Kapitel 18

Am nächsten Tag wurde ich von der Clique verstoßen.

Es war schon beeindruckend, wie sie das durchgezogen haben. Inzwischen bewundere ich sie fast dafür. Da wurde nicht irgendwie rumgeeiert oder scheißfreundlich getan, sondern ganz unmissverständlich klargestellt, dass ich wieder zur Persona non grata geworden war.

Nach dem Unterricht wartete ich wie üblich an meinem Spind, wo mich die anderen sonst immer abholten, weil mein Spind ganz in der Nähe des Ausgangs lag, den wir immer benutzten. Als ich sie kommen sah, klappte ich meine Spindtür zu, ließ das Schloss zuschnappen und drehte mich lächelnd wie eine dämliche Grinsekatze zu ihnen um.

Aber sie gingen einfach an mir vorbei. Ohne Gruß oder ein sonstiges Zeichen des Erkennens. Als wäre ich nichts weiter als eins von diesen »Achtung, Rutschgefahr«-Schildern, die gelegentlich auf dem Boden herumstehen.

Trotzdem heftete ich mich an ihre Fersen. Aber sie schlossen ihre Reihen wie eine Herde Moschusochsen, die sich gegen Eindringlinge schützen will.

Wie der letzte Depp folgte ich ihnen aus dem Schulgebäude und die Straße entlang. Dabei laberte ich lauter Schwachsinn wie: »Ziemlich heftiger Test in Geschichte heute, was Amber?«, oder: »Was hat denn Mr Higgins gebissen?«, aber keiner reagierte. Sie haben nicht mal gelacht oder mich abgedrängt, sondern mich einfach nur komplett ignoriert. So eine Konsequenz ist schon echt bewundernswert.

Irgendwann nach ein paar Hundert Metern hab ich’s dann endlich gecheckt. Ich blieb mitten auf dem Fußweg stehen und sah ihnen nach, wie sie ohne mich weitergingen. Was das für ein Gefühl war, kannst du dir ja sicher denken.

Ein Gutes hatte das alles aber doch: Ich konnte nach dem Unterricht wieder mit dem Geländelauf-Training anfangen. Wenn man sich so richtig mies fühlt, ist Sport bis zur Erschöpfung einfach unschlagbar. Ms Simms sagte dazu nichts weiter als: »Jo-jos kann ich in der Mannschaft aber nicht gebrauchen.« Damit meinte sie vermutlich, dass ich lieber nicht noch mal aussteigen sollte. Aber da bestand keine Gefahr. So konnte ich morgens endlich wieder ein bisschen länger schlafen.

Aber meine Aktivitäten hatten noch weitere Folgen. Es dauerte zwar ein paar Tage, doch letztendlich kapierte ich sogar, wieso die Cactus-Clique eigentlich den Kontakt zu mir gesucht hatte.

Zuerst tauchte es im Internet auf. In der Bibliothek kam ich an einem Schülergrüppchen vorbei, das sich um ein Smartphone geschart hatte. Daraus war meine Stimme zu hören. Ich ging näher und warf einen Blick darauf.

Und da saß ich im Cactus und schwafelte über Casey.

Sie hatten es aufgenommen, wahrscheinlich mit einer versteckten Kamera. Ich sah mir die Aufnahme ein paar Minuten lang an und war kein bisschen überrascht davon. Dann stoppte die Wiedergabe plötzlich, und auf dem Display erschien die Aufforderung, eine Kreditkartennummer einzugeben, um das Video in voller Länge zu sehen.

Ich wartete nicht ab, ob jemand aus der Gruppe seine Brieftasche zückte.

Wahrscheinlich hast du mich eh in einer von diesen Skandalsendungen gesehen – alle großen Sender haben ja darüber berichtet.

Etwas später erschien in der Wochenendausgabe sämtlicher Lokalzeitungen dieser ganzseitige Artikel mit der Überschrift »Befreundet mit einer Mörderin«. Verfasst war er doch tatsächlich von Amber Bradley, Schülerin der Highschool von Galloway.

Im Interview waren direkte Zitate aus unseren Unterhaltungen im Cactus angeführt, aber das war für Amber noch nicht genug gewesen. Sie hatte auch mit einigen von Caseys Lehrern gesprochen, die sie teilweise schon seit der Grundschule kannten. Da wurde zum Beispiel Miss Burke zitiert, die Casey als die begabteste Schülerin bezeichnete, die sie je unterrichtet hatte. Unmittelbar darauf folgte allerdings ein Absatz, in dem Miss Burkes polizeilich begleiteter Abgang aus der Schule beschrieben wurde, was das Gewicht ihrer Worte natürlich ziemlich zunichtemachte.

Außerdem kamen in dem Artikel noch andere Schüler zu Wort, die sich darüber ausließen, wie komisch Casey angeblich war, wie sehr sie auf Insekten stand und dass sie noch nie einen Freund hatte. Aber das mit Abstand vernichtendste Statement stammte von mir und stand fett gedruckt direkt unter der Überschrift: »Ich glaube, dass sie Stephanie umgebracht hat«, sagt die beste Freundin der Sommercamp-Mörderin.

Das Geld, das es für den Artikel gab, haben sie sich bestimmt geteilt. Obwohl Amber wahrscheinlich den Löwenanteil eingestrichen hat, weil sie ihn ja schreiben musste. Sie hatten eine Gelegenheit zum Geldverdienen gewittert und sich auch prompt zunutze gemacht. Wenn ich dagegen vorgehen wollte, würden sie zusammenhalten und behaupten, ich hätte von den Aufnahmen gewusst.

Ich war außer mir vor Wut, wenn ich daran dachte, wie sie in aller Ruhe in ihrem Lieblingslokal saßen und sich Pommes und Cola schmecken ließen, die sie praktisch mit meiner Hilfe finanziert hatten. In meiner Entrüstung sah ich mich schon ins Cactus stürmen und ihnen sämtliche Getränke nebst Pommes über ihre miesen kleinen Schädel kippen. Aber das hab ich dann natürlich doch nicht getan. Wie ich überhaupt gar nichts getan habe.

Zu diesem Zeitpunkt war Mom zwar schon ziemlich neben der Spur und total abgedreht, aber noch redete sie mit mir, manchmal ohne Ende. Unaufhörlich hielt sie mir Vorträge über Freundschaft, Loyalität und Einsamkeit, wobei sie sich ständig wiederholte, als ob ihre Worte dadurch verständlicher würden. Oft ging ich einfach aus dem Zimmer, während sie mit mir sprach, und sie redete einfach weiter. Wenn ich wieder reinkam, wunderte sie sich kein bisschen. Oder ich ging schlafen und ließ sie mitten in der Nacht allein im Wohnzimmer vor sich hin schwadronieren. Das war ganz normal. So lief das bei Mom halt.

Aber als sie den Zeitungsartikel zu Gesicht bekam, sah sie mich lange und konzentriert an, als ob ich jemand wäre, den sie eigentlich erkennen müsste, was ihr aber nicht gelang. In diesem Moment hörte sie auf mit mir zu reden. Und da Dad schon länger kaum noch etwas sagte, wurde es in unserem Haus sehr, sehr still. Ich brauchte dann auch ein paar Tage, bis ich begriff, dass Mom das Sprechen voll und ganz eingestellt hatte. Ich fand das gruselig. Aber Dad genoss die Ruhe wahrscheinlich. Keine Ahnung, er hat sich nie dazu geäußert.