würde es sich um eine Einkaufsliste handeln. Ihre Worte hatten nichts mit meiner Freundin zu tun.

»Casey Anne White wird vorgeworfen, am oder um den 21. August 2010 in der Gemeinde Galloway Stephanie Glass vorsätzlich getötet und sich damit des vorsätzlichen Mordes schuldig gemacht zu haben.«

»Ms Cross, möchte Ihre Mandantin an dieser Stelle eine Schulderklärung abgeben?«

Ms Cross sah Casey an, die mit lauter und fester Stimme antwortete: »Nicht schuldig.«

»Mr Tesler, welche Position vertritt die Krone zum Thema Kaution?«

»Aufgrund der schwerwiegenden Anschuldigungen und da die Angeklagte bereits unter Beweis gestellt hat, dass ein erhebliches Fluchtpotenzial besteht …«

Dann erläuterte er in allen Einzelheiten, wie hochgefährlich Casey war.

Während er sprach, sah sich Casey im Gerichtssaal um. Ich wusste genau, dass sie nach mir Ausschau hielt. Zuerst lächelte sie ihre Eltern an und versuchte ihnen mitzuteilen, dass sie sich keine Sorgen um sie machen sollten. Dann schaute sie zu mir. Unsere Blicke trafen sich und einen Moment lang fühlte ich mich wieder so stark wie sonst. Sie grinste mich an und ließ dann Daumen und Zeigefinger zuschnappen. Sie war jetzt die Gottesanbeterin, die dem Staatsanwalt den Kopf abbiss.

Sämtliche Anwesenden – Richter, Anwälte, Justizangestellte, alle – verfolgten ihren Blick. Ich merkte, wie mich plötzlich alle anstarrten.

Natürlich hätte ich zurücklächeln sollen. Ich hätte grinsen und winken und ihre Geste erwidern müssen. Was hätte ich mir damit denn schon vergeben? Überhaupt nichts. Aber ich tat nichts dergleichen.

Stattdessen wandte ich meinen Blick ab und tat so, als würde sie jemand anders ansehen.

Das Kautionsgesuch wurde abgelehnt.

Casey wurden wieder die Fesseln angelegt. Ich konnte genau hören, wie die Handschellen klickten. Als sie abgeführt wurde, schaute ich weg.

Erst auf dem Weg zum Ausgang fiel mir wieder ein, dass ich sie ja eigentlich retten wollte. Ich brachte Moms Auto nach Hause, verstaute mein Campingzeug und fuhr mit dem Rad zur Schule. Es war der erste Tag nach den Ferien, und ich war nicht die Einzige, die zu spät kam.

Abends in den Fernsehnachrichten ließ sich der Staatsanwalt darüber aus, wie niederträchtig Casey im Gerichtssaal gegrinst hatte. Und zwar genau in dem Moment, als er sie eine kaltblütige Mörderin genannt hatte. Das kam gar nicht gut rüber.