Kapitel 21

Natürlich weißt du inzwischen, weshalb die Verhandlung abgebrochen wurde, aber damals haben wir es erst Stunden später aus den Nachrichten erfahren.

Stephanies Mörder war unvorsichtig geworden. Nur wenige Tage vor dem Ende von Caseys Prozess hatte er versucht, sich ein Mädchen zu greifen, das gerade von einem Pfadfinderinnentreffen kam. Das kleine Mädchen fing an zu schreien und eine ganze Gruppe von Pfadfinderinnen kam aus der Kirche gerannt und umzingelte ihn. Sie haben sich an ihn geklammert, ihn zu Boden gezerrt und so lange mit ihren Trillerpfeifen Lärm gemacht, bis Hilfe zur Stelle war.

Die Pfadfinderinnen wurden zu Heldinnen erklärt. Sie haben alle eine Tapferkeitsmedaille bekommen und wurden in sämtlichen Fernsehsendungen rumgereicht. Aber das hast du ja sicher alles selber gesehen.

Die Polizei beschlagnahmte dann das Auto des Mannes und fand dort ein T-Shirt, das Stephanie mir geklaut und das ich noch nicht mal vermisst hatte. Es war das T-Shirt, das sie anhatte, als sie ermordet wurde. Darauf waren ihr Blut und Haare von dem Kerl. Außerdem wurden in dem Auto Kleidungsstücke von einem Kind gefunden, das er in Windsor umgebracht hatte. Er legte für beide Morde ein Geständnis ab, das sich als glaubhaft herausstellte.

Der Mann hatte uns aufgelauert. Er hatte sich im Wald am Rande des Lagers versteckt und auf seine Chance gewartet. Stephanie hat er geschnappt, weil sie sich ein Stück von der Gruppe entfernt hatte und deshalb leichte Beute für ihn war. Während sie schlief, versetzte er ihr einen Schlag auf den Kopf, damit sie keinen Lärm machen konnte, als er sie entführte.

Für seine Tat gab es keinen richtigen Grund. Er hatte sowohl das Camp Ten Willows als auch Stephanie ganz willkürlich ausgewählt. Er meinte es nicht persönlich. Er brachte halt nur gern Kinder um. Manche Männer sind eben so.

Mr Teslers Frage musste ich nie beantworten.

Selbst heute weiß ich nicht, was ich gesagt hätte.

Denn natürlich war ich es, die Stephanies T-Shirt in Caseys Tasche gestopft hatte.

Stundenlang hatte ich nach der kleinen Göre gesucht. Dann versuchte ich, Casey zu überreden, das wir zusammen abhauen und uns in einer leeren Hütte verstecken oder sogar im Regen nach Hause laufen, aber sie wollte nicht. Sie wurde fast ein bisschen ungehalten.

»Sie ist doch noch ein kleines Kind«, sagte sie. »Vielleicht ist sie hingefallen oder sie hat sich verletzt. Wir können nicht einfach aufhören zu suchen, bloß weil wir nass und müde sind.«

Damit hat sie mich stehen lassen und ist wieder in den Wald abgezogen.

Ich hab so lange und lautstark rumgenörgelt, bis Mrs Keefer mich zu unserer Hütte geschickt hat, damit ich dort Stephanies Sachen zusammenpacke und Caseys und mein Zeug auch gleich mit.

Caseys Sachen waren eigentlich alle schon in ihrer Tasche. Sämtliche Teilnehmer waren inzwischen weg. Ich hab erst meine Tasche und dann die von Stephanie gepackt. Dann hab ich Stephanies Reisetasche hoch in den Speisesaal geschafft, damit ihre Mutter sie dort abholen konnte. Anschließend bin ich wieder zur Hütte gegangen, um noch zu kehren.

Das Tinker-Bell-Shirt fischte ich mit dem Besen unter den Betten hervor.

Ich hatte keine Lust, nur wegen diesem T-Shirt noch mal den ganzen Weg bis zum Speisesaal zu gehen. Ich hatte die Wahl zwischen meiner Tasche, Caseys Tasche und dem Mülleimer.

Wenn ich das Shirt in den Müll warf, konnte es jemand dort finden und fragen, warum ich es weggeworfen hatte, und das wäre blöd gewesen.

Wenn ich es in meine Tasche steckte, musste ich es als Nächstes entweder zu Stephanies Mutter bringen oder bei mir zu Hause entsorgen. Beides war mir zu anstrengend.

Also packte ich es in Caseys Tasche. Das war am einfachsten.

Ich hätte es in den Wald schmeißen oder auf dem Boden liegen lassen sollen.

