Kapitel 10

Stephanies Tod beherrschte weiterhin die Schlagzeilen.

Obwohl solche Sachen – Amokläufe zum Beispiel – ja wohl öfter passieren, war die Tatsache, dass ein Kind ein anderes Kind getötet hatte, eine Sensation. Keine Ahnung, wieso. Auch Kinder können Terroristen sein. Ich glaube, das verdrängen Erwachsene und malen sich stattdessen die Kindheit immer als eine komplett fröhliche und unschuldige Zeit aus. Dabei vergessen sie aber, dass unter Kindern Sachen wie Mobbing, Schikane und Ausgrenzung genauso vorkommen. Sie können sich die Gewalt auf dem Schulhof und während der Pausen in den Fluren nicht vorstellen – da wird gerempelt und getreten und man kriegt schnell mal ohne Grund was an den Kopf.

Warum denken nur alle, dass Kinder nicht gewalttätig sein können? Kinder sind doch auch nur Menschen. Und Menschen neigen nun mal zur Gewalt.

»Insekten sind nicht zu Gewalt fähig«, meinte Casey eines Abends.

Wir saßen in ihrem Wohnzimmer und sahen uns mit ihren Eltern die Fernsehnachrichten an. Darin wurde berichtet, dass ein Mann seine gesamte Familie umgebracht hatte und dazu noch ein Nachbarskind, das gerade zum Spielen da war. Danach tötete er noch den Nachbarn, der aufgrund der Schüsse hinübergerannt war, und nahm außerdem durchs Fenster die gegenüberliegenden Häuser unter Beschuss.

»Insekten sind nicht zu Gewalt fähig«, sagte Casey also. »Insekten töten, um sich zu ernähren. Aber wir Menschen töten uns ohne erkennbaren Grund gegenseitig.«

Das war Caseys Wunschtraum: dass sich die Menschen genauso vernünftig benehmen wie Insekten.

Stephanies Tod war im Moment das Thema Nummer eins.

Erstens, weil Stephanie so hübsch gewesen war.

Zweitens, weil Casey auch ganz gut aussieht – zwar nicht unbedingt hübsch im gängigen Sinne, aber doch auf jeden Fall attraktiv und mit einer starken Ausstrahlung – zumindest habe ich das immer so empfunden. Außerdem war sie eine absolute Musterjugendliche und hat alle möglichen naturwissenschaftlichen Preise abgeräumt. Auf jeden Fall wäre sie die Allerletzte gewesen, der man einen Mord zugetraut hätte. Das veranlasste die Medien natürlich zu lauter reißerischen Artikeln mit Überschriften wie »Was ist nur mit unserer Jugend los?« oder »Sitzt bei Ihnen ein Monster mit am Tisch?«

Drittens, weil Casey im Camp Stephanies Gruppenleiterin war, was in Presse und Radio-Anrufsendungen zu heftigen Diskussionen darüber führte, wie eine Gesellschaft ihre Kinder besser schützen kann. Dabei wurde immer wieder mehr Kontrolle gefordert. Anbieter von Überwachungstechnik erlebten einen regelrechten Run auf alle möglichen Produkte, mit denen Eltern ihre Kinder jederzeit orten konnten.

Und dann war da noch die Sache mit den Insekten. Das war schön abgefahren und exotisch und unterschied den Fall ganz klar von anderen Gewaltdelikten zwischen Kindern. Irgendein Idiot überschrieb seinen Beitrag mit »Schweigen der Lämmer in einer Kleinstadt«, weil in der Geschichte auch ein Insekt vorkommt und Casey Insekten liebte. Das war zwar kompletter Schwachsinn, aber alle fuhren darauf ab.

Ein Journalist ließ sich detailreich über Caseys ungewöhnliches Interesse für Naturwissenschaften aus. Dass sie Insekten spannender fand als Jungs, deutete in seinen Augen auf eine tief liegende Perversion hin.

»Du musst darauf reagieren!«, sagte Mom am Frühstückstisch zu mir und wedelte mit der Zeitung vor meiner Nase herum. »Schreib ihnen einen Brief. Sag, wie es wirklich war. Widersprich ihnen!«

Je lauter sie wurde, desto mehr zog ich mich zurück.

Und mein Vater? Der verzog keine Miene, sondern löffelte ungerührt sein Müsli.

Das nächste Großereignis in der Stadt war Stephanies Beerdigung. Sie musste immer wieder verschoben werden, weil Gerichtsmedizin und Polizei ihren Leichnam nicht rechtzeitig freigaben.

