Kapitel 17

In den Gesprächen im Cactus ging es inzwischen regelmäßig um Casey. Miss Burkes Aktionen hatten das Thema gewissermaßen zum Abschuss freigegeben. Es hätte mich misstrauisch machen müssen, dass sie Casey vorher nur ein einziges Mal erwähnt hatten. Aber ich dachte allen Ernstes, dass sie an mir als Person interessiert waren und mich nicht nur als Eintrittskarte zum Medienrummel um Casey betrachteten.

Na gut, vielleicht habe ich sie nicht wirklich für völlig harmlos gehalten, aber irgendwie zog ich es vor, meine wahren Gedanken zu ignorieren. Ich belog mich selbst und machte mir vor, dass wir miteinander befreundet sind.

Sie fingen an, mir Fragen über Casey zu stellen, über unsere Freundschaft, was wir zusammen alles unternommen hatten, wie ihre Familie war, wie sie außerhalb der Schule war. Wir alle kannten Casey seit der dritten Klasse und jeder in der Clique hatte andere Erinnerungen an sie. Über mehrere Tage hinweg redeten wir über nichts anderes, wenn wir zusammen im Cactus saßen. Am nächsten Tag fingen wir da an, wo wir am Abend zuvor aufgehört hatten, so als hätte es keine Unterbrechung gegeben.

Sie fragten mich, ob ich noch mehr Briefe von Casey bekommen hatte. Ich antwortete nicht gleich. Die Erinnerung an das Schicksal ihres ersten Briefs war noch zu frisch.

»Sie hat dir geschrieben, stimmt’s?«, sagte Amber. »Wie geht’s ihr denn so? Geht sie langsam vor die Hunde?«

»Tut sie nicht«, sagte ich. »Sie ist ziemlich stark.«

»Klar, dass du das sagst«, entgegnete Amber. »Klar, dass du sie verteidigst.«

»Nein, wirklich.« Ich griff in meine Tasche, wo ich den Brief aufbewahrte. »Hier, ich les ihn euch vor.«

»Nicht laut vorlesen«, sagte Amber und sah sich besorgt im Lokal um. »Man kann ja nie wissen, wer noch so zuhört.« Sie langte über den Tisch und nahm mir den Brief aus der Hand.

Irgendwie musste Nathan mit dem Ellbogen mein Glas umgestoßen haben, jedenfalls ergoss sich plötzlich ein Strom aus Cola und Eiswürfeln über mich.

»So eine Sauerei«, sagte Nathan. »Diese unfähige Kellnerin sollte schnell mal saubere Servietten bringen.«

Er schob mich zur Theke und half mir beim Trockentupfen. Als wir wieder am Tisch waren, hatten Amber und die anderen den Brief fertig gelesen.

»Bei ihr geht’s immer nur um ihre Käfer, oder?«, sagte Amber und gab mir Caseys Brief zurück.

»Immer ihre Käfer«, bestätigte ich und steckte den Brief wieder in meine Tasche.

Im Gespräch ging es um weitere Erinnerungen an Casey, und ich vergaß den Brief, bis er zwei Tage später ebenfalls auf der Titelseite der Zeitung erschien.

Die Cactus-Clique ging mit keinem Wort darauf ein, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie in der kurzen Zeit, während ich mit dem Cola-Problem befasst war, irgendwas hätten bewerkstelligen können. Also ließ ich die Sache auf sich beruhen. Es war einfacher so.

Ich traf mich weiterhin nach der Schule mit ihnen im Cactus. Wir bestellten unsere Colas und unsere Pommes und unterhielten uns. Ich erzählte ihnen alles, jede Erinnerung, die ich an Casey hatte, an die lustigen Heimlichkeiten, die wir zusammen erlebt hatten und die noch nie ein anderer gehört hatte. Es tat gut, über sie zu reden. Es tat so gut, aufmerksame Zuhörer zu haben.

Ich hätte mich schämen müssen, Dinge preiszugeben, die Casey nie jemand anderem als mir anvertraut hätte, aber ich dachte wirklich, Casey einen Gefallen zu tun. Ich redete mir ein, die Clique würde sie als eine von ihnen begrüßen, wenn sie aus dem Gefängnis kam. Casey würde mit uns zusammen an unserem Tisch am Fenster sitzen. Wir würden Pommes essen und uns unterhalten.

Ich tischte mir jede Menge Lügen auf. Eigentlich konnte ich mir Casey als Mitglied der Cactus-Clique ungefähr so gut vorstellen wie Reverend Fleet bei American Idol. Unaufrichtigkeit ist wie eine Pilzinfektion, musste ich feststellen. Wenn sie sich einmal in der Seele eingenistet hat, breitet sie sich immer weiter aus und befällt jeden Winkel.

Nachdem wir zwei Wochen lang über Casey geredet hatten, gingen mir langsam die Geschichten aus. Es war Freitag und schon fast Zeit, aus dem Cactus aufzubrechen. Ich fühlte mich wohl dort, umgeben von Bratgeruch und billigem chinesischem Essen, und hatte es nicht eilig zu gehen. Draußen braute sich gerade ein Herbststurm zusammen und zu Hause lief es nicht so gut.

»War wirklich toll, mit dir über Casey zu reden«, sagte Amber.

»Ja, und äußerst gewinnbringend«, ergänzte Nathan schmunzelnd.

»Er meint, dass es für uns alle ein Gewinn ist, wenn wir sie besser verstehen«, unterbrach Amber ihn eilig. »Aber ich habe noch eine letzte Frage an dich.«

Ich wartete und spielte mit meinem Strohhalm. Als die Frage nach einer Weile nicht kam, schaute ich auf.

Da fragte sie mit ernster Miene: »Denkst du, dass sie es war? Denkst du, Casey hat das kleine Mädchen, diese Stephanie, umgebracht? Wir denken alle, dass sie es war. Und du?«

»Nein«, erwiderte ich. »Ihr kennt sie nicht so gut wie ich. Casey würde so was nie tun.«

»Aber mal angenommen, du wärst eine von den Geschworenen«, fuhr Amber fort. »Stell dir vor, du sitzt da als eine von den Geschworenen und kennst Casey nicht und hörst nur, dass Stephanie sie schrecklich genervt hat, dass Stephanies blutiges T-Shirt in ihrer Tasche war und dass sie bei der Suche nach Stephanie einfach an der Leiche vorbeigegangen ist. Was denkst du, wenn du das alles hörst und es keine anderen Verdächtigen gibt? Und – mal ehrlich – du warst nicht dabei. Du glaubst, sie zu kennen, aber vielleicht weißt du ja doch nicht alles von ihr. Wenn es hart auf hart kommt, könnten wir schließlich alle zu Mördern werden.«

Ich antwortete: »In dem Fall, ja, in dem Fall würde ich schon sagen, ich denke, dass Casey schuldig ist, dass Casey Stephanie umgebracht hat.«

Ein seltsames Lächeln erschien auf Ambers Gesicht. Die anderen nickten und lächelten ebenfalls.

Es ist mir ja peinlich, das jetzt zuzugeben, sogar vor einem völlig Fremden – aber was mich in dem Moment überkam, war Zufriedenheit. Ich hatte die richtige Antwort gegeben. Ich war noch drin, in der Gruppe.

Glaubte ich das wirklich? Im Prinzip war mir ziemlich egal, was ich glaubte. Was für mich zählte, war weiterhin zur Gruppe zu gehören. Ich hatte panische Angst, dass sie mich fallen ließen und ich wieder alleine war, alleine in einer Welt ohne Casey.

Früh um zwei ging ich wie immer in die Garage, um mein Fahrrad zu holen. Aber es war weg. Mom schien es zu den Whites gebracht zu haben. Vermutlich wären sie nicht böse gewesen, wenn ich es mir wieder geholt hätte – selbst um diese Uhrzeit. Aber ich ließ es bleiben. Es war weg. Und dabei beließ ich es.

Ich joggte ein paar Straßenecken weit, aber das half nicht viel, also ging ich wieder nach Hause. Dort setzte ich mich in der Garage auf den kalten Zementboden. Ich dachte an die warme Garage bei Casey zu Hause, die Garage, die ein Insektenforscherlabor und Familientreffpunkt war. Dann legte ich meine Hand auf die Stelle, wo mein Fahrrad gestanden hatte. Und ich weinte.

15. Juni

Nach dem Lauftraining radle ich rüber zu Casey. Sie kommt mir auf der Straße entgegengerannt. In ihrer Hand flattert ein Stück Papier.

»Ich bin angenommen«, ruft sie und tanzt und rennt und springt zur gleichen Zeit. »Ich gehe nach Australien! Volle vier Monate!«

Ich lächle, denn ich weiß, dass das die angemessene Reaktion ist. Vier Monate! Ich musste vier Monate lang ohne sie auskommen.

»Hier ist ein Bild davon – die Echte Blaue Schabe. Ist sie nicht wunderschön?«

Sie hält mir ein Foto von dem hässlichen Vieh direkt vor die Nase. Am liebsten hätte ich zugebissen.

»Ich werde auf Lord Howe Island im Zelt übernachten.« Sie redet unaufhörlich. Nicht ein einziges Mal fragt sie, wie mein Tag war. »Ich werde Schaben suchen, Schaben zählen, Schaben vermessen, im Camp aufräumen, den Entomologen zur Hand gehen und nachts mit einer Stirnlampe im Busch sitzen und darauf warten, dass sie aus ihren Löchern gekrabbelt kommen – also die Schaben, nicht die Entomologen! Vielleicht trage ich sogar dazu bei, dass die Schaben vor dem Aussterben bewahrt werden! Ach, das ist der schönste Tag in meinem Leben!«

Sie tanzt weiter die Straße lang und wedelt mit dem dämlichen Brief rum. Ein Nachbar kommt raus und fragt, was denn so Tolles los ist. Während sie es ihm erklärt, verdrücke ich mich.

Der schönste Tag in Caseys Leben hat nichts mit mir zu tun.

Sie fragt mich nie, wieso ich gegangen bin.

Sie ist so außer sich vor Freude, dass ihr das egal ist.