23

Ich kehrte zu Fuß zum Arbiyesku zurück, eskortiert von zwei bewaffneten Soldaten.

Ascherauch hing in der Luft, so dick und kriechend wie Angst. Von Dächern herabgefallenes Stroh lag herum wie die Füllung einer zerfetzten Puppe. Lehmziegelhütten waren zertrümmert und niedergerissen worden. Schreie der Trauer drangen durch die Stille.

Der Flug des Himmelswächters über Xxamer Zu konnte an der Spur der von seinen Krallen verwüsteten Hütten genau nachvollzogen werden. Die Zerstörung war nicht sonderlich ausgedehnt, es war keine flächendeckende Vernichtung gewesen. Nur ein einziger, rauchender Pfad.

Eine Warnung.

Als ich im Arbiyesku ankam, war ich vollkommen ausgelaugt. Es war später Mittag. Die Angehörigen des Arbiyesku, die, ungeachtet der Toten in ihren Familien, auf den Feldern arbeiten mussten, hatten ihre Sensen und Hacken geschultert und trotteten hinaus. Sie gingen gebeugt, mit herabhängenden Schultern. Der Schaden, den der Himmelswächter angerichtet hatte, erstreckte sich am Ende doch über diesen Pfad hinaus. Furcht ist wie der Wind: unsichtbar, ungreifbar und nicht an Pfade und Wege gebunden.

In der Ruine des Kokon-Lagerhauses loderten noch die Feuer, wärmten die wenigen übrig gebliebenen Kokons und härteten die zerstörten Hüllen zu harten Brocken. Die Fetzen von Horn und Fleisch stanken besonders schlimm, als sie in der Hitze schrumpften. Es war ein widerlicher Geruch, dieser Gestank nach verbranntem, totem Fleisch, von geräucherter und konservierter Fäulnis.

Statt in einem großen Kreis das Lagerhaus zu bewachen, arbeiteten die Schüler des Drachenmeisters im Inneren, während ihre Säbel an ihren Hüften schwangen, hackten Holz und warfen es in die Feuer. Einige Rishi halfen ihnen; ich konnte sie mit einem kurzen Blick zählen. Es war auffallend, dass von den vielen Rishi, die normalerweise im Arbiyesku herumliefen, nichts zu sehen war.

Der Stamm der Lautlosen Schlächter dagegen machte keinen Hehl aus seiner Anwesenheit.

Sie hockten da, mit Bäuchen, die sie, wenn man dem Messerträger glauben durfte, mit dem Fleisch ihrer Toten gefüllt hatten. Verbittert dachte ich daran, dass sie dem Arbiyesku wirklich hätten helfen können, seine Hütten neu aufzubauen. Aber so sehr mir ihre absichtliche Abgrenzung auch missfiel – ein kleiner Teil von mir musste widerwillig zugeben, dass ich sie dafür bewunderte, wie konzentriert sie ihr Ziel im Auge behielten. Sie waren gekommen, um eine Schuld einzutreiben, und nichts würde sie davon ablenken oder abbringen.

Die Kinder und alten Frauen des Arbiyesku flochten Jute und Schilf zu Matten, um damit die zerstörten Wände des Frauenhauses zu reparieren. Als ich mich ihnen näherte, hörten sie auf zu arbeiten. Savga hatte bei ihnen gesessen und stand jetzt auf. Ihr Blick verriet ihre schreckliche Trauer über den Verlust ihrer Großmutter Fwipi.

Mir schnürte sich die Kehle zusammen, als ich zu ihr ging, eine Hand auf ihren Kopf legte und mich neben Agawan setzte, der auf dem Boden schlief. Meine Eskorte bezog einige Schritte von mir entfernt Position. Die alten Frauen und Kinder sahen von den Soldaten zu mir. Ihre Augen verrieten ihr Unbehagen; sie hatten Angst, sich zu rühren.

»Ignoriert sie«, sagte ich müde. »Sie tun niemandem etwas zuleide. Sie sind nur hier, um … auf mich aufzupassen. Mehr nicht.«

Nach einer unbehaglichen Pause setzte sich Savga in Bewegung. »Ich hole dir Wasser«, flüsterte sie.

