Kapitel 16
Hast du langsam genug gehört? Oder ödet dich die Story allmählich an? Ich hab schon mitgekriegt, wie du auf die Uhr gesehen hast und mit deiner Kaffeetasse spielst. Du kannst ruhig gehen, wenn du willst. Du weißt zwar längst noch nicht alles, aber vielleicht willst du den Rest ja gar nicht mehr hören. Die Tür ist nicht zugeschlossen. Keiner hält dich gegen deinen Willen hier fest.
Wenn du gehen willst, dann geh ruhig, aber tu nicht so, als ob du in dieser gottverlassenen Gegend um die Zeit irgendwo anders sein müsstest. Das nervt nämlich. Aber wenn du loswillst, dann verzieh dich, bevor ich meinen nächsten Satz beendet habe. Ob sich das jetzt gehört oder nicht, ist mir scheißegal.
Aber du gehst nicht, stimmt’s? Du bleibst, weil ich noch nicht fertig bin mit meiner Story und weil ich so ’ne Art Promistatus habe. Da fühlst du dich geschmeichelt, wenn ich dir so viel von mir erzähle.
Noch am selben Nachmittag ging ich bei den Whites vorbei, weil ich genau wusste, dass ich es nie tun würde, wenn ich es auch nur noch eine Stunde länger aufschob.
Mrs White öffnete die Tür. Sie begrüßte mich ziemlich reserviert und bat mich auch nicht herein.
»Michael geht’s nicht gut. Er vermisst Casey so sehr, und seit diese Vandalen Farbe in den Tank von unserem Auto geschüttet haben, wissen wir nicht, wie wir mit ihm zum Gefängnis kommen sollen.« Sie seufzte tief und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich rufe jeden Tag bei der Polizei an, ob sie die Täter schon gefasst haben. Aber sie sagen mir immer nur, ich soll mich gedulden.«
Als ich ihr das Käferbuch übergab und sie bat, über die Anwältin zu erreichen, dass Casey im Gefängnis Schulaufgaben erledigen durfte, hellte sich ihr Gesicht ein wenig auf.
Sie sagte ein paar freundliche Worte über Miss Burke und meinte dann: »Ich weiß, dass du sehr in die Enge getrieben wirst, Jess, und dann Sachen sagst, die du gar nicht so meinst. Ich hoffe, dass es für dich bald wieder einfacher wird.«
Ich hätte sie gern umarmt, aber sie blieb hinter der Tür in Deckung. Aus der Küche roch es lecker nach Hühnersuppe. Aber da Mrs White mich nicht zum Essen einlud, fuhr ich wieder nach Hause.
Am nächsten Morgen vor dem Unterricht erstattete ich Miss Burke Bericht. Sie war hocherfreut, dass sie über Mela Cross Schulstoff an Casey übermitteln konnte, und sah plötzlich sehr viel jünger im Gesicht aus. Was Vergebung doch alles bewirken kann, dachte ich in diesem Moment, denn Miss Burke hatte sich selbst verziehen, dass sie sich nicht früher für Casey eingesetzt hatte. Sogar ihr Rücken, der wie bei vielen älteren Damen leicht gekrümmt war, straffte sich ein bisschen.
»Ich werde heute mit den anderen Lehrern reden«, sagte sie. »Danke, Jessica. Du bist für Casey eine echte Freundin, darauf kannst du stolz sein. Du hast es im Moment bestimmt nicht leicht. Und wenn der Prozess beginnt, wird es sicher noch mal schwerer. Aber das stehst du durch, oder? Freundschaft hat eben auch ihren Preis. In meinem Leben gab und gibt es auch ein paar sehr enge Freundinnen, die mich manchmal besser kennen als ich selbst …«
Es klingelte, sodass ich mich entschuldigen und zum Unterricht rennen musste. Aber vorher umfasste sie noch mit ihrer ältlichen Hand meine Schulter und drückte sie. Diese Berührung spürte ich noch den ganzen restlichen Tag. Eigentlich wollte sie mir damit sicher Mut machen, aber es erinnerte mich nur daran, wie feige ich war.
In der Mittagspause arbeitete ich in der Kantine an der Kasse. Nathan drängelte sich zu mir vor.
»Immer schön hinten anstellen, junger Mann«, fuhr ihn die Essensaufsicht an.
