Kapitel 11
Nach Stephanies Beerdigung fingen die Mühlen der Justiz richtig an zu mahlen, so als ob es bis dahin ungebührlich gewesen wäre.
An einem Tag wollten gleich zwei Anwälte mit mir sprechen.
Der erste war Jack Tesler. Er tauchte auf, kurz nachdem ich aus der Schule zurück war. Mom öffnete die Tür. Seit meine dämliche Bemerkung gegenüber Mrs Glass in den Nachrichten gekommen war, hatte sie kein Wort mehr mit mir gesprochen. Ich hörte, wie sich der Anwalt auswies, und als Nächstes hörte ich, wie sie ihm die Tür vor der Nase zuknallte. Sie verriegelte sie und schlug noch einmal mit der flachen Hand dagegen, wie um ihrem Standpunkt Nachdruck zu verleihen. Ich erwog für einen Moment, mich über die Hintertür zum Eingang zu schleichen und in der Einfahrt mit ihm zu sprechen, nur weil mir Moms Benehmen so peinlich war, doch ich rührte mich nicht von der Stelle. Schließlich schuldete ich ihm keine Erklärung. Ich schuldete ihm überhaupt nichts.
Nach dem Abendbrot hatte ich einen kurzen Babysitterjob, und als ich wiederkam, saß Caseys Anwältin bei uns im Wohnzimmer. Sie trank Tee aus einer der guten Porzellantassen und Mom hatte Kuchen auf den Tisch gestellt.
»Sie ist ein ganz wunderbares Mädchen«, sagte Mom gerade, als ich ins Zimmer kam. Ich dachte, sie spricht über mich, doch dann sagte sie: »Aber natürlich würde ich gern für sie als Leumundszeugin auftreten. Hey, da kommt ja meine Jude.«
»Ich heiße Jess«, sagte ich und schüttelte Mela Cross die Hand.
»Casey hat mir schon alles über dich erzählt«, sagte Mela.
»Sie sind seit frühesten Kindertagen eng befreundet«, erklärte Mom. »Jude wird Ihnen helfen, so gut sie kann.«
Mela brachte das Kunststück fertig, ihr ein höfliches Lächeln zu schenken und mich gleichzeitig mit kritischem Blick anzusehen. »Mrs Harris, dürfte ich Jude auf einen Spaziergang einladen?«
»Nennen Sie mich doch Vivian«, antwortete Mom und schob mich regelrecht zur Tür hinaus.
Wenigstens war die Sonne schon untergegangen. Inzwischen fühlte ich mich im Dunkeln wesentlich wohler. Mela schien das zu wissen. Wir plauderten ein bisschen im Gehen, hauptsächlich über das Camp und darüber, wie die anderen in der Schule auf Caseys Verhaftung so reagierten.
»Wir könnten einen Kaffee trinken«, schlug sie vor.
»Ich trinke gar keinen Kaffee«, log ich.
»Dann eben heiße Schokolade. Ich lade dich ein.« Sie lotste mich in einen der zahlreichen Donut-Läden von Galloway, und wir redeten weiter, bis wir einen Platz in einer Ecke gefunden hatten. Ich saß ihr gegenüber. Das Licht war sehr grell.
Ich sah mich um. Zweifelsohne wussten die Leute, wer wir waren. Sobald ich jemanden direkt ansah, wandte die betreffende Person den Blick ab und starrte auf ihre Walnusskrapfen oder rührte zum x-ten Mal in der Kaffeetasse.
»Casey ist eine sehr bemerkenswerte junge Frau«, sagte Mela und lenkte damit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
»Ja, das ist sie«, bestätigte ich. »Und sehr klug ist sie auch.«
»Sie hat einen beeindruckenden Sinn für Treue und Zuverlässigkeit«, fuhr Mela fort, als ob ich nichts gesagt hätte. »Das ist wirklich stark, besonders in einer Welt, wo die meisten Leute der Marke ihrer Zahnpasta oder ihrer Jeans treuer ergeben sind als irgendwelchen Überzeugungen. Oder ihren Freunden.«
Ich tat, als sei ich völlig in Anspruch genommen davon, heiße Schokolade über den kleinen Hügel aus falscher Schlagsahne zu träufeln. Allmählich wurde mir kalt. Ein Schweißtropfen rann aus meiner Achselhöhle und lief an meiner Seite herunter.