Sie kam mit einem Trinkkürbis voll Wasser, einer kalten Kadoob-Knolle, so welk wie ein Affenhoden, und Tansan zurück. Tansan war die Trauer über den Tod ihrer Mutter deutlich anzusehen. Sie würdigte die Soldaten keines Blickes. Offenbar hatte Savga sie vorgewarnt.

Vor mir blieb Tansan stehen, schön wie eine Statue und ebenso starr. »Wir haben ihre Leiche auf die Felder gebracht und unsere Gebete gesprochen. Die Geier und Hyänen werden jetzt neues Leben aus ihrem Körper und ihren Knochen erschaffen.«

»Herzen zerreißen, wenn eine Mutter stirbt«, erwiderte ich leise. Aber meine Worte kamen mir selbst ungenügend vor. Ich wusste nicht, wie ich meine Gefühle angesichts Fwipis Tod ausdrücken sollte; ich hatte diese Gefühle unterdrückt, sie unter harten Schichten von Wut auf den Geist meiner Mutter und auf Kratt, ja, selbst auf Waivia begraben.

Nach einer Pause trank ich einen Schluck aus dem Kürbis, den Savga mir hinhielt, und biss von der Kadoob ab. Ihr rauchiger Geschmack war mir zu bitter. Heute würde ich lieber hungern.

Tansan hockte sich neben mich. Die Muskeln in ihren glatten Schenkeln traten hervor. »Was hat der Rat über sie gesagt?« Sie sprach zu leise, als dass die Soldaten sie hätten hören können, und sah zu den Kewmbibi Shafwai hinüber.

»Ich hätte das Geheimnis, wie man Bullen züchtet, nicht aus dem Dschungel mitgebracht und wir würden den Kwembibi Shafwai nichts schulden, weil sie nur Wilde sind.«

»Das ist falsch«, murmelte Tansan. Sie klang fast wie Fwipi.

»Was sollen wir tun?« Ich fragte sie ebenso wie mich selbst, aber sie antwortete trotzdem. Leise. Ich konnte sie kaum verstehen.

»Einige Myazedo von Xxamer Zu werden heute Nacht einen alten, eierlegenden Brutdrachen aus den Brüterstallungen stehlen und ihn in das Lager in den Hügeln schaffen. Dort werden sie Holz schlagen und sich auf den Moment vorbereiten, wenn er sein Todeswachs ausscheidet.«

Ein Schauer überlief mich. Ich bekam aus zwei Gründen eine Gänsehaut. Der erste war der ungeheuerliche Diebstahl, den Tansan plante und der der Entscheidung des Rates des Großen Aufstands zuwiderlief. Der zweite Grund war, dass sie mir diese Information anvertraute. Es war der Höhepunkt einer angespannten, unsicheren Beziehung, die angefangen hatte, als wir uns das erste Mal begegneten und sie mein Leben verflucht schimpfte. Ihr Vertrauen jetzt rührte mich.

»Du willst deinen eigenen Bullen züchten«, murmelte ich.

»Wir haben es jedenfalls vor.«

»Sind die Brüterstallungen unbewacht?«

»Einige von uns haben seit der Befreiung Bayen-Schmuck und Gold … gesammelt. Einige aus dem Clan, der die Brutdrachen bewacht, werden heute Nacht tief und fest schlafen, dank dieses Schmucks und des Goldes.«

»Tansan, wenn ihr erwischt werdet … Denk an Savga, an Agawan.«

Ihre schwarzen Augen waren unergründlich. »Ich werde nicht erwischt.«

Gegen diese Überzeugung war nichts zu sagen. Ich senkte den Blick. »Mögen Bullenschwingen für dich schlüpfen. Mögest du in Sicherheit sein.« Dann jedoch packte mich der Ärger, weil ich das Gefühl hatte, dass sie Xxamer Zu im Stich ließ. Gereizt blickte ich hoch. »Wir sollten nicht aufgeben. Ich glaube immer noch, dass wir es schaffen können.«

»Was können wir schaffen?« Ihre Handbewegung umfasste den Hof, die Brutstätte, ja die ganze Nation. »Das ist nicht mehr unser Kampf, Zarq. Jetzt spielen Bayen-Männer ihre Spiele von Macht und Wohlstand. Sie werden vergessen haben, was sie den fleckbäuchigen Rishi von Xxamer Zu schulden, bevor das Jahr sich dem Ende zuneigt.«