Nathan trat beiseite und ließ mich weiterkassieren, während er auf mich einredete.
»Ich komm gerade vom Lehrerzimmer«, berichtete er.
»Die haben dich ins Lehrerzimmer gelassen?«
»Nee, nee, ich stand davor. Drin haben sie sich richtig gefetzt, wegen deiner Freundin Casey.«
Es gefiel mir nicht, wie er das aussprach. Das klang so, als würde mich das mehr betreffen, als mir lieb war. Aber Nathan hatte meine Existenz jahrelang nicht zur Kenntnis genommen. Insofern musste ich ihm also etwas antworten, wenn ich nicht wieder zur Unperson werden wollte.
»Was ist denn mit Casey?«
»Das kannst du dir echt nicht vorstellen! Die olle Burke hat sie bis aufs Messer verteidigt und dabei die anderen Lehrer regelrecht angeschrien. Die hat so laut gebrüllt, dass es draußen alle gehört haben.«
»Miss Burke?« Ich konnte es gar nicht fassen, denn Miss Burke wurde sonst eigentlich nie laut.
»Die Burke hat gezetert, dass die anderen Lehrer Casey ihren Lehrstoff zukommen lassen sollen, während sie im Knast sitzt. Und wer das nicht macht, der sollte sich was schämen. Die hat gesagt, dass Casey die begabteste Schülerin wäre, die diese Schule je gesehen hätte. Da haben ein paar von den anderen Lehrern zurückgebrüllt, dass sie für eine Kindermörderin keinen Finger krumm machen würden. Und dann haben sie sich nur noch angegiftet.«
Ich konzentrierte mich so sehr auf das, was Nathan da zu berichten hatte, dass ich etliche Schüler durchließ, ohne ihnen ihren Thunfisch-Snack zu berechnen. Einem anderen knöpfte ich zwar Geld ab, vergaß aber fast, das Wechselgeld rauszugeben.
»Einer von den Lehrern – ich glaube, Higgins – hat gebrüllt, dass die Burke ja wohl total senil wäre und ins Altersheim gehört, und eine andere Frau – keine Ahnung, wer – hat gedroht, gleich zur Schulleitung zu gehen, weil man jemanden so Verpeiltes wie die Burke nicht auf Kinder loslassen dürfte.«
»Und dann? Was war dann?«
»Dann ist die stellvertretende Direktorin aufgetaucht und hat mich angeschissen, dass ich im Korridor nichts zu suchen hätte. Und danach bin ich gleich hergekommen, um dir das zu erzählen.«
Ich war erst mal total geschmeichelt, dass er als Allererstes zu mir gekommen war, aber nur, bis ich den Grund dafür erfuhr:
»Ich dachte, dass du vielleicht irgendwas weißt.«
Ich zuckte die Schultern. »Die anderen Lehrer sind wahrscheinlich nicht ganz so große Casey-Fans wie die alte Burke.«
»Die ist echt voll ausgetickt.«
»Ich hab nachher gleich bei ihr Unterricht«, sagte ich. »Wenn sie noch irgendwas Schräges sagt oder macht, erzähl ich’s euch.«
Nathan sagte: »Na dann, bis später«, und ich widmete mich wieder meinem Job. Ich fühlte mich sehr wichtig in meiner Rolle als eine Art Spionin für die Clique.
Als ich im Bio-Raum ankam, war Miss Burke nicht da. Auch zehn Minuten nach dem Stundenklingeln tauchte sie nicht auf. In der Klasse machten wilde Spekulationen die Runde. Die Neuigkeit über den Zoff im Lehrerzimmer hatte sich blitzschnell rumgesprochen. Die Schüler mutmaßten: »Vielleicht ist sie gefeuert worden.« »Oder sie hat ’nen Herzinfarkt gekriegt.« Keiner von uns ahnte auch nur ansatzweise, was sich da tatsächlich gerade abspielte. Aber wir sollten es gleich erfahren.
Aus dem Lautsprecher ertönte Miss Burkes Stimme: »Liebe Schüler«, begann sie. »Es tut mir leid, dass ich den Unterricht stören muss, aber ich muss mich dringend wegen einer eurer Mitschülerinnen an euch wenden. Es geht um Casey White.