»Zum Beispiel besteht sie nach wie vor darauf, dich als ihre beste Freundin zu bezeichnen, obwohl allem Anschein nach das Gegenteil der Fall ist.«
Wenn ich sie nicht ansehe, dachte ich, geht sie bestimmt weg.
»Sie sagt auch, dass du nichts damit zu tun hast, dass ihr Brief in der Zeitung veröffentlicht wurde.«
»Hab ich auch nicht«, sagte ich, vielleicht ein bisschen zu vehement. In diesem Punkt hätte ich eigentlich ein reines Gewissen haben können. Aber davon war keine Spur, und ich konnte an Melas Miene sehen, dass sie mir nicht glaubte.
Ich hatte dazu nichts weiter zu sagen, also schwieg ich.
»Sag mal, Jude, hat Casey dir gegenüber vielleicht irgendwas falsch gemacht? Hat sie dich vielleicht verletzt? Bist du sauer auf sie, weil sie dir etwas Schlimmes angetan hat?«
Da kam mir ein Bild in den Kopf – eigentlich eine Collage von Bildern. Casey, wie sie mit dem Kopf fast am Boden klebt, wie sie auf einen Ameisenhaufen starrt oder eine Hornisse beobachtet, die ihr über die Hand läuft. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet. Mich bemerkt sie gar nicht.
»Nein«, sagte ich. »Natürlich nicht.«
»Hat sie dich enttäuscht? Hintergangen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist meine beste Freundin.«
»Freundschaften können schwierig sein«, sagte Mela. »Auch wenn sie das nicht sein sollten. Wenn sich zwei Menschen gernhaben, müsste eigentlich alles einfach sein. Aber die Menschen haben ein Talent, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen.«
Ich überlegte angestrengt, was ich dazu sagen konnte, aber das war gar nicht nötig. Mela erwartete keine Antwort.
»Zum Beispiel«, fuhr sie fort, »gibt es da dieses Problem mit dem Tinker-Bell-Shirt, das in Caseys Tasche aufgetaucht ist. Stephanie war das einzige Mädchen in eurer Gruppe, das so ein T-Shirt hatte. Außerdem war es ihr Lieblingsteil – sie hat es in DisneyWorld bekommen und ihr Name steht drauf. Sie hatte es ständig an, und alle gehen davon aus, dass sie es auch getragen hat, als sie umgebracht wurde, vor allem, nachdem ihre Tasche und die Hütte durchsucht wurden und es nirgendwo zu finden war. Und dann haben sie Stephanies Leiche entdeckt, ohne das T-Shirt. Alle anderen Sachen von ihr waren da, nur das T-Shirt nicht. Da haben alle vermutet, dass der Mörder es als so eine Art Trophäe mitgenommen hat. Die Polizei wurde ermächtigt, Caseys Zuhause zu durchsuchen, und hat das T-Shirt in ihrer Reisetasche gefunden. Daraufhin wurde sie verhaftet und unter Mordanklage gestellt. Kannst du mir so weit folgen?«
Ich rührte weiter in meinem Kakao.
»Casey kann das alles erklären«, fuhr Mela fort. »Sie sagt, dass Stephanie am letzten Tag Nasenbluten hatte. Du warst mit dem Rest der Mädchen beim Bogenschießen, und sie ist mit Stephanie zurück zur Hütte gegangen, weil sie nicht aufhören wollte, die anderen Kinder mit Pfeilen zu beschießen. Auf dem Weg zur Hütte ist Stephanie hingefallen, sagt sie, und ihre Nase hat ein bisschen geblutet – nicht so schlimm, dass sie mit ihr zur Krankenstation gemusst hätte, nur ein bisschen. Aber etwas von dem Blut ist auf das Tinker-Bell-Shirt getropft. Da ist Stephanie hysterisch geworden. Casey hat ihr vorgeschlagen, das Blut schnell auszuwaschen, ehe es trocknet, aber Stephanie wollte sich nicht beruhigen lassen. Sie hat an Caseys Armen gekratzt, bis sie geblutet haben. Das ist der Grund, weshalb auf dem T-Shirt das Blut von beiden Mädchen gefunden wurde.«
»Mitten in dem Gerangel um das T-Shirt hat Stephanie Casey die Haarspange mit der Gottesanbeterin aus den Haaren gerissen und ein paar Haarsträhnen gleich noch mit. Sie hat die Spange in die Hosentasche gesteckt und sich geweigert, sie zurückzugeben. Casey hatte beschlossen zu warten, bis Stephanie sich beruhigt hat, und sie dann zurückzuverlangen. Aber dazu ist es nie gekommen.«
Mela lehnte sich zurück und beobachtete mich einen Augenblick, ehe sie fortfuhr.
»Du hattest den Auftrag, Stephanies Sachen zu packen«, sagte sie. »Die Camp-Teilnehmer waren alle schon weg, da hat die Campleiterin dich zurückgeschickt, damit du sowohl deine als auch Caseys Sachen zusammenpackst und zum Schluss die Hütte ausfegst. Sie sagte, dass du dich darüber beklagt hast, an der Suche teilnehmen zu müssen, und dass sie dein Gejammer satthatte und dich deshalb zur Hütte Nummer 3 zurückgeschickt hat.«
»Das ist nicht fair«, sagte ich.
»Halt den Mund«, sagte Mela ruhig und fuhr fort: »Du warst diejenige, die Stephanies Sachen zusammengepackt und in den Speisesaal gebracht hat, damit ihre Mutter sie mit nach Hause nehmen konnte. Und du hast auch Caseys Zeug gepackt. Aber eigentlich war Caseys Gepäck schon fertig, richtig? Im Gegensatz zu den Sachen, die sie bei der Freiluftübernachtung mithatte, lagen sämtliche Kleidungsstücke, die sie im Camp dabeihatte, sauber gewaschen, trocken und ordentlich zusammengelegt in ihrer Reisetasche. Das hat die Polizei vorgefunden, als ihre Tasche durchsucht wurde – alles ordentlich und sauber eingepackt. Aber zwischendrin steckte Stephanies zusammengeknülltes Tinker-Bell-Shirt.
»Casey sagt, dass du es in ihre Tasche gesteckt haben musst. Du hast behauptet, du wärst es nicht gewesen. Die Polizei glaubt, dass Casey in diesem Punkt lügt und in allen anderen auch. Und dann hast du diese lächerliche, provokante Bemerkung gegenüber Mrs Glass gemacht – vor laufender Fernsehkamera! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«
Die falsche Schlagsahne war zu einer öligen Pfütze auf der inzwischen abgekühlten Schokolade zerflossen. Ich spielte weiter damit.
»Jess, es ist noch nicht zu spät, das Ruder rumzureißen, weißt du? Es ist nicht zu spät, das Richtige zu tun.«
Mela nahm mir den Löffel aus der Hand und knallte ihn auf den Tisch. Auch ohne aufzuschauen, wusste ich, dass alle im Donut-Laden zusammengezuckt waren und sämtliche Blicke auf mich gerichtet waren.
»Du bist mir vielleicht ein harter Brocken«, sagte Mela. »Keine Gefühle. Hast du überhaupt eine Seele?«
Alles, was ich als Antwort zusammenbekam, war noch einmal ein kraftloses »Das ist nicht fair«.
Sie sah mich so lange wortlos an, dass ich nur noch weg von ihr wollte.
Ich begann aufzustehen. Mela langte über den Tisch und packte mich am Handgelenk.
»Du denkst, sie war es, stimmt’s?«
Ich sah ihr kurz in die Augen. Dann wandte ich den Blick wieder ab und befreite meinen Arm aus ihrem Griff.
Mela stand auf. »Ich werde nichts hiervon gegenüber Casey erwähnen. Sie würde mir sowieso nicht glauben. Sie weiß, was es heißt, eine Freundin zu sein. Wenigstens habe ich deine Mutter als Zeugin.«
»Meiner Mutter geht es nicht gut.«
»Deiner Mutter geht es gut genug«, sagte Mela und zog ihre Jacke an. »In einer kranken Welt wirkt Vernunft manchmal ziemlich verrückt.«
Und damit ging sie.
Die anderen Gäste starrten mich nun unverhohlen an, ohne jeden Versuch, ihre Neugier an dem Spektakel zu verbergen, und es war ihnen völlig egal, wie indiskret sie sich benahmen. Ich schaute auf meine nunmehr kalte heiße Schokolade und wartete noch, um Mela genügend Vorsprung zu lassen.
Als ich den Laden verließ, war sie nirgendwo mehr zu sehen.