»Wir werden nicht zulassen, dass sie es vergessen! Das hier ist unser Land!«

Sie warf erneut einen Blick auf die Kwembibi Shafwai. »Wenn sie ihnen nicht geben, was ihnen zusteht, dann werden sie auch uns nicht geben, was uns gehört. Für sie sind wir ein und dasselbe.«

Wieder konnte ich nichts gegen die bittere Wahrheit ihrer Worte sagen. »Ich will eine Gruppe von Djimbi-Ältesten zusammentrommeln, die in den Nashe-Rat gehören. Wirst du mir wenigstens dabei helfen, Tansan?«

»Das ist Zeitverschwendung.«

»Also gibst du auf?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich dir nicht helfen werde. Aber bis Chinion zurückgekehrt ist, spielt es keine Rolle, wer in den Rat entsendet wird. Nur Chinion kann die Wahrheit von den unverschämten Bayen-Lügen und ihren Betrügereien trennen.«

»Es gibt bestimmt einige recht hartgesottene Älteste in unserer Brutstätte, die sich nicht von den Ratsherren einschüchtern lassen, möchte ich wetten.«

»Wir sind ein starkes Volk«, stimmte sie mir zu.

»Wann kommt Chinion zurück?«

»Er kommt zurück.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Er hat es versprochen.« Behände stand sie auf. »Es muss Wasser geholt werden.«

Ich sah ihr nach, als sie davonging. Ihre dunkelhäutigen, fleckigen Gliedmaßen bewegten sich so geschmeidig wie köstliche dicke Soße, die heiß und langsam aus einer Kelle rinnt. Sie war eine Kriegerin, ihre Mutter war gerade getötet worden, und sie trug einen Krug auf dem Kopf, um Wasser für ihre Kinder und ihre Verwandten zu holen.

So etwas bedeutet für mich wahre Stärke.

 

Es wurde dunkel, Wolken überzogen den ganzen Himmel, und es regnete leicht. Über den fernen Dschungelbergen musste es ein wahrer Wolkenbruch sein. Die Feuer im Lagerhaus zischten und fauchten, als würde man Öl hineingießen.

Piah kam im Laufschritt in den Arbiyesku. Er war atemlos. Ein Regiment Soldaten marschierte in unsere Richtung.

Wir starrten uns erstaunt und entsetzt an. Was?

»Um sie zu vertreiben.« Piah deutete auf die Kwembibi Shafwai, deren Augen in der Dunkelheit wie Perlen schimmerten. Sie alle, jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, konzentrierten sich nur auf mich und meinen Clan.

Dann hörten wir das Rauschen von Schwingen über unseren Köpfen. Entsetzen packte uns, wir erstarrten. Aber kein Himmelswächter näherte sich, sondern nur Escoas. Ihre ledrigen Schwingen wirbelten Staub auf, als sie in der Dämmerung des Hofes landeten. Wir stießen einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus.

Ich erhob mich steif und begrüßte Malaban Bri, der gerade von seinem Reittier abstieg. Der Messerträger glitt nach ihm aus dem Sattel. Der Zweizöpfige flog die andere Escoa, und bei ihm war der Bayen von letzter Nacht. Sie stiegen ebenfalls von ihrem Tier ab. Meine beiden Soldaten folgten mir wie Schatten.

»Ist es wahr?«, erkundigte ich mich bei Malaban. Er roch nach Rauch, Holzkohle und Schweiß und war rußbedeckt. Er hatte sich seit letzter Nacht nicht umgezogen.

Er drehte sich um. Seine schwarz geränderten Augen blickten ernst. »So wurde entschieden. Es gibt keinerlei Beweise, dass wir diesen Leuten eine Entschädigung für das Wissen schuldig sind, das sie dir angeblich übermittelt haben.«

»Sie haben es mir nicht angeblich übermittelt. Es ist die Wahrheit!«

Seine Brust hob sich, dann stieß er den Atem aus. »Das sagst du.«

»Du glaubst mir nicht?«

»Ich schon.«

»Aber …«

»Es tut mir leid, Zarq.« Seine Worte klangen endgültig. Er nickte dem Messerträger zu und ging mit ihm, dem Zweizöpfigen und dem Bayen über den Hof zu dem Stamm der Lautlosen Schlächter, die ihre Bezahlung erwarteten.

