Kapitel 7
In den folgenden Tagen machten die anderen in der Schule einen großen Bogen um mich. Aber ich spürte ihre Blicke, und jedes Mal, wenn ich an einem der tuschelnden Grüppchen im Flur, im Klassenzimmer oder in der Schulkantine vorbeikam, verstummten die Gespräche. Es war, als ob sie darauf warteten, was ich als Nächstes tat. Und ich wartete wahrscheinlich auch.
In der Zwischenzeit hüllte mich der Schulalltag ein wie ein Schleier. Ehe ich mich’s versah, war es, als ob es den Sommer nie gegeben hatte und als ob ich mein Leben lang nichts anderes getan hatte, als durch die Gänge der Highschool von Galloway zu hetzen.
Mein Stundenplan hatte es in sich. Ich war in einem Leistungskurs zur Uni-Vorbereitung, weil ich jedem, der es wissen wollte, erzählte, dass ich Sportlehrerin werden wollte, obwohl mir in Wirklichkeit nichts ferner lag als das. Wenn ich nicht im Unterricht saß, arbeitete ich in der Schulkantine an der Kasse – für eine kostenlose Mahlzeit und ein paar Dollar die Woche. Das Training für die Geländelauf-Mannschaft hatte wieder angefangen und die freie Zeit nach der Schule wurde immer knapper. Abends musste ich im Haushalt helfen und Schularbeiten machen.
Aber sosehr ich die Tage auch vollstopfte, es gab immer noch diese Lücken, die bis dahin Casey gefüllt hatte.
Dabei war es gar nicht so, dass wir in der Schule ständig zusammenhockten. Sie hatte ja auch ständig was zu tun. Sie half unserer Biolehrerin und bereitete sich auf naturwissenschaftliche Olympiaden und sonstige Wettbewerbe vor. Aber immer hielt sie nach mir Ausschau, wenn wir uns in der Pause nicht zufällig über den Weg liefen. Immer.
Manchmal stellte ich sie auf die Probe. Dann mied ich die Stellen, an denen wir uns normalerweise trafen – nur um zu sehen, ob sie wirklich daran interessiert war, sich mit mir zu unterhalten. Wenn sie mich dann ein paar Tage hintereinander nicht fand, rief sie bei mir zu Hause an oder kam vorbei, um zu sehen, ob ich vielleicht krank war oder so was. Es machte mir Spaß, sie so herauszufordern.
Sie kapierte nie, dass ich ein Spiel mit ihr trieb. Sie sagte immer: »Da bist du ja!«, und fing dann an zu erzählen, was an dem Tag passiert war.
Offenbar freute sie sich einfach nur, mich zu sehen.
Inzwischen frage ich mich, ob es ihr vielleicht gar nichts ausmachte, wenn ich abwesend war. Dass sie meine beste Freundin war, wusste ich ja. Aber war ich auch ihre? Es ist prima, wenn man sein Lieblingseis im Gefrierschrank entdeckt, aber wenn man keins findet, ist man mit was anderem genauso glücklich.
Ich frage mich, ob es daran lag.
Vielleicht war sie deshalb nicht böse auf mich, weil ich ihr einfach nicht so wichtig war.
24. August
3. Tag
Heute Nachmittag ist Stephanie schon wieder verschwunden.
Unsere Gruppe fordert die Neunjährigen aus Gruppe 5 zu einem Softballspiel heraus. Als wir zum Spielfeld losmüssen, ist Stephanie wie vom Erdboden verschluckt.
Aber ich weiß, wo sie ist.
Sie versteckt sich hinter den zusammengerollten Volleyballnetzen ganz hinten im Geräteschuppen. Sie merkt, dass ich sie entdeckt habe.
»Geht schon mal vor«, sage ich leise zu Casey. »Lasst die anderen nicht warten.« Ich sehe ihnen nach, wie sie im Gänsemarsch in Richtung Spielfeld laufen.
Dann schließe ich den Geräteschuppen, setze mich auf die oberste Treppenstufe und lehne mich mit dem Rücken an die Tür. Ich genieße die Sonne und die kurze Zeit für mich allein.
Nach einer Weile höre ich Geräusche im Schuppen. Die Tür stößt gegen meinen Rücken. Ich reagiere nicht. Ich schaue nach oben und sehe, wie Stephanie ihr hübsches Gesichtchen an die Scheibe drückt. Sie sieht zu mir herunter.
Ich kann beinahe ihre Gedanken hören. Soll ich um Hilfe rufen? Mache ich die Sache damit schlimmer oder besser?
Vielleicht will sie nur sehen, was ich als Nächstes tue.
Sie knallt mir die Tür noch ein paarmal gegen den Rücken.
»Lass mich raus«, befiehlt sie, allerdings leise.
Ich rühre mich nicht.
»Lass mich raus«, sagt sie wieder, schon mit mehr Nachdruck.
»Sobald ich Lust dazu hab«, erwidere ich.