Der Trauergottesdienst, an dem praktisch die gesamte Stadt teilnahm, fand an einem Freitagmorgen in unserer Kirche statt. Stephanies Schulklasse – sie wäre in der Dritten gewesen, wenn sie den Sommer überlebt hätte – war vollzählig anwesend. Die Kinder legten Blumen auf den Altar, ein kleines Mädchen las ein anrührendes Gedicht vor – das übliche »Wir werden dich nie vergessen«-Zeug. Das wäre mir vielleicht sogar nahegegangen, wenn nicht genau dieses Mädchen unmittelbar vor dem Gottesdienst noch vor den Fernsehkameras posiert hätte.

Als Mom und ich die Kirche betraten, stießen sich die Leute gegenseitig an. Und im nächsten Moment drehte sich außer Stephanies Mutter die gesamte Gemeinde um und starrte mich an.

»Was glotzt ihr denn so?«, rief Mom. Ehe sie noch mehr sagen konnte, schob ich sie hastig in eine Bankreihe.

Ich hielt Ausschau nach Caseys Eltern, konnte sie aber nirgends entdecken.

Auch wenn Beerdigungen traurige Anlässe sind und mich Stephanies Tod natürlich betroffen machte, wurde ich im Laufe des Gottesdienstes immer wütender. Alle wollten sich dabei präsentieren. Der Kinderchor trat auf und anfangs kicherten und tuschelten die Kleinen munter herum. Erst als die Kamera auf sie gerichtet war, hielten sie schlagartig den Mund und zogen leidvolle Gesichter. Reverend Fleet stolzierte wie ein Pfau zur Kanzel und spendete anschließend den Segen so salbungsvoll, als ob er das vorher mit einem Schauspieltrainer geübt hatte.

Das Fernsehen kann einfach alles kaputt machen.

Aber das war nicht der eigentliche Grund für meine Wut. Die galt Stephanie, dieser Nervensäge, die sich nun auch noch hatte umbringen lassen. Ihretwegen war aus unserem letzten Jahr an der Highschool, auf das wir uns eigentlich gefreut hatten, ein Albtraum geworden. Sie war schuld daran, dass Moms Krankheit wieder schlimmer wurde und meine Freundin im Gefängnis saß. Ich fühlte mich einsam und ausgestoßen.

Alles nur ihretwegen.

Doch allmählich ließ mein Zorn auf Stephanie nach. Schließlich war sie ja nur ein kleines Mädchen. So anstrengend sie auch gewesen war, sie hatte ja nicht gerade darum gebeten, umgebracht zu werden. Es war Unsinn, wütend auf sie zu sein.

Trotzdem war mein Zorn noch da, auch wenn ich ihn erst richtig spürte, als der Gottesdienst zu Ende war und wir aus der Kirche kamen.

Gefolgt von dem ganzen Medientross kam Mrs Glass auf mich zu. »Warum hast du zugelassen, dass sie so was tut?«, fragte sie mich mit klarer, eisiger Stimme. »Du hast doch bestimmt die ganze Zeit gewusst, was das für eine war. Und trotzdem hast du sie allein gelassen mit den Mädchen, mit meiner Stephanie. Ich bin jedenfalls der Meinung, dass du genauso schuldig bist wie sie. Wie konntest du das nur geschehen lassen? Du wusstest genau, wie sie ist!«

Ich erstarrte. Ein Dutzend Mikrofone war auf mich gerichtet und die Kameras zoomten heran. Ich hätte mich einfach umdrehen und weggehen oder Mrs Glass mein Mitgefühl aussprechen sollen. Aber stattdessen machte ich den Mund auf und stammelte dümmlich: »Ich … ich … ich wusste doch nicht, dass sie so ist.«

Das Feuerwerk von Fragen, das auf mein idiotisches Statement folgte, riss mich aus meinem Stumpfsinn, und ich trat schleunigst den Rückzug an. Nach und nach zerstreute sich die Menge und verteilte sich auf die wartenden Fahrzeuge, um zum Friedhof zu fahren.

In diesem Moment richtete sich meine Wut vor allem gegen Casey, denn sie war ja für das alles verantwortlich. Sie hatte mich im Stich gelassen, sodass ich jetzt allein mit diesem ganzen Irrsinn fertigwerden musste. Selbst wenn sie Stephanie nicht umgebracht hatte, war sie leichtsinnig gewesen und hatte damit zugelassen, dass Stephanie getötet wird. Ich musste an Caseys Brief denken. Casey hatte schon recht. Sie war für das alles verantwortlich.

Dieses ganze Chaos ging eindeutig auf ihr Konto. Und ich hatte sie gewarnt. Wenn sie auf mich gehört hätte, wären wir Stephanie gegenüber viel strenger gewesen, aber Casey musste ja unbedingt ihren Kopf durchsetzen. Ich fühlte so eine Wut in mir, dass ich richtig zu zittern anfing.