Ich folgte ihnen. Savga begleitete mich, mit Agawan in der Schlinge auf ihrem Rücken. Tansan tauchte aus dem Dunkel und auf gesellte sich zu uns. Alliak und Piah flankierten sie. Ein langsamer Strom aus Rishi folgte uns allen, kam näher, umringte mich. Meine Soldaten hatten alle Mühe, in dem Gedränge bei mir zu bleiben.

Wie das Knirschen von tausend müden Kakerlaken, die über Geröll liefen, hörten wir die Schritte des herankommenden Regiments von Soldaten. Sie kamen, um sich der Kwembibi Shafwai anzunehmen.

Langbein und die Matriarchin standen auf. Wir alle nahmen unsere Positionen von letzter Nacht ein, als würden wir einen gut einstudierten Tanz aufführen.

»Sag es ihnen«, befahl Malaban Bri brüsk.

Der Messerträger grinste unheimlich und begann, abgehackt mit der Matriarchin zu sprechen. Einmal hielt er inne, um ein Wort zu suchen, den Kopf geneigt wie ein Raubvogel; anders als in der Nacht zuvor fragte er den Zweizöpfigen nicht um Rat, und der machte auch keine Anstalten, zu helfen.

Als er fertig war, herrschte lastendes Schweigen.

Plötzlich fauchte Langbein uns an. Nein, sie zischte mich an.

Sie zog ihre Lippen zurück, fletschte ihre Zähne, wie kein Mensch es konnte. Sie war nicht einmal annähernd menschlich. Dann zischte sie. Es hörte nicht auf, dieses Zischen. Es strömte aus ihr heraus, als würde sich jeder Tropfen Blut aus ihren Adern in Luft verwandeln und in einem wilden Strom aus ihrem Mund hervorschießen. Unwillkürlich trat ich einen Schritt von ihr zurück, während sich alle meine Körperhaare aufrichteten und ich vor Angst erstarrte. Die beiden Soldaten neben mir griffen zu ihren Schwertern.

Dann sprach die Matriarchin mit dunkler, gedämpfter Stimme und voller Zuversicht. Der Messerträger wirkte alles andere als erfreut, als er ihre Worte verdaute. Ein Schauer überlief mich. Er war niemand, der sich seine Gefühle so leicht anmerken ließ. Es kostete ihn einige Mühe, eine gleichgültige Miene aufzusetzen, als er die Worte der Matriarchin übersetzte. »Sie sagt, sie wird die Kreatur von letzter Nacht herbeirufen. Sie sagt, wenn du diese Abmachung nicht einhältst, wird sie diese Kreatur jede Nacht rufen, bis nur noch schwarze Knochen und verbrannte Erde übrig sind. Sie sagt, dass sie das vermag und auch tun wird, selbst wenn sie dabei getötet wird.«

Die Matriarchin drehte sich zu ihrem Stamm um und hob die Arme. Ihre wundervollen Goldketten blitzten im Schein der Feuer. Sie brüllte etwas. Sofort stießen einige Stammesangehörige ein schreckliches, keuchendes Husten aus. Langbein gab immer noch ein unheimliches Zischen von sich, ohne den Blick von mir zu wenden.

Ich hatte Schwierigkeiten, meine Stimme wiederzufinden. »Malaban, wie weit sind die Soldaten noch entfernt?«

Er sah mich an. »Kann diese Frau tun, was sie behauptet?«

»Sieh dir die Wolken an.«

Die Wolken hatten sich in wahre Kohleberge verwandelt, in einen tosenden Wirbel, der sich zusammenzog und am Rand feurig glühte. Einer der Stammesangehörigen sang, nein, er rezitierte etwas. Seine Stimme klang weich und drohend, ähnelte einer Garrotte, die sich langsam immer tiefer in den Hals ihres Opfers gräbt.

»Savga«, stieß ich heiser hervor. »Lauf weg.«

Ich dankte dem Einen Drachen, dass sie diesmal gehorchte. Ihre Flucht brach der Furcht in den anderen Angehörigen des Arbiyesku Bahn, und sie verschwanden, zunächst langsam und unsicher; doch als die Wolken wie Kohlen zischten, auf die man Öl gießt, und rot pulsierten, verbreitete sich schlagartig Panik. Mütter packten ihre Kinder und brachten sich hastig in Sicherheit, Söhne halfen betagten Großvätern, sich in den Hütten in Sicherheit zu bringen. Tansan und Piah blieben bei mir. Wie auch meine Leibwache.

