Kapitel 3

Wir waren kaum zur Tür rein, da hing Mom auch schon am Telefon.

»Sie werden dieses Mädchen umgehend freilassen! Was bilden Sie sich eigentlich ein, sie so vor aller Augen einfach zu verhaften? Haben Sie mal einen Moment an ihre armen Eltern gedacht? Ja, leid tut es mir vor allem für Ihr Dezernat, denn Sie werden eine derartige Klage an den Hals bekommen …«

Der Beamte am anderen Ende der Leitung ließ meine Mutter einfach wettern, was ziemlich klug von ihm war, denn Mom neigt zu cholerischen Ausbrüchen, selbst wenn sie nicht krank ist. Sobald sie wütend wird, muss sie den ersten Adrenalinschub erst mal loswerden. Erst dann kann sie halbwegs sachlich diskutieren. Es sei denn, sie ist krank. Wenn sie krank ist, kann sie sich überhaupt nicht wieder beruhigen. Ich lauschte, ob ihre Stimme verdächtig schrill klang, aber zum Glück Fehlanzeige. Sie war schlichtweg wütend.

Und das blieb sie auch. Aus ihren kurzen Redepausen schloss ich, dass der Polizist hier und da ein paar Worte einstreuen konnte, aber als Mom schließlich auflegte, schäumte sie immer noch vor Empörung.

»Und ich habe nichts dagegen unternommen«, jammerte sie in meine Richtung, aber eigentlich mehr zu sich selbst. »Ich habe nicht mal versucht, sie davon abzuhalten!«

»Ging ja auch alles rasend schnell«, meinte mein Vater und knotete dabei seinen Schlips auf. Die Stimme meines Vaters war völlig ausdruckslos, wahrscheinlich um das Temperament meiner Mutter auszugleichen. »Wir hatten doch gar keine Zeit, irgendwie zu reagieren. Und was hätten wir schon tun können – sie der Polizei entreißen? Die werden doch ganz schnell merken, dass sie einen Fehler gemacht haben, und sie freilassen.«

Aber Mom hatte sich noch nicht wieder abgeregt, sodass Dads Bemerkungen komplett ins Leere liefen. Ich ging hoch in mein Zimmer und machte die Tür hinter mir zu. Ich hatte genug mit meinen eigenen Gefühlen zu tun und war mit denen meiner Mutter gerade ziemlich überfordert.

Ich hängte das Kirchenkleid auf einen Bügel und ließ mich auf mein ungemachtes Bett fallen. Das Camp war vorbei. Kein Grund also, wie jeden Morgen in den letzten acht Wochen meine Koje für die Hüttenkontrolle aufzuräumen. Und ich brauchte auch keine widerspenstigen Camp-Teilnehmer mehr dazu zu bewegen.

Meine normalen Klamotten mussten allesamt in die Wäsche. Ich hatte kein einziges sauberes Teil mehr. Das Camp war zwar schon seit drei Tagen vorbei, aber meinem gigantischen Wäschesack hatte ich mich noch nicht wieder genähert. Casey hatte ihre Sachen gleich im Camp gewaschen. Ihr Kleiderbestand war auch deutlich kleiner als meiner. Jeden Abend hatte sie ihr Zeug im Waschraum ausgespült und dann zum Trocknen auf die Leine hinter der Hütte gehängt oder bei schlechtem Wetter ans Fußende ihres Bettgestells.

»Ich muss lernen, draußen klarzukommen«, hat sie mal beim Sockenwaschen gesagt.

»Mach ruhig«, hab ich geantwortet. »Ich will ja nur Sportlehrerin und nicht Insektenkundlerin werden. Da wohne ich vermutlich in einem festen Haus mit Waschmaschine und werde kontinuierlich auf meine Rente hinarbeiten. Du wirst dagegen im Dreck rumkriechen und deine drei Paar Socken immer wieder am Lagerfeuer trocknen.«

»Neid ist ungehörig«, konterte sie und bespritzte mich mit einer frisch gewaschenen, klatschnassen Socke.

Bei Casey herrscht Ordnung. Sie ist ja auch Naturwissenschaftlerin. Ich bin mehr so die Sportskanone und ziemlich chaotisch.

