Kapitel 2
Meine beste Freundin Casey wurde wegen Mordverdacht verhaftet, direkt nach dem Gottesdienst.
Die gesamte Gemeinde war dabei.
Alle strömten gerade aus der Kirche. Nach drei Tagen Regenwetter schien endlich mal wieder die Sonne. Der Fußweg dampfte richtig. Der Park auf der anderen Straßenseite sah sattgrün aus, eher wie im späten Frühjahr als am letzten Wochenende im August.
Wir standen in Grüppchen zusammen und die Stimmung war deutlich gedrückter als sonst. Kathy Glass, Stephanies Mutter, war gekommen, obwohl keiner sie zum Gottesdienst erwartet hatte. Schließlich war Stephanies Leiche gerade erst gefunden worden. Niemand traute sich in ihrer Gegenwart zu lachen oder auch nur zu lächeln.
Ich stand mit meinen Eltern und einem der Diakone auf dem Fußweg, sie haben über Kirchenangelegenheiten geredet. Purer Zufall, dass ich überhaupt dabei war. Denn nach sechs Wochen als Betreuerin im Kindercamp Ten Willows hatte ich eigentlich erst mal genug von Gott. Dort gab es jeden Sonntag Gottesdienst im Freien. Und wir haben immer das Danklied von Johnny Appleseed gesungen, vor dem Essen, bei der Morgenandacht, bei den Bibelarbeiten und so weiter.
Kennst du das Lied? Ich kann’s dir mal kurz vorsingen.
Oh, the Lord is good to me,
And so I thank the Lord,
For giving me the things I need:
The sun and the rain and the apple seed.
The Lord is good to me.
Meistens haben wir statt »rain« aber »dry« eingesetzt, weil es beim Camp ja lieber nicht regnen sollte. Nur beim letzten Camp nicht, weil der Sommer extrem trocken war und Regen gebraucht wurde. Vielleicht hätten wir trotzdem um Trockenheit bitten sollen.
Normalerweise geh ich gar nicht in die Kirche. Aber ich kannte Stephanie – besser, als mir lieb war –, und als sie gefunden wurde, hatte ich das Gefühl, dass es angebracht war hinzugehen.
Und außerdem hat meine Mutter drauf bestanden.
Am Straßenrand standen zwei Polizeiwagen. Am Anfang hab ich mir gar nichts weiter dabei gedacht. Die Polizisten sind erst ausgestiegen, als Casey mit ihrer Familie aus der Kirche kam. Sie waren meistens unter den Letzten, weil ihr Vater im Rollstuhl sitzt. Er wartet immer, bis fast alle draußen sind, damit er sich nicht durch die Menge manövrieren muss.
Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie Casey und ihre Eltern auf Reverend Fleet zugingen, der wie üblich an der offenen Kirchentür stand und die Leute verabschiedete. Es kam mir komisch vor, Casey im Kleid zu sehen, nachdem wir beide wochenlang nur in Campklamotten rumgelaufen waren.
Reverend Fleet schüttelte dem Ehepaar White die Hand, doch als Casey an der Reihe war, tat er plötzlich was ganz anderes. Er fasste sie am Arm und legte ihr die Hand auf den Kopf, als ob er für sie beten wollte.
Da ich wusste, was Casey von unserem wichtigtuerischen alten Pfarrer hielt, war ich mir sicher, dass sie sich in diesem Moment wünschte, eine echte Gottesanbeterin zu sein, um ihm mit einem Schnapp den Kopf abzubeißen und hinterzuschlucken. Ganz bestimmt wünschte sie sich auch, dass ihm ein Schwarm Killerbienen unter den Talar fliegt, damit er wild um sich schlägt und schreiend davonrennt.
Erst als drei Polizisten ausstiegen, wurde ich aufmerksam. Wie alle anderen auch. Einen Moment lang herrschte Stille – genau wie nach der Predigt, wenn der Pfarrer endlich aufhört zu reden, was für die Gemeinde das Zeichen ist, wieder aufzuwachen und die Kollekte abzuliefern. Sämtliche Gespräche verstummten und alle schauten zur offenen Kirchentür. Der Verkehr stoppte, die Vögel hörten auf zu singen, und jeder konnte die Worte hören, die einer der Beamten zu meiner Freundin sagte:
»Casey White, ich verhafte Sie unter dem Verdacht des Mordes an Stephanie Glass.«
Dann wurden Casey die Arme hinter den Rücken gelegt und die Handschellen klickten.