Meine Nase begann zu bluten.

Die Matriarchin bückte sich, königlich in ihre wundervolle, perlrosafarbene Decke gehüllt, und hob eine Handvoll Erde vom Boden auf. Es war gräulicher Lehm. Er war die Grundlage der Welt meiner Mutter gewesen, als sie noch lebte. Lehm. Die Matriarchin richtete sich auf und spie in ihre Handfläche.

»Sag ihnen, sie sollen aufhören«, sagte der Bayen hinter Malaban. Sein Unbehagen war ihm deutlich anzumerken. Malaban bedeutete dem Messerträger, dem Adligen zu gehorchen. Der Messerträger sprach. Seine Worte trafen auf taube Ohren.

Die Matriarchin begann, aus dem vom Speichel angefeuchteten Lehm in ihrer Hand eine Gestalt zu formen.

»Piah«, sagte ich. »Lauf den Soldaten entgegen. Sie sollen sich beeilen. Lauf!«

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er in der Dunkelheit verschwand. Mit einem leisen Geräusch fielen rote Tropfen meines Lebenssaftes in den Staub zu meinen Füßen. Mit zitternden Fingern drückte ich meine Nase zusammen, um die Blutung zu stoppen.

Die Matriarchin griff unter ihre übereinanderfallenden goldenen Halsketten und zog eine Feder hervor. Eine leuchtend blaue Feder. Ich erinnerte mich daran, wie ihr Stamm in der Nacht zuvor auf dem Dach des Lagerhauses gestanden hatte, als der gewaltige, gefiederte Brustkorb des Himmelswächters über uns hinwegfegte. Ich erinnerte mich daran, wie sie ihre Speere erhoben hatten, wie einige Frauen und die Kinder auf den Schultern der Männer gesessen hatten. Ich hatte ihre Furchtlosigkeit für Dummheit gehalten. Für sinnlosen Trotz.

Weit gefehlt. Sie hatten eine Absicht damit verfolgt. Sie hatten versucht, den Himmelswächter zu erreichen, und sie waren erfolgreich gewesen. Sie hatten eine Feder erbeutet.

Die Matriarchin steckte die Feder in die Lehmfigur. So rasch wie eine Natter packte Langbein meinen Kopf, zog mich vor, und die Matriarchin hielt ihre Handfläche unter mein Kinn. Mein Blut tropfte auf die Lehmfigur, noch während Malaban Bri etwas schrie, Tansan mir zu Hilfe sprang und meine Soldaten ihre Schwerter zückten.

Ein scharfer Schmerz zuckte über mein Gesicht, dann fand ich mich auf dem Rücken liegend wieder und musste zusehen, wie die Lehmfigur in der Hand der Matriarchin wuchs und länger wurde, umhüllt von einem blauen Strudel. Tansan lag still und regungslos neben mir auf dem Boden. Meine Wachen waren ebenfalls bewusstlos, ihre Schwerter lagen zertrümmert neben ihnen, als wären sie aus Glas gewesen.

Die Figur schwebte von der Hand der Matriarchin, wuchs zur Größe eines Menschen empor und nahm die Gestalt meiner Mutter an, die in ein kunstvoll gefälteltes, blaues Gewand gekleidet war.

Sie wirkte nicht sonderlich erfreut.

»Zarq!« Ihre Stimme klang entsetzlich, wie das Klappern eines Fingerknochens, der gegen die losen Zähne eines Skelettes stößt. Ihr Blick fand meinen. Es waren ihre Augen, doch halt, nein. Es waren Augen, die statt Pupillen Maden hatten. »Wie?«

Sie wollte wissen, wie es mir gelungen war, sie zu rufen. Nur, ich hatte sie nicht beschworen.

Die Matriarchin sprach.

Wie eine wabernde Scheibe aus blauem Wasser wandte sich meine Mutter langsam der Matriarchin zu und blickte sie an, ohne zu blinzeln. Allmählich begann ihr blauer Bitoo zu verblassen, von der Hüfte