Ich sah mich suchend nach Mom um. Sie stand auf dem Fußweg, so weit weg wie möglich von den ganzen Autos, in die jetzt die Trauergäste stiegen. Neben ihr standen Caseys Eltern.

Sie waren also doch gekommen. Ich fragte mich, warum sie nicht im Gottesdienst gewesen waren, denn schließlich gehörten sie zur Gemeinde und hätten mit dabei sein müssen.

Dann kam mir ein plötzlicher Gedanke und ich fuhr herum. Beim Blick in Richtung Kircheneingang sah ich, dass die Rollstuhlrampe abgebaut worden war.

In diesem Moment hasste ich Galloway abgrundtief. Ich hasste meine Heimatstadt so sehr, dass ich keine Worte mehr dafür fand.

Aber noch viel mehr hasste ich mich selber, weil ich genau wusste, dass ich ohne Casey an meiner Seite nicht den Mut hatte, den anderen zu widersprechen.

28.–31. August

7. bis 10. Tag

Inzwischen herrscht offener Kriegszustand. Wir teilen uns auf und versuchen, die Lage auf diese Weise im Griff zu behalten.

Eine von uns übernimmt immer die sieben vernünftigen Kinder und die andere kümmert sich um Stephanie. Trotzdem versuchen wir, als Gruppe zusammenzubleiben und nicht durchblicken zu lassen, dass eine von uns ständig Stephanie-Dienst hat. Aber sie kriegt es trotzdem mit und findet es super.

Das alles ödet mich so an. Es ödet mich an, wenn ich die sieben lieben Kinder zu bespaßen habe, denn es strengt ziemlich an, sie ständig bei Laune zu halten. Und der Stephanie-Dienst nervt mich noch viel mehr, weil das noch viel anstrengender ist.

Außerdem funktioniert der Plan sowieso nicht richtig, weil sie uns dauernd wieder entwischt. Casey hat schon recht – das Kind ist wirklich mutig. Zum Verstecken kriecht sie sogar unter die Hütte, wo es von Spinnen nur so wimmelt, das Unkraut wuchert und sicher auch Schlangennester sind.

Die anderen Betreuer haben auch ein Auge auf sie, genauso wie die erwachsenen Mitarbeiter. Jeder, der sie irgendwo aufgabelt, wo sie nicht hingehört, bringt sie zu uns zurück. Sie bekommt immer wieder Standpauken und Verwarnungen zu hören. Trotzdem macht sie, was sie will. Caseys Mikroskop taucht im Besenschrank ganz hinten im Speisesaal auf. Es ist total kaputt. Stephanie meint dazu nur grinsend: »Beweist es doch!«

Sie klaut ständig. Taschenlampen, Mützen, Schuhe, worauf sie es halt gerade abgesehen hat. Eines Nachts versucht sie noch mal, an Caseys Haarspange mit der Gottesanbeterin zu kommen. Sie klettert in Caseys Doppelstockbett und will sie ihr im Schlaf wegnehmen. Casey wacht gerade noch rechtzeitig auf und schreckt hoch, woraufhin Stephanie anfängt zu kreischen, dass Casey sie fast vom Bett geschubst hätte und sie sich dabei hätte verletzen können. Es kostet unglaublich viel Energie und Geduld, in der Hütte wieder für Ruhe zu sorgen. Wenn Kinder einmal wegen irgendwas verstört sind, fallen ihnen plötzlich noch tausend andere Sachen ein, die sie beunruhigen, und es gibt Tränen, Wutanfälle und haufenweise Chaos.

Casey und ich werden von den anderen Betreuern schon ganz schief angesehen.

»Wenn ihr eure Gruppe nicht im Griff habt, solltet ihr euch lieber einen Ferienjob in ’ner Frittenbude suchen«, lästern sie. Ich hasse sie alle. Einmal schleiche ich mich ins Büro der Campleiterin, während sie Mittagspause hat, und rufe Stephanies Tante selber an. Aber es meldet sich nur der Anrufbeantworter. Ich spreche ihr aufs Band, dass sie ihre Nichte abholen soll. Aber ich erwarte nichts davon.

Wir überlegen, ob wir die Freiluftübernachtung abblasen sollen, und sagen sie dann tatsächlich ab. Schließlich ist es schon in der Hütte schwer genug, Stephanie in Schach zu halten. In der nächtlichen Natur außerhalb des eigentlichen Camps hätten wir nicht die leiseste Chance.

Doch dann, als die letzten Tage im Camp anbrechen, wird sie zusehends ruhiger. Sie verschwindet zwar immer noch manchmal, aber nie besonders lange. Geklaut hat sie auch schon alles, was sie haben wollte. Wir sind total geschafft und sehnen nur noch das Ende des Camps herbei. Da fängt sie an, sich fast normal zu benehmen.

Und wir beschließen, doch mit der Gruppe im Freien zu übernachten.