Vor allem hätte das von vornherein nicht mein Problem sein sollen. Es war ja nicht mein T-Shirt. Das ging mich doch gar nichts an.

Casey kam am folgenden Montag wieder in die Schule. Die Nachricht von ihrer Rückkehr schwirrte durch die Gänge. Ich hab sie eigentlich erst in der Mittagspause gesehen, aber vorher bin ich in der Kantine der Cactus-Clique begegnet. Sie drängelten sich an der Kasse mit einer Arroganz vor, an der ich deutlich erkennen konnte, dass ihnen ihr Verhalten kein bisschen peinlich war.

»Wie ich sehe, ist deine Freundin wieder da«, sagte Amber Bradley.

»Wahrscheinlich hält sie sich jetzt für so eine Art Heldin«, zischte Nicole und stieß mich in den Rücken. »Wahrscheinlich bildet sie sich ein, dass die Schule sie mit offenen Armen empfängt.«

»Was aber nicht passieren wird«, ergänzte Nathan.

»Warum erzählt ihr mir das?«, fragte ich.

»Nur für den Fall, dass ihr zwei irgendwie vorhabt, da weiterzumachen, wo ihr aufgehört habt«, erwiderte Amber. »Wir mögen solche Sachen an der Galloway High nicht. Und Mörderin oder nicht, Casey ist einfach abartig, hab ich recht?«

Die Clique schob sich an mir vorbei in die Kantine.

»Ihr kommt also einfach so davon, ja?«, rief ich hinter ihnen her.

Amber kehrte um und baute sich etwa fünf Zentimeter vor meinem Gesicht auf. »Davonkommen mit was?«

»Mit allem. Dass ihr Caseys Haus verwüstet habt, dass ihr Geld mit diesen ganzen Lügen gemacht habt – mit allem.«

»Vielleicht kommst du ja damit davon«, entgegnete Amber mit einem hämischen Grinsen im Gesicht. »Wir konnten mit Casey machen, was wir wollten – sie war schließlich nie unsere Freundin. Sie war uns schon immer egal. Aber wie erklärst du deine eigene Haltung?« Damit ließ sie mich stehen und verzog sich zu ihren Freunden.

Casey kam erst, als ich schon beim Essen war. Mit ihrem Tablett in den Händen ging sie auf einen freien Tisch zu. In der Kantine wurde es ganz still.

Die Cactus-Clique baute sich vor ihr auf.

»Wir wollen dich nicht hier an unserer Schule.« Ambers Stimme war laut, deutlich und gehässig.

Casey versuchte, sich einen Weg durch die Gruppe zu bahnen, doch sie schlugen ihr das Tablett aus den Händen. Bei dem Klirren des zerbrechenden Geschirrs zuckten alle zusammen.

Einen Moment lang rührte sich keiner.

Dann sah ich Casey das Außergewöhnlichste tun, was ich jemals jemanden hab tun sehen. Sie hielt die Hände vor sich, als würde sie immer noch ihr Tablett tragen, und ging auf die Tische zu. Die Cactus-Clique teilte sich und ließ sie durch.

Mit den Augen suchte Casey den Raum ab, für einen kurzen Augenblick ruhte ihr Blick auf mir, dann suchte sie weiter. Sie fand einen freien Platz an einem anderen Tisch, setzte sich und tat, als würde sie essen. Sie war ruhig, gelassen und unerschrocken.

In diesem Moment wusste ich, dass Casey unsere Stadt schon verlassen hatte. Natürlich macht sie noch ihren Schulabschluss, doch Galloway kann ihr nichts mehr anhaben. Ambers Gehässigkeit, die Kleinkariertheit der Kirche, selbst meine Treulosigkeit – nichts davon hatte noch eine Bedeutung für sie. Nichts von dem, was wir getan hatten, konnte sie je wieder verletzen. Sie hatte uns alle bezwungen.

Während ich sie beobachtete, begriff ich plötzlich den Wert dessen, was ich verloren hatte, den Wert der Freundin, die ich hatte fallen lassen, weil ich zu feige war, ihr beizustehen. Ein tiefes Gefühl der Verlassenheit überkam mich und ich bekam kaum noch Luft.

Nach einer Weile ertrug ich es nicht mehr. Ich sprang von meinem Platz auf und rannte weg. An meinem Spind blieb ich nur kurz stehen, um meine Jacke zu holen. Zu Hause warf ich ein paar Sachen ins Auto meiner Mutter und fuhr los.

»Geh weg aus dieser Stadt«, hatte Mom mich beschworen, und ausnahmsweise tat ich, was sie von mir verlangte.

