Kapitel 19

Zu Hause herrschte Schweigen und in der Schule auch. Ab und zu kam mal ein Mitschüler auf mich zu und sagte dann so was wie: »Ich kapier echt nicht, wie du Casey das antun konntest. Ich dachte immer, du wärst ihre beste Freundin.«

Haargenau das, wovor ich mich am meisten fürchtete, war passiert: Ich war allein. Den ganzen zwischenzeitlichen Blödsinn mit der Cactus-Clique hätte ich mir voll sparen und stattdessen lieber auf direktem Weg in den Zustand der Einsamkeit übergehen sollen.

Wochenlang hörten Dad und ich kein einziges Wort von Mom. Es war zwar eine Erleichterung, nicht mehr ihre endlosen Vorträge über Freundschaft anhören zu müssen, aber ihr Schweigen hatte etwas Unheilvolles. Es sagte aus, dass sie mich abgeschrieben hatte. Und es bedeutete, dass sie irgendwohin entschwand, wo niemand sie erreichen konnte.

Ich stand weiter zu meiner üblichen Zeit mitten in der Nacht auf, um so lange durch die Stadt zu laufen oder zu joggen, bis ich mich in der Lage fühlte, wieder ins Bett zu gehen. Mein Fahrrad fehlte mir, aber ich unternahm nichts, um es zurückzubekommen.

Wenn ich von meinen nächtlichen Ausflügen zurückkehrte, war Mom jedes Mal auf. Manchmal streifte sie durchs Haus, oder sie versuchte gerade, einen großen Sessel oder so was durch die Tür zu hieven, um ihn zu den Whites zu schaffen. Dann nahm ich ihr den Sessel – oder was auch immer – ab. Sie überließ ihn mir und ich stellte ihn wieder ins Wohnzimmer neben die Couch. Manchmal saß sie auch einfach nur da und sah mich an, wenn ich durch die Hintertür kam. Ich fühlte, wie sie mir hinterhersah, wenn ich die Treppe hochging, bis ich die Tür hinter mir schloss und ihren Blick aussperrte.

Nie sagte sie ein Wort.

Dad und ich warteten auf den unvermeidlichen Zusammenbruch.

Und der kam in der Tat.

Nach einem meiner nächtlichen Streifzüge war ich gerade tief und fest eingeschlafen, als mich ein lauter, dumpfer Knall aufweckte. Noch ehe mein Gehirn überhaupt mitbekommen hatte, dass ich wach war, sprang ich auch schon aus dem Bett und rannte die Treppe runter. Dad kam gleichzeitig mit mir in die Küche. Und einen langen, furchtbaren Moment konnten wir nichts anderes tun als sie wortlos anstarren.

Mom lag auf dem Boden. Auf ihr lag der Kühlschrank und klemmte sie dort ein.

Ich ging zu ihr hin, packte den Kühlschrank an einer Ecke und versuchte ihn anzuheben. Meine Füße standen in einem Meer aus zerbrochenen Eiern, Orangensaft und anderem verschütteten Zeug. Der Kühlschrank ließ sich kein Stück bewegen.

»Lass es«, sagte mein Vater und griff nach dem Telefon.

»Dad, hilf mir endlich!«, verlangte ich, aber er drehte Mom und mir den Rücken zu und sprach ins Telefon. Ich wusste, dass er das Krankenhaus anrief. Ich wusste, dass er anrief, damit jemand kam und Mom wegbrachte.

Ich raste nach oben und griff mir ein Kissen von meinem Bett. Damit beugte ich mich zu ihr hinunter und schob es ihr unter den Kopf.

»Lass es«, sagte Dad wieder, und seine Hand hielt mein Handgelenk fest. »Vielleicht ist ihr Rückgrat verletzt. Beweg sie nicht.«

Ich wischte ihr das Gesicht mit einem warmen Lappen ab und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

»Wohin gehst du nachts immer, meine Jude?«, fragte sie mit schwacher Stimme. »Warum nimmst du mich nie mit?«

Ich konnte ihr keine Antwort geben. So setzte ich mich bloß neben sie auf den Boden, bis die Sanitäter in unsere Küche gestürmt kamen.

Dad schob mich auf die andere Seite der Küche, damit sie mehr Platz zum Arbeiten hatten. Ihre lauten, deutlichen, unbeteiligten Stimmen waren ein gewisser Trost. Sie wussten genau, was zu tun war.

»Ich werd den Kühlschrank zu den Whites schaffen«, sagte Mom mehr zu sich selbst als zu einem von uns.

»Das hier wird Sie beruhigen, Mrs Harris«, sagte einer der Sanitäter und gab ihr eine Spritze in den Arm. Dad half ihnen, den Kühlschrank von ihr herunterzuheben. Als ich den Zustand ihrer Beine sah, schrie ich auf. Ich konnte nicht anders.

Dad ging mit mir ins Wohnzimmer und legte mir eine Decke um die Schultern, während die Sanitäter Mom für den Abtransport vorbereiteten. Es dauerte lange. Dad machte mir einen heißen Kakao. Ich trank ihn nicht, aber die Wärme der Tasse fühlte sich gut in meinen Händen an.

Schließlich hatten sie Mom auf der Trage. Sie trugen sie aus dem Haus und die Eingangstreppe hinunter.

»Ich fahre hinter ihnen her zum Krankenhaus«, sagte Dad. »Willst du mitkommen oder kommst du hier klar?«

Als Antwort stürzte ich aus dem Haus und holte die Sanitäter ein, die gerade die Trage in den Krankenwagen hoben.

»Mom!«, schrie ich.