Über Casey wird eine Menge dummes Zeug geredet, dass sie angeblich eine Mörderin sei. Viele Leute in dieser Stadt – und leider auch in dieser Schule, wie ich beschämt feststellen muss – springen auf diesen Casey-ist-schuldig-Zug auf. Ich will, dass ihr damit aufhört und nachdenkt. Klappt also eure Bücher zu, legt die Stifte weg, hört mir zu und überlegt.
Wurde von euch schon mal jemand zu Unrecht beschuldigt? Erinnert ihr euch noch, wie frustrierend und einsam sich das anfühlt? Wenn Leute, die ihr für eure Freunde gehalten habt, euch plötzlich angreifen? Wenn Leute euch Vorwürfe machen und das Allerschlimmste von euch denken? Würdet ihr ihnen da nicht zurufen wollen: ›He, ich bin’s! Ihr kennt mich doch! Ihr wisst doch genau, dass ich so was nie machen würde!‹ Vielleicht habt ihr es ja sogar gesagt und es hat nichts genützt.
Ihr alle kennt Casey White. Viele von euch gehen seit der dritten Klasse mit ihr zur Schule. Ihr wisst ganz genau, dass sie zu einem so schrecklichen Verbrechen nicht fähig wäre. Casey gehört zu uns und hat mit ihrem naturwissenschaftlichen Talent schon Preise für diese Schule gewonnen. Dadurch hat sie sich ausgezeichnet und unserer Schule Anerkennung eingebracht. Und jetzt wird sie derart schlecht behandelt.«
Die Tür zu unserem Klassenraum wurde aufgerissen. Wir zuckten zusammen.
»Miss Burke hat sich im Büro mit der Sprechanlage verbarrikadiert!«, rief ein Schüler und rannte dann weiter durch den Flur, um die Nachricht zu verbreiten.
Ich war als Erste an der Tür, aber andere waren dicht hinter mir. Als wir am Büro ankamen, hatte sich davor schon eine Traube von Schülern versammelt. Mehrere Lehrer versuchten, sie zurück in die Klassenzimmer zu treiben, aber ohne Erfolg.
Miss Burke sprach immer noch über Caseys Leistungen, ihre freundliche Art und ihre Großzügigkeit. Aber alles, was sie sagte, wurde von der Menge mit Hohn und Spott kommentiert. Jemand kam sogar mit diesem idiotischen Kindervers »Miss Burke und Casey sitzen auf ’nem Baum und K-Ü-S-S-E-N sich …«
Immer mehr Schüler strömten in den Flur. Irgendwo ganz hinten hörte ich die dröhnende Stimme des Direktors, der sich durch die Menge einen Weg zum Büro zu bahnen versuchte – vermutlich mit einem Ersatzschlüssel in der Hand, aber keiner ließ ihn durch.
»Das wird Verweise hageln!«, drohten die Lehrer.
Doch niemanden interessierte das.
Miss Burkes Stimme war immer noch zu hören. »Ich lebe auf dieser Erde schon viele Jahre länger als ihr, länger als alle anderen Leute an dieser Schule. Ich habe erlebt, wie die Welt von Ungerechtigkeiten heimgesucht wurde, die durch Gier und Dummheit ausgelöst wurden. Ich habe erlebt, wie die Welt in Krieg versunken ist und wie die Menschheit einen hilflosen Kampf gegen Hunger und selbst herbeigeführte Katastrophen führt. Im Laufe der gesamten, deprimierenden Menschheitsgeschichte gab es immer wieder diese Momente, wo etwas hätte anders laufen können, wenn doch nur bestimmte Personen einen anderen Weg eingeschlagen und uns aus diesem ganzen Schlamassel herausgeholt hätten.«
Und dann passierte etwas mit den Schülern, die sich da im Korridor drängten. Sie wurden allmählich still. Miss Burke schaffte es, dass sie ihr zuhörten. Kurz darauf waren die einzigen Stimmen, die man – abgesehen von Miss Burke – noch hörte, die der Lehrer, die uns zurück in die Klassenzimmer beordern wollten.
»Eine Schule ist auch eine Gemeinschaft – genau wie ein Dorf oder eine Stadt. Die Außenwelt beeinflusst uns, so wie das in jedem Dorf oder jeder Stadt der Fall ist. Aber wir haben einen entscheidenden Vorteil. Wir sind eine geschlossene Gruppe. Wir können unsere Werte selbst bestimmen. Wir haben die Chance, hier etwas besser zu machen als in der übrigen Welt. Haben wir den Mut, diese Chance zu nutzen? Trauen wir uns das?