Das ist jetzt ungefähr fünf Monate her. Eigentlich wollte ich weiter weg, vielleicht nach Arizona, aber anscheinend komme ich nicht weiter als knapp 100 Kilometer weg von Galloway. Ich bin eine Weile durch die Gegend gefahren, hab hier und da ein bisschen Geld für dies und das verdient, und schließlich bin ich hier im Roach House gelandet.

Ab und zu rufe ich Dad an. Er war nicht mal überrascht, als ich abgehauen bin. Von Mom gibt’s nichts Neues, sagt er. Keine Ahnung, wann sie wieder nach Hause kommt.

An dem Tag, an dem ich von zu Hause weg bin, war ein Brief von Casey angekommen. Sie musste ihn ein paar Tage vor meiner Aussage abgeschickt haben, als es noch danach aussah, als ob sie ihr Leben im Gefängnis verbringen würde. Sie hatte geschrieben:

Liebe Jess,

Mela hat mir jetzt gesagt, dass Du gegen mich aussagen wirst, und ich schreibe Dir um Dir zu sagen, dass mir das egal ist. Es hätte mir wehgetan, aber kurz nachdem ich es von ihr erfahren hatte, kam eine Schabe in meine Zelle gekrabbelt. Ich hab auf den ersten Blick gesehen, dass es eine Amerikanische Großschabe ist, aus der Ordnung der Schaben, Familie Blattidae, eine von 600 Arten weltweit. Ich wusste auf Anhieb ihren lateinischen Namen, Periplaneta americana, und dass die Weibchen bis zu 50 Eipakete mit jeweils einem Dutzend Eiern produzieren.

Da hab ich mich daran erinnert, dass ich doch immer noch derselbe Mensch bin, egal ob im Gefängnis oder draußen. Insekten gibt es überall, und mein Leben, meine Leidenschaft, mein Ich können nicht zerstört werden, wenn ich es nicht zulasse.

Ich habe Stephanie nicht umgebracht, aber ich bin eingeschlafen und habe dem Tod so Gelegenheit gegeben, zu uns zu kommen und sie uns zu nehmen, noch ehe sie die Chance hatte, keine Nervensäge mehr zu sein und zu dem Menschen heranzuwachsen, der sie einmal sein sollte. Damit muss ich nun für immer leben. Aber ich habe sie nicht umgebracht. Und ich werde mein Glück finden und einen Sinn für mein Leben, selbst im Gefängnis.

Ich weiß nicht, warum Du zugelassen hast, dass die Welt Dich so verändert, Libelle. Du warst doch sonst immer so mutig.

Casey

Casey hat sich da geirrt, musst du wissen. Ich bin noch nie mutig gewesen.

Wäre ich mutig, würde ich nach Galloway zurückfahren und versuchen, mit ihr ins Reine zu kommen. Aber wie soll ich das denn anstellen? Wie kann ich ihr beweisen, dass ich ihre Freundschaft verdient habe?

Mom wüsste es. Wenn ich mit Mom reden könnte, würde sie mir sagen, was ich tun soll. Wenn ich sie doch nur aus dem Krankenhaus wegbringen und diese scheußlichen Medikamente aus ihrem Körper holen könnte, dann könnte ich sie auch überzeugen, dass ich mich geändert habe, und dann würde sie mir helfen, Casey zurückzugewinnen. Casey vertraut ihr. Und Mom weiß, wie schwer es für mich war, in dieser Stadt zu leben, und was ich alles durchgemacht habe, während Casey in Haft war.

Das könnte ich machen. Ich könnte frühmorgens ins Krankenhaus fahren, sobald ich mit dem Dienst hier fertig bin. Ich könnte während der Besuchszeit auf ihre Station gehen, damit ich nicht so auffalle. Ich könnte ein paar Sachen mitnehmen, sie aus diesem Klinikhemd befreien, das sie bestimmt tragen muss, ganz gemütlich im Fahrstuhl mit ihr nach unten fahren und sie zu mir ins Auto setzen.

Wir könnten sogar ein paar Tage hier im Roach House bleiben. Es gibt hinten einen Lagerraum, wo sie sich ausschlafen könnte, bis die Wirkung ihrer Medikamente nachlässt und sie Casey anrufen kann.

»Komm doch hierher zu uns«, würde sie dann zu ihr sagen. »Meine mutige Tochter hat mir mein Leben wiedergegeben. Komm her, und dann fahren wir zusammen nach Arizona, weg von allen anderen!«

Und Casey würde kommen, denn sie mag meine Mutter und sie mag mich, und alles würde wieder so werden, wie es mal war.

Damals, als wir Freundinnen waren.