»Das geh ich sagen«, droht sie. »Du hast mich hier eingesperrt.«
»Denkst du, dir glaubt jemand?«
Kurzes Schweigen. Dann: »Du bist gemein.«
»Na und?« Ich rekele mich in der Sonne wie eine Katze. »Du bist mir ja so was von schnuppe. Geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst, und bleib dort, wenn du willst. Mich stört’s nicht.«
»Ich schreie.«
»Na los«, sage ich. »Die sind aber alle beim Softball.«
Da hört sie auf zu reden und ich vergesse sie beinahe. Es ist wundervoll, mitten am Tag mal keine Kinder um sich zu haben.
Ich kann sie nicht allzu lange dadrin lassen, denn das Softballspiel dauert schließlich nicht ewig. Aber beeilen brauche ich mich auch nicht.
Nach zehn Minuten fängt Stephanie an zu heulen.
»Es ist heiß hier drin. Ich falle in Ohnmacht, wenn du mich nicht rauslässt.«
»Na los.«
Ich lasse sie noch fünf Minuten drin, dann stehe ich auf und gebe die Tür frei. Langsam gehe ich in Richtung Baseballfeld. Hinter mir höre ich die Tür aufgehen. Ich höre, wie sie die Stufen hinunter zum Weg geht, albern und theatralisch aufstöhnt und zu Boden fällt. Ich drehe mich nicht um. Kurze Zeit später höre ich sie aufstehen. Als wir beim Spielfeld ankommen, rennt sie schon vor mir her.
Casey sieht uns kommen und winkt. Ich lasse Daumen und Zeigefinger zusammenschnappen. Sie nickt grinsend und antwortet mit derselben Geste.
Für den Rest des Tages hält sich Stephanie von mir fern. Sie verschwindet nicht und sagt auch keinem, dass ich sie nicht aus dem Schuppen gelassen habe. Ich habe das Problem gelöst und bin stolz auf mich. In solchen Sachen bin ich besser als Casey. Ich denke darüber nach, wie es wäre, als Kinderpsychologin zu arbeiten oder vielleicht mein ganz privates Kindergefängnis zu betreiben, wo aus unerträglichen Gören Musterbürger werden. Ich werde Auszeichnungen bekommen und man wird in der Presse über mich berichten.
Plötzlich wache ich auf. Es ist mitten in der Nacht. Stephanie steht neben meiner Koje und starrt auf mich herunter.
»Dafür wirst du bezahlen«, sagt sie.
Dann geht sie wieder ins Bett.
Für den Rest der Nacht bekomme ich kein Auge mehr zu.
Als ich am Freitag aus der Schule kam, lag Caseys erster Brief für mich auf dem Flurtisch.
Ich nahm ihn in die Hand und drehte ihn unentschlossen hin und her. Immer wieder dachte ich daran, wie Casey mich im Gerichtssaal angesehen und ich ihren Blick nicht erwidert hatte. Ich fürchtete mich vor dem, was in dem Brief stand. Ich faltete ihn in der Mitte und verstaute ihn in der hinteren Hosentasche.
Mitten in der Nacht wachte ich auf, die Anzeige meines Uhrenradios schaltete gerade auf zwei Uhr. So war es nun jede Nacht seit Caseys Verhaftung. Früh um zwei aufwachen, aus dem Haus schleichen, bis zur Erschöpfung mit dem Rad durch die Gegend fahren, bis ich endlich wieder schlafen konnte. In dieser Nacht fuhr ich raus bis zum Camp. Caseys Brief steckte immer noch in meiner Tasche, ich konnte ihn fühlen, wie er gegen den Fahrradsattel drückte.
Die abgelegenen Straßen, die zum Camp führten, waren nahezu stockfinster in dieser Neumondnacht, und die Batterien meiner Fahrradbeleuchtung machten schlapp, kaum dass ich einen halben Kilometer von zu Hause weg war. Ich orientierte mich mehr nach Instinkt, als dass ich etwas sah.
Im Ten Willows sind im oberen Teil, nicht weit vom Highway, die Winterquartiere. Das Sommercamp ist weiter unten. Dorthin führt ein steiler Abhang mit einer plötzlichen Kurve ganz unten. Als ich noch kleiner war, hab ich mir oft ein Handtuch um die Schultern gebunden und mich gefreut, wie es hinter mir herflatterte, wenn ich mit dem Fahrrad den Hang hinuntergesaust bin, zusammen mit Casey. Bremsen ist was für ängstliche Autofahrer und Feiglinge auf dem Fahrrad. Aber nicht für Casey und mich. Wir wussten genau, wie wir lenken und uns in die Kurve legen mussten. Und der Schwung, den wir bergab aufnahmen, reichte aus, um uns quer über die Wiese zu katapultieren, fast bis zum Speisesaal.
In dieser Nacht machten die überhängenden Äste die schmale Straße vor mir noch finsterer. Oben am Abhang hielt ich nicht an, so wie Casey und ich es sonst immer getan hatten. Ich trat immer weiter in die Pedale, die ganze rasende Fahrt nach unten, obwohl meine Beine mit dem Tempo kaum mithalten konnten. Ich stürzte auf einen Abgrund zu – auf einen finsteren Schacht, der ebenso gut das Ende der Welt hätte sein können. Ich wünschte mir, dass die Finsternis mich verschluckte, mich aus dieser Stadt befreite und von dem Durcheinander in meinem Kopf.
Aber das passierte nicht, sondern ich verpasste die Kurve und landete auf der Straße zwischen Dreck und Kies. Es war ein dummer Unfall. Das Schicksal besaß nicht mal die Gnade, mich in Ohnmacht fallen zu lassen. Es tat einfach nur höllisch weh, der Schreck saß mir in den Knochen, und peinlich war es außerdem – obwohl kein Mensch in der Nähe war, der mich hätte sehen können.
Offenbar war nichts gebrochen, aber in meinem Gesicht brannten die Schürfwunden, die ich mir auf dem Kies geholt hatte. Ich tastete nach meinem Fahrrad, und wie durch ein Wunder schien es ebenfalls den Sturz überlebt zu haben – obwohl bei Tageslicht betrachtet sicher doch etliche Spuren erkennbar waren. Ich beschloss, mich von dem Zwischenfall nicht beeindrucken zu lassen, stieg wieder auf und fuhr den restlichen Weg bis zum Campgelände.
Bei den langen Hüttenreihen stieg ich ab und lehnte mein Rad an Hütte 3, wo ich während der letzten Wochen des Sommercamps geschlafen hatte. Ich rüttelte an der Tür, aber natürlich war abgeschlossen.
Dann ging ich – von meinem Sturz etwas humpelnd – zum Speisesaal. Direkt gegenüber standen zehn Weidenbäume im Kreis, alt und würdevoll. Ihr Laub war dicht und hing so tief, dass man das Innere des Kreises wie durch einen Perlenvorhang betrat. Man musste die Zweige mit den Händen beiseiteschieben, wenn man hindurchwollte. Man konnte aber auch die Augen schließen und einfach hineingehen, wobei einem die Blätter über das Gesicht strichen wie lange Federschnüre.
Im Innern des Kreises stehen steinerne Bänke, ebenfalls im Kreis, und von dort schaut man auf ein Blumengärtchen. In der Dunkelheit konnte ich die Blumen nicht erkennen, aber ich wusste, dass die Stiefmütterchen noch blühten und die Ringelblumen noch golden leuchteten.
Inmitten der Blumen liegt ein großes Stück Treibholz, das mal jemand aus dem Fluss am Rande des Camps gezogen hatte. Es ist so knorrig, dass es fast schon aussieht, als wäre es aus einem Seil gemacht. Darauf ist ein Schild angebracht, in das ein Vers aus Psalm 137 eingraviert ist.
Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande.
Denn die uns gefangen hielten, hießen uns dort singen
und in unserem Heulen fröhlich sein.
Ich kannte das Schild schon seit so vielen Jahren, dass ich es auswendig konnte, so wie meine Adresse oder die Zahlenkombination von meinem Spindschloss.
Den Text konnte ich zwar aufsagen, doch ich verstand ihn nicht, und die Bedeutung interessierte mich eigentlich auch nicht besonders.
Ich saß lange auf einer von den Bänken und lauschte den Weiden, wie sie miteinander flüsterten. Ich saß da, bis sich der Schweiß auf meinem Körper eiskalt anfühlte und meine Beine sich in der kalten Nachtluft verkrampften. Um mich aufzuwärmen, joggte ich in ruhigem Tempo zurück zu Hütte 3. Ich setzte mich auf mein Rad und machte mich auf den Heimweg.
Der Hang war jetzt nicht mehr so finster. Offenbar war es schon kurz vor Tagesanbruch. Ich musste mich ziemlich beeilen, um zu Hause anzukommen, bevor Mom aufwachte. Es gelang mir nur knapp.
Mein Gesicht hatte ich dabei ganz vergessen. Beim Frühstück erkundigte sich Mom, wo die Kratzer und Schürfwunden herkamen. Ich erzählte ihr, dass ich frühmorgens joggen gegangen und auf einer kiesigen Stelle ausgerutscht war. Sie sagte, dass sie es gut fand, dass ich so fleißig war, was sie allerdings gleich wieder kaputt machen musste, indem sie fragte, warum ich nicht immer so sein konnte. Ich fauchte sie an, sie fauchte zurück und letztendlich schrien wir uns gegenseitig an.
Dieser Tag hatte eigentlich nur ein Gutes. Als ich in der Pause zur Toilette ging, sah ich mich im Spiegel. Mein Gesicht war genauso zerschrammt wie das von Casey. Jetzt sahen wir einander ähnlich. Seltsamerweise ging es mir damit besser.