Also, zumindest war ich eine Sportskanone. Was ich jetzt bin, weiß ich gar nicht mehr so genau.

Und so eine richtig echte Sportskanone war ich ehrlich gesagt auch nie. Dazu muss man total scharf aufs Gewinnen sein – aber das war mir immer viel zu anstrengend.

Und Sportlehrerin wollte ich eigentlich auch nicht so richtig werden. Alle Welt hat mich ständig gefragt, was ich später mal werden will. Na ja, und da musste ich halt irgendwas sagen, damit sie mich in Ruhe ließen.

Das einzige einigermaßen saubere Kleidungsstück war eine Schlafanzughose. Die streifte ich über, schnappte mir meinen Seesack und schleppte ihn runter in den Keller. Im Wäscheraum kippte ich den Inhalt erst mal auf den Fußboden.

Da lag er nun also vor mir ausgebreitet, der ganze Sommer: kurze Hosen von den heißen Tagen, Jeans von Abenden am Lagerfeuer, Socken mit Grasflecken, T-Shirts mit kleinen Blutflecken von zu spät erschlagenen Mücken. Ich hielt mir ein Sweatshirt an die Nase. Es roch nach Rauch von verbranntem Holz.

Ich gab mir keine Mühe, helle und dunkle Sachen zu trennen. Meine Campklamotten waren robust und konnten was aushalten.

Ich stopfte so viel in die Waschmaschine wie reinging. Nach dem Anschalten dämpften die Waschgeräusche die Stimme meiner Mutter. Ich machte die Kellertür zu und hörte nun gar nichts mehr von ihr. Dann setzte ich mich auf den alten Stuhl, der schon ewig im Wäscheraum stand – er war auch eins von Moms »Projekten«. Irgendwann wollte sie mal einen Polsterkurs machen und ihn neu beziehen. Von Caseys Vater bekam sie sogar Hilfe angeboten, weil er so was schon mal beruflich gemacht hatte, aber sie konnte sich nie entscheiden, welchen Stoff sie wollte.

Unser Wäscheraum diente gleichzeitig als Abstellkammer. Die Regale waren voll mit lauter angefangenen und nicht fertig gewordenen Projekten meiner Mutter, von denen sie sich nicht trennen konnte. Und auch meine eigene Vergangenheit lagerte dort – eine Gitarre, ein Schachspiel, eine Staffelei und ein paar eingetrocknete Acrylfarben, ein Tennisschläger. Alles Sachen, aus denen nichts geworden ist, obwohl meine Eltern mir immer wieder Mut gemacht haben. Casey auch. Total nervig, das alles.

Ich hörte dem Rumpeln der Waschmaschine zu und dachte daran, wie absurd es war, solche normalen Sachen zu machen, während meine beste Freundin unter Mordverdacht im Knast saß.

Dann fiel es mir ein. Casey wollte im Dezember für vier Monate nach Australien. Irgendein Professor hatte sie in seine Exkursionsgruppe aufgenommen, damit sie sich mit den Insekten dort beschäftigen konnte. Das war für jemanden, der noch in die Highschool ging, echt ein Riesending.

Jetzt wird das mit Australien wohl nichts werden, liebe Gottesanbeterin, dachte ich. Wenigstens würde sie mich dann auch nicht hier alleine lassen.

Aber noch irgendwas anderes machte mir zu schaffen, das ich nicht so recht zuordnen konnte. Es war ziemlich unangenehm.

Um nicht weiter darüber nachzudenken, ging ich nach oben, weil ich Hunger hatte.

»Tür zu«, fauchte Mom, wie immer, wenn ich zu lange vor dem offenen Kühlschrank stand. »Wir wollen ja nicht die ganze Bude kühlen.«

Ich nahm die Milch raus und klappte die Tür wieder zu. Mom hatte nichts zum Mittag gekocht. Sie hatte sogar noch ihre Kirchensachen an. Also griff ich zu Brot und Erdnussbutter.

Mom starrte finster auf das Telefon.

»Was ist denn?«, erkundigte ich mich.