»Judie? Meine Judie?« Moms Stimme war schwach von den Schmerzen und dem Beruhigungsmittel. Sie streckte den Arm aus und ergriff meine Hand. »Geh weg von hier, meine Jude. Geh weg aus dieser Stadt. Bevor sie mit dir macht, was sie mit mir gemacht hat!«

Dann verlor sie offenbar das Bewusstsein und ihre Hand fühlte sich ganz schlaff an. Die Sanitäter schoben ihre Trage an den richtigen Platz, und ich wich zurück, als die Türen des Krankenwagens zugeschlagen wurden.

Dad fuhr aus der Einfahrt, um dem Krankenwagen zu folgen, und ich ging wieder ins Haus. Ich schaltete den Fernseher an und saß einfach nur da.

Moms Beine hatte es ziemlich erwischt. Ein bleibender Schaden war zwar nicht zu befürchten, aber bis zur vollen Genesung war es noch ein weiter Weg.

»Gewebe heilt wieder«, sagte der Arzt zu Dad und mir. »Die größeren Sorgen bereitet mir allerdings ihr seelischer Zustand. Gehen Sie lieber nicht davon aus, dass sie in absehbarer Zeit wieder nach Hause kann.«

Sonst war Mom immer drei bis vier Wochen im Krankenhaus gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es diesmal dauern würde.

Irgendwie überstanden wir Weihnachten, Dad und ich. Na ja, eigentlich umgingen wir es eher. Am ersten Feiertag fuhren wir Mom besuchen, aber sie reagierte nicht auf uns, und die aufgesetzte Krankenhaus-Fröhlichkeit deprimierte uns beide. Ich versuchte, mich in meinen Schulkram zu stürzen. Ich lieh mir einen Stapel alter Kriegsfilme aus der Videothek aus und verbrachte die Feiertage damit, anderen dabei zuzusehen, wie sie in die Luft gesprengt wurden. Dad fuhr jeden Abend nach der Arbeit zu Mom in die Klinik, aber ich wollte da nicht wieder hin.

»Ihre Beine machen gute Fortschritte«, sagte der Arzt Anfang Januar, »aber es beunruhigt mich, dass sie nicht spricht. Sobald sie wieder bei Kräften ist, machen wir mit der Elektrokrampftherapie weiter.«

Zu meiner großen Erleichterung wurde ich in der Schule in Ruhe gelassen. Ich war heilfroh, die Cactus-Clique los zu sein. Mich weiter an ihren Gesprächen über nichts zu beteiligen, wäre mir furchtbar auf den Geist gegangen.

Mom fehlte mir. Dabei war es nicht so, dass ich sie für irgendwas Bestimmtes gebraucht hätte. Ich war sehr wohl in der Lage, mich um den Haushalt und mich selbst zu kümmern, aber mir fehlte jemand, der sich dafür interessierte, ob ich auch was Anständiges zum Frühstück gegessen hatte oder ob mein T-Shirt in die Wäsche musste. Außerdem war sie ständig mit irgendwas Spannendem beschäftigt und versuchte, mich dafür zu begeistern. Sonst war mir das immer auf die Nerven gegangen, aber jetzt fehlte es mir.

Der ganz große Zirkus wegen des Mordfalls hatte sich über die Feiertage erst mal beruhigt, abgesehen von ein paar Artikeln über Stephanies Mutter, wie sie Weihnachten alleine verbringen musste. Mitte Januar, als der Termin für Caseys Prozess näher rückte, war die allgemeine Hysterie wieder da.

Am Donnerstag vor der Gerichtsverhandlung kam ein Brief von Casey.

Liebe Libelle,

es ist nicht mehr lange hin bis zu meinem Prozess. Mela sagt mir zwar ständig, dass alles gut gehen wird, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Sie hat es nicht geschafft, die Verhandlung in eine andere Stadt zu verlegen, aber ich glaube sowieso nicht, dass das so einen großen Unterschied gemacht hätte. Dieses Land ist von Uneinigkeit über so viele Sachen zerrissen, aber in einem sind sich alle einig – nämlich dass sie mich hassen! Vielleicht kriege ich ja noch den National Unity Award.

Deine Briefe kommen immer noch nicht durch. Ich kapier das nicht. Miss Burkes Briefe bekomme ich. Und die von Mrs Keefer und Deiner Mom auch. Ich begreife echt nicht, wieso die mir Deine Briefe nicht geben.

Manchmal habe ich ganz schreckliche Gedanken. Zum Beispiel, warum nicht ich mit Deanna ins Krankenhaus gefahren bin. Dann wärst Du jetzt hier und nicht ich. Ich hasse mich dafür, dass ich so was Bösartiges denke.

Ich hab keine Ahnung, wieso Stephanie tot ist und in diesem hohlen Baum versteckt war, aber ich kann kein Alibi vorweisen, und es gibt keine weiteren Verdächtigen, also habe ich wohl kaum eine Chance. Ich werde wahrscheinlich den Rest des Lebens in einem Käfig verbringen.

Tut mir leid, das ist kein schöner Brief. Ich hab gehört, dass Deine Mom wieder im Krankenhaus ist. Bitte grüß sie ganz lieb von mir. Und sag mir, ob ich irgendwas tun kann.

Schreib mir trotzdem weiter Briefe. Irgendwann werde ich sie schon bekommen.

Casey

Am nächsten Tag kam noch ein Brief für mich. Diesmal war es eine Vorladung. Ich wurde aufgefordert, im Prozess gegen meine beste Freundin als Zeugin der Staatsanwaltschaft auszusagen.