Ich denke schon. Ich glaube, dass die Schüler der Highschool von Galloway sich über den ganzen Unrat erheben können, den uns die Welt vor die Füße wirft – die ganzen Lügen und allzu simplen Lösungen. Wir können es besser machen und sollten jetzt gleich damit anfangen.
Fangen wir damit an, dass wir Freundschaft einen höheren Stellenwert einräumen, als andere das zulassen wollen. Casey White ist unsere Freundin, sie gehört zu uns. Sie wurde bislang keines Verbrechens schuldig gesprochen, und ich bin mir sicher, dass es dazu auch nicht kommen wird. Wir können uns ganz bewusst dafür entscheiden, sie nicht fallen zu lassen. Wir können ihr zur Seite stehen, so wie wir uns das von unseren Freunden wünschen würden, wenn wir mal in Schwierigkeiten stecken.«
»Die Bullen!«, rief jemand, und da war die Polizei auch schon im Treppenhaus und bahnte sich einen Weg, indem sie Schüler beiseiteschob oder sogar wegtrug. Sie sorgten dafür, dass der Direktor zum Büro vordringen konnte. Als er die Tür aufschließen wollte, wurde er von den Schülern ausgebuht und beworfen – Bücher und Schulutensilien, ja sogar Schuhe flogen in seine Richtung. Die Polizei machte sich nicht die Mühe, einzelne Täter herauszufischen. Sie schubsten und schlugen jeden, den sie erwischen konnten. Ich weiß nicht, ob die Schüler so aufgebracht waren, weil der Direktor Miss Burke zum Schweigen bringen wollte oder weil er den ganzen Spaß damit zunichtemachte. Das ist mir bis heute nicht klar.
Mehrere Polizisten begleiteten den Direktor ins Büro. Sie hatten sogar ihre Waffen gezogen. Das Büro mit der Sprechanlage war ein kleiner, vom Sekretariat abgetrennter Raum. Wie es Miss Burke geschafft hatte, beide Räume leer zu bekommen und sich darin einzuschließen, werde ich wohl nie erfahren.
Wir hörten, wie sie vom Mikrofon weggezerrt wurde und von einem der Beamten mitgeteilt bekam, dass sie verhaftet sei. Dann wurde die Sprechanlage ausgeschaltet. Kurz darauf brachten sie Miss Burke heraus.
Der Direktor ging mit missmutigem Gesicht voran. Die Polizisten waren große, kräftige Männer in dunkelblauen Uniformen und tief in die Stirn gezogenen Dienstmützen. Miss Burkes Hände waren hinter ihrem Rücken mit Handschellen gefesselt, genauso wie es bei Casey gewesen war. Sie wurde von zwei Beamten flankiert, die ihre Arme fest im Griff hatten. Auf den ersten Blick sah sie zwischen ihnen klein und blass aus.
Die Schülermenge johlte und applaudierte, während sie abgeführt wurde. Wieder weiß ich nicht genau, ob das aus Anerkennung für ihre Worte oder Spaß an der tollen Show passierte. Miss Burke zeigte keinerlei Reaktion in unsere Richtung, sondern ging ruhig und würdevoll zwischen den beiden Polizisten, die – das musste man ihnen zugutehalten – schon ein bisschen verlegen wirkten, dass sie einer kleinen, alten Dame im spitzenbesetzten Blümchenkleid erbarmungslos Handschellen angelegt hatten.
Bei genauerem Hinsehen sah sie allerdings überhaupt nicht klein aus, sondern ganz im Gegenteil sogar ausgesprochen groß. Sie hatte ihren Kopf hocherhoben, ihre Augen leuchteten und sie lächelte. In diesem Augenblick wirkte sie mindestens 30 Jahre jünger.
Am nächsten Tag bekamen wir eine Vertretung und wurden informiert, dass Miss Burke nicht wiederkam. Die Vertretungslehrerin entdeckte im Vorbereitungsraum Caseys Insektensammlung und stellte sie im Bio-Raum aus. Am nächsten Tag lagen sämtliche Glaskästen kaputt auf dem Boden und alle Insekten waren zertreten. Sosehr die Vertretungslehrerin auch tobte, niemand half ihr, das Chaos zu beseitigen. Nicht mal ich.