»Da denkt man nun, man kennt seine Stadt«, antwortete sie. »Man denkt, man kennt die Leute hier und ihre Ansichten und hält sie für anständig. Und dann so was.«

»Was denn?«, fragte ich wieder.

»Ich habe zehn Leute aus unserer Gemeinde angerufen, zehn Leute, die die Familie White schon kennen, seit sie hergezogen sind. Aber keiner von denen will mit mir zur Polizei kommen.«

»Du willst zur Polizei?«

»Und dann noch dieser Reverend Fleet! Der hat nur gemeint, dass er für sie beten wird!«

»Ist doch sein Job, oder?«

»Sein Job ist es, mit mir zur Polizeiwache zu gehen und was gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit zu unternehmen. Aber wahrscheinlich könnte Jesus persönlich in dieser Gefängniszelle sitzen, ohne dass dieser Fleet auch nur einen Finger für ihn krumm machen würde. Das hab ich ihm auch gesagt. Und weißt du, was er mir geantwortet hat? ›Kathy Glass gehört aber auch zu unserer Gemeinde.‹ Als ob das eine was mit dem anderen zu tun hätte!«

Ich biss ein Stück von meinem Sandwich ab. Die Erdnussbutter bildete einen Klumpen in meinem Mund. Ich musste ihn mit einem großen Schluck Milch runterspülen.

»Was Casey wohl zum Mittagessen kriegt?«, sagte ich. »Vielleicht könnten wir ihr ja ein paar Brote hinbringen.«

Mom sah mich mit ihrem durchdringenden Blick an. »Jessica Jude, das scheint dir ja alles nicht besonders nahezugehen. Wieso eigentlich?«

»Das geht mir schon nahe«, antwortete ich. »Ich bin nur … noch ganz verwirrt, das ist alles.«

»Na, dann entwirr dich mal schleunigst«, fuhr sie mich an. »Eine verwirrte Freundin hilft Casey nämlich jetzt auch nicht weiter.«

Mom wandte sich wieder dem Telefonbuch zu.

Ich aß mein Sandwich auf und hörte zu, wie sie weitere Leute zu überreden versuchte, mit zur Polizeiwache zu kommen. Sie konnte allerdings nicht so ganz deutlich machen, was sie dort eigentlich wollte, außer Caseys sofortige Freilassung zu fordern. Das klang alles reichlich planlos, aber so war Mom eben.

Natürlich erreichte sie nichts.

»Wir brauchen einen Spitznamen für dich«, meint Casey irgendwann zu mir, als wir gerade auf der Wiese neben dem Schulhof spielen. Sie beobachtet eine blaue Libelle, die sich auf ihrem Arm niedergelassen hat. »Was magst du denn besonders gerne?«

Ich weiß es nicht. Ich interessiere mich eigentlich für nichts so besonders. Ich nehme die Tage einfach so, wie sie kommen.

Als ich nicht antworte, sieht sie mich an.

»Guck mal, du hast genau die gleiche Farbe an«, sagt sie.

Ich verstehe nicht, was sie meint, und schaue zur Libelle. Sie hat recht. Genau der gleiche Blauton.

»Wir könnten dich Libelle nennen«, schlägt sie vor.

Und so wird Libelle mein Spitzname.

Mitten in der Nacht wachte ich auf, es war noch stockdunkel. Mein Wecker zeigte zwei Uhr morgens an, und ich versuchte wieder einzuschlafen, aber ich fand einfach keine Ruhe.

Fahr eine Runde mit dem Rad, sagte eine Stimme in meinem Kopf immer wieder. Ich versuchte es erst mal mit Lesen, aber das brachte die Stimme auch nicht zum Schweigen. Da ich keine Lust mehr hatte, dagegen anzukämpfen, stieg ich aus dem Bett und zog mich an.

Mom hat einen extrem leichten Schlaf, selbst wenn sie nicht krank ist. Ich wollte sie auf keinen Fall aufwecken. Bei jedem Knarren im Fußboden erstarrte ich, schaffte es aber nach draußen, ohne dass sie aus ihrem Zimmer kam.

Noch nie war ich so früh am Morgen mit dem Rad unterwegs gewesen. Es war ganz still in der Stadt. Ich fuhr durch die Straßen und kam mir vor, als wäre ich der einzige wache Mensch auf der ganzen Welt.

Ich fuhr zur Polizeiwache und kreiste dann an der Stelle, wo Casey in Haft saß. Ich stellte mir vor, wie sie an eine Kerkerwand gekettet war. Dann sah ich sie vor mir, wie sie so interessiert die Flöhe und Läuse in der Zelle beobachtete, dass sie die Ketten gar nicht registrierte. Bei dieser Vorstellung musste ich lächeln.

Dann wurde mir bewusst, was das für ein Gefühl war, das mir schon die ganze Zeit zugesetzt hatte, seit sie Casey abgeführt hatten.

Für mich war alles beim Alten geblieben, im öden Galloway. Casey dagegen wurde plötzlich herausgerissen, weg von mir, hin zu etwas ganz und gar Neuem. Während ich meine Pflichten zu erledigen und mich auf die Schule vorzubereiten hatte, erlebte sie etwas total Aufregendes und stand im Mittelpunkt. Casey hatte mich im Stich gelassen.

Ich war jetzt ganz allein.

Und das gefiel mir überhaupt nicht.

Wir sind in der siebten Klasse und verbringen den Nachmittag in Ten Willows. Es ist ein warmer Samstag im September. Im Camp sind jetzt keine Gruppen mehr und wir haben das Gelände ganz für uns allein.

Casey beobachtet eine Spinne, die einer Fliege das Blut aussaugt. Sie ist ganz versunken.

Nach einer Weile sagt sie: »Ich werde mich spezialisieren müssen. Es gibt so unglaubliche viele Insekten – über drei Millionen verschiedene Arten sind schon entdeckt. Mit allen kann ich mich auf gar keinen Fall näher beschäftigen! Vielleicht sollte ich mich ja auf Spinnen beschränken. Hm, oder lieber doch nicht. Auf Schmetterlinge sicher auch nicht. Käfer? Käfer find ich gut. Sehr gut sogar. Also vielleicht Käfer. Aber was für welche? Da gibt’s auch schon wieder so viele verschiedene.«

Ich langweile mich. »Komm, wir machen was«, sage ich.

»Ich mach doch schon was«, antwortet sie. »Guck mal, jetzt kannst du bei der Spinne sogar die Beißwerkzeuge sehen! Ich glaube, was sie da frisst, ist eine Blumenfliege.«

Ich nehme einen Stock und mache damit das Spinnennetz kaputt. Dann schmeiße ich alles weg.

»Sie war noch gar nicht fertig mit ihrer Mahlzeit«, sagt Casey.

»Los, ich will jetzt was machen!«

»Du musst dir ein Hobby suchen«, meint Casey. Sie geht weg und hält Ausschau nach anderem Getier.

Sie redet schon wie meine Mutter. Ich bin so sauer, dass ich mich verdrücke. Ich renne los. Ich renne und renne, durchs gesamte Campgelände, nur um wegzulaufen. Als ich wieder zum Ausgangspunkt zurückkomme, ist Casey nicht mehr da.

Ich nehme an, dass sie losgegangen ist, um mich zu suchen, und freue mich innerlich, dass ich sie von ihren Insekten weglocken konnte. Keuchend setze ich mich erst mal hin und gehe dann los, um sie zu finden.

Das dauert eine Weile.

Ich entdecke sie irgendwann kniend auf dem Bohlenweg, der durch den Sumpf führt. Sie beobachtet Taumelkäfer und Wasserläufer. Vorsichtig stupst sie die Wasserläufer mit einem dünnen Schilfrohr an und sieht zu, wie sie über die Wasseroberfläche flitzen.

Als sie meine Schritte auf den Bohlen hört, schaut sie auf.

»Ist das nicht irre?«, fragt sie. »All diese unterschiedlichen Lebensformen auf so kleinem Raum – Insekten und Spinnen, Vögel und Pflanzen. Vielleicht ist es das ja. Vielleicht spezialisiere ich mich auf Wasserinsekten.«

»Ich bin gelaufen«, erzähle ich ihr. »Durchs ganze Camp.«

»Das ist es«, sagt sie. »Du solltest Geländeläuferin werden.«