Wie aus dem Nichts tauchten dann plötzlich etliche Reporterteams auf. Sie filmten, wie Casey die Treppe runter zum Polizeiauto geführt wurde. Als die Bilder später landesweit in den Nachrichten liefen, war ihr Gesicht verpixelt, damit man sie nicht erkennen konnte, weil sie erst 17 war. Trotzdem wusste natürlich die gesamte Stadt, dass sie es war. Galloway hat 9000 Einwohner und da kennt praktisch jeder jeden. Von daher hatte sich das rasend schnell rumgesprochen.
Wir sahen zu, wie der Bulle sie auf den Rücksitz des Wagens schob und ihr die Hand auf den Kopf legte, damit sie sich beim Einsteigen nicht stößt. Keiner regte sich. Keiner versuchte, die Polizisten davon abzuhalten. Wir standen einfach alle tatenlos daneben.
Als das Auto gerade anfuhr, sprang Caseys Mutter darauf zu und hämmerte mit den Fäusten auf den Kofferraum. Ihr Schrei war wahrscheinlich in der ganzen Stadt zu hören:
»Neeeeiiiin!«
Caseys Vater versuchte die Behindertenrampe runterzurollen, kam aber nicht weit, weil ihm Leute den Weg versperrten, die sehen wollten, wie Mrs Glass in die Mikrofone der Reporter sprach. Sie sei der Polizei sehr dankbar, dass die Verhaftung so schnell erfolgen konnte, sagte sie.
Irgendwann schaffte es Mr White dann doch die Rampe runter und die beiden starrten ratlos dem Polizeiwagen hinterher. Meine Mutter ging zu ihnen und sagte ein paar tröstende Worte, die sie aber vermutlich gar nicht hörten.
Und ich?
Ich stand wie angewurzelt da und glotzte.
Bis Mom an mir vorbeigestampft kam.
»Los, wir gehen«, fuhr sie mich an.
Ich musste rennen, um sie einzuholen.
Casey fällt mir zum ersten Mal in der dritten Klasse auf.
Die Pause ist gerade zu Ende. Es klingelt und wir stellen uns auf. Alle schreien rum und schubsen. Außer Casey. Sie steht ganz still und hält die Hände hohl aneinander. Darin sitzt ein großes grünes Insekt.
»Was ist das denn?«, fragt ein Mädchen und quiekt dann los: »Iiieeehhh!«
Viele Mädchen fangen auch an zu kreischen, wie Mädchen das eben so machen. Sie rennen durcheinander, die Jungs auch, und schon sind alle wieder auf dem ganzen Schulhof verteilt.
Ich renne nicht mit. Ich beobachte nur.
Ms Thackeray hat große Mühe, alle Kinder wieder zusammenzutrommeln.
»Dieses Ding da bleibt hier auf dem Schulhof«, schnauzt sie Casey an.
»Das ist eine Gottesanbeterin«, sagt Casey. »Ich hab sie im Gebüsch gefunden.«
»Dann bring sie mal schleunigst dorthin zurück.«
»Wenn ich sie mir fertig angeschaut habe.«
Casey fragt nicht – sie teilt mit. Ich habe noch nie ein Kind erlebt, das so mit Erwachsenen redet. Nicht um Erlaubnis fragt, nicht quengelt. Sondern mitteilt. Als ob ihre eigenen Ideen genauso wichtig sind wie die der Lehrerin.
Casey geht einfach an Ms Thackeray vorbei ins Schulhaus. Sie schafft es ins Klassenzimmer, ehe Ms Thackeray sie einholen kann. Die Lehrerin packt sie am Arm, die Gottesanbeterin entwischt und fliegt durchs Zimmer. Alle Kinder schreien und rennen umher.
Letztendlich landet das Tier auf dem Tisch von Nathan Ivory. Nathan erschlägt es mit einem Buch. Casey verpasst ihm daraufhin einen solchen Schubs, dass er vom Stuhl fällt und sich an einem Bücherregal die Nase blutig stößt. Casey versucht, die Überreste des Insekts einzusammeln. Ms Thackeray zerrt sie aber weg und bringt sie zur Schulleitung.
Seitdem heißt Casey bei den anderen Kindern Gottesanbeterin.
Casey findet das toll.
Und wir werden Freundinnen. Sie kann mich leiden, weil ich nicht gleich hysterisch loskreische, wenn ich mal ein Krabbeltierchen sehe. Ich finde Insekten zwar nicht ganz so super wie Casey, aber ich wüsste auch nicht, wieso ich wegen ihnen so ein Riesentheater veranstalten sollte. Casey ist es egal, dass sonst keiner mit mir befreundet sein will. Und ich freue mich, dass sie mich leiden kann.