29. August
8. Tag
Casey und ich bereiten die Übernachtung im Freien vor, doch da das Camp fast zu Ende ist, hat keiner mehr Lust auf organisierte Aktivitäten. Die Kids sind geschafft, und als wir den Schlafplatz vorbereitet und Holz fürs Lagerfeuer gesammelt haben, wollen alle einfach nur dasitzen, schwatzen und essen. Über dem Feuer brutzeln Würstchen und Marshmallows und es duftet herrlich nach Rauch und Sommerabend.
Im Schein der Taschenlampe liest Casey das Gutenachtbuch zu Ende, aus dem wir jeden Abend vorgelesen haben. Es ist »Alles Liebe, Deine Anna« von Jean Little. Darin singt Anna ganz am Ende »Stille Nacht«, in das die Kinder meistens einstimmen. So auch diesmal, und danach singen wir noch sämtliche Weihnachtslieder durch und gehen dann zu den Lagerfeuerklassikern über. Allmählich verstummen die Gesänge, und es wird geplaudert – so offen, wie es wahrscheinlich nur am Lagerfeuer möglich ist. Die Kinder erzählen von Hänseleien in der Schule, Problemen mit den Eltern, vom Tod der Großeltern – das Übliche eben.
Die meiste Zeit über benimmt sich Stephanie, bis das Mädchen neben ihr sie auffordert, nicht so viel Platz auf der Plane zu beanspruchen. Da fängt sie an, Stöcke und Tannenzapfen ins Feuer zu werfen, sodass Funken umherfliegen. Wir sagen ihr, dass sie damit aufhören soll. Eingeschnappt nimmt sie ihren Schlafsack und lässt sich ein Stück abseits nieder. Aber dort haben wir sie immer noch gut im Blick und lassen sie einfach vor sich hin schmollen, weil wir froh sind, dass sie sonst keinen Stress weiter macht. So hockt sie auch noch da, als Mrs Keefer mit einer Thermoskanne Kakao auftaucht, und auch, als ich mitten in der Nacht auf dem Weg zum Klo fast über sie stolpere.
Kurz darauf weckt mich Deanna Brown, ein Mädchen aus unserer Gruppe, weil sie Bauchschmerzen hat. Sie hält sich die rechte Seite und glüht förmlich vor Fieber. Ich habe genug Ahnung von Erster Hilfe, um zu wissen, dass man so etwas nicht auf die leichte Schulter nehmen darf. Schnell flüstere ich Casey zu, dass ich Deanna zur Sanitäterin bringe. Ich nehme Deanna auf meine Arme und renne, so schnell ich kann, den Weg hinunter, der zum Bonehouse führt. Der Himmel ist tiefschwarz und die Luft fühlt sich kurz vor dem Morgengrauen seltsam schwer an. Ich bemerke gar nicht, ob Stephanie noch an ihrem Fleck ist oder nicht. An Stephanie verschwende ich in diesem Moment überhaupt keinen Gedanken.
Ich klopfe mit dem Fuß an die Tür der Krankenstation. Bones öffnet im Nachthemd. Hinter ihr sehe ich etliche Kinder in den Betten liegen. Nach einem kurzen Blick auf Deanna drückt sie mir ihren Autoschlüssel in die Hand.
»Bring sie in die Notaufnahme«, sagt sie nur. »Jetzt sofort. Ich rufe gleich an und sage Bescheid, dass ihr unterwegs seid. Ihre Eltern informiere ich auch. Und nun los!«
Das Auto steht direkt vor der Krankenstation. Bones hilft mir, Deanna hineinzusetzen.
»Im Aschenbecher liegen ein paar Münzen fürs Telefon«, meint sie noch. »Halt mich auf dem Laufenden, ja?«
Ich fahre los. Ich verstoße gegen sämtliche Tempolimits, aber außer mir ist niemand unterwegs. Die Uhr im Armaturenbrett zeigt 2.00 Uhr morgens an. In Rekordzeit befördere ich Deanna ins Krankenhaus von Galloway. Sie schaffen es, ihr den Blinddarm noch rechtzeitig herauszunehmen, ehe er platzen kann.
Ich rufe Bones an und erfahre von ihr, dass die Eltern unterwegs ins Krankenhaus sind. Sie wohnen ein paar Autostunden entfernt. Ob ich noch dort warten könnte, bis sie da sind? Damit Deanna eine vertraute Person bei sich hat.
Ich sitze im Wartezimmer, döse beim Blättern in einer alten Ausgabe der Hausfrauenzeitschrift »Good Housekeeping« fast ein und strecke mich irgendwann auf einem der orangefarbenen Plastiksofas aus.
»Bist du Jessica?«
Die Stimme reißt mich aus dem Schlaf. Vor mir steht ein Paar mittleren Alters in zerknitterten und erkennbar hastig übergeworfenen Sachen.
Eilig stehe ich auf, merke, wie mir schwindlig wird, und muss mich erst mal wieder hinsetzen. »Ich bin Jess«, bringe ich gerade noch heraus.
»Wir sind Deannas Eltern«, sagt der Mann. »Der Arzt hat uns gesagt, wenn du sie nicht sofort ins Krankenhaus gebracht hättest, wäre es kritisch geworden. Dafür möchten wir uns sehr bei dir bedanken.«
Ich stand wieder auf. »Wie geht es ihr denn jetzt?«
»Sie schläft und ist außer Gefahr«, antwortet der Mann.
»Wenn sie aufwacht, will sie sich bestimmt auch selbst bei dir bedanken«, fügt die Frau hinzu. »Du hast wirklich etwas Heldenhaftes für uns geleistet. Wie schön wäre es, wenn mehr Jugendliche so wären wie du.«
Sie gehen wieder zu ihrer Tochter. Ich lehne mich auf dem Plastiksofa zurück und denke über meinen Heldenstatus nach. Dann beschließe ich, noch zu warten, bis Deanna aufwacht. Heute ist der letzte Tag im Camp, nachher ist Abreise, und ich lege bei den meisten Teilnehmern keinen besonderen Wert darauf, mich von ihnen zu verabschieden.
Vielleicht wollen Deannas Eltern meinen Einsatz ja noch in barer Münze honorieren. Das werde ich natürlich erst mal bescheiden ablehnen, aber wenn sie darauf bestehen, muss ich das Geld natürlich annehmen, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen. Vielleicht erfährt ja auch die Zeitung davon. Camp-Betreuerin rettet Kind das Leben. Da soll meine Mutter noch was zu kritisieren haben! Vielleicht endet der Sommer ja doch noch mit einem Höhepunkt.
Mit solchen Gedanken sitze ich noch eine Weile da und sehe durch das Fenster dem Regen zu, der in Strömen vom Himmel fällt. Wahrscheinlich hat es angefangen, während ich geschlafen habe. Ich stelle mir vor, wie Casey die Kinder antreibt, ihre Sachen zusammenzusuchen, damit alle ins Trockene kommen. Auf der Heimfahrt werden sämtliche Kids klatschnasse Schlafsäcke und schlammige Schuhe haben. Zur Abwechslung bin ich mal die Heldin und Casey hat die Drecksarbeit am Hals.
Der Regen könnte auch unsere Pläne für die Zeit nach dem Camp zunichtemachen. Aber vielleicht dürfen wir ja noch in einer von den Hütten bleiben oder im Sani-Stützpunkt – dort gibt es ja massenhaft trockenes Bettzeug. Und wenn das nicht klappt, bleibe ich eben ein paar Tage mit bei Casey, damit wir vor dem Schulstart noch ein bisschen chillen können.
Irgendwann rufe ich dann doch mal lieber bei Bones an.
»Wir haben hier ein Problem«, sagt sie. »Du musst sofort wieder herkommen. Stephanie ist verschwunden.«
»Klar, ist ja nichts Neues.«
»Nein, diesmal ist sie wirklich weg.«
»Sie versteckt sich doch bloß wieder«, widerspreche ich. »Sie weiß genau, dass heute das Camp zu Ende ist. Und da nutzt sie die Chance, uns noch mal richtig zu nerven.«
»Als die anderen aus Gruppe 3 heute Morgen aufgewacht sind, war sie schon nicht mehr da. Wir suchen jetzt zwei Stunden nach ihr. Sie ist spurlos verschwunden und es hört nicht auf zu regnen.«
Ich will noch einwerfen, dass Stephanie wahrscheinlich warm und trocken in der Vorratskammer des Speisesaals hockt und händeweise Müsli in sich hineinstopft – dabei hatten wir sie tatsächlich schon erwischt. Aber Bones lässt mich gar nicht zu Wort kommen, sondern sagt nur: »Du wirst hier gebraucht«, und legt auf.
Ich knalle den Hörer auf das Münztelefon. Ich habe es kein bisschen eilig, zurück ins Camp zu kommen. Denn dort bekomme ich sicher sofort eine Arbeit zugeteilt oder muss sogar mit nach Stephanie suchen und dann den Kindern aus meiner Gruppe beim Packen helfen, bevor die Eltern sie abholen.
Die Uhr zeigt 8.45 an. Wenn ich zurückkomme, ist das Frühstück schon vorbei und weggeräumt. Daher entschließe ich mich, im Krankenhaus zu frühstücken.
Ich schlendere durch die Stationen und entdecke irgendwo einen Servierwagen mit vollen Tabletts. Die Krankenschwestern sind alle beschäftigt. Ich inspiziere ein paar Tabletts, finde ein einigermaßen ansehnliches und nehme es mit. Unterwegs entsorge ich das Namensschild. Dann setze ich mich wieder auf mein Plastiksofa von vorhin. Das Rührei leuchtet fast genauso orange.
»Sieht irgendwie krank aus«, murmele ich, esse es aber trotzdem und bestreiche dann den Toast mit der Marmelade aus den kleinen Päckchen. In aller Ruhe trinke ich noch den Apfelsaft aus und wasche danach sogar noch in der Damentoilette ab. Ich bin fest davon überzeugt, dass Stephanie längst wieder da sein wird, wenn ich zurück ins Camp komme.
Ich nehme das alles kein bisschen ernst.
Es regnet jetzt noch stärker und es ist empfindlich kühl geworden. Der Sommer ist vorbei, denke ich auf dem Weg zum Auto. Als ich im Camp ankomme, hole ich erst mal meine Regenjacke aus der Hütte und werde dann eingeteilt, mich mit um das Aufräumen nach der Freiluftübernachtung zu kümmern.
Casey steht mit ein paar Leuten zusammen, die alle sehr besorgt aussehen. Mrs Keefer telefoniert auf dem Handy. Casey ist trotz Regensachen total durchnässt und sieht genauso gequält aus, wie ich mich fühle.
»Dann hast du sie also endlich um die Ecke gebracht, was?«, frage ich sie lachend.
Casey grinst und antwortet: »Und die Leiche hab ich in ’nen hohlen Baum gestopft.«
Als nach dieser Bemerkung irritiertes Schweigen herrscht, ärgere ich mich, dass ich meinen Mund nicht halten konnte, vor allem weil in der besorgten Runde auch ein Polizeibeamter steht. Aber da eine Erklärung alles nur noch schlimmer gemacht hätte, räuspere ich mich und versuche, mich für die Suchaktion zu motivieren.
Wir suchen den ganzen Vormittag und werden dabei immer nasser und missmutiger, weil Regen und Temperatur immer weiter fallen. Das ist alles andere als ein sommerlicher Schauer, es ist schon ein richtig heftiger Herbstregen. Immer mehr Polizisten beteiligen sich an den Suchmaßnahmen. Es ist auch die Rede davon, Spürhunde einzubeziehen, aber aufgrund des starken Regens ist das momentan nicht möglich.
Um die Mittagszeit sind Casey und ich wutentbrannt. Wir machen draußen eine kurze Pause mit Kakao aus einer Thermoskanne und belegten Broten, die von den Küchenhilfen rausgebracht wurden. Obwohl wir die Brote schnell aufessen, werden sie klitschnass vom Regen.
»Ich hasse diese Göre«, sage ich. »Jetzt hat sie allen auch noch den letzten Tag im Camp verdorben.«
»Wenn wir sie lebendig finden, werde ich sie höchstpersönlich umbringen«, murmelt Casey, verstummt aber unvermittelt und starrt mitten im Kauen mit offenem Mund über meine linke Schulter.
Ich drehe mich um. Hinter mir steht Stephanies Mutter.
Ihr Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran, dass sie alles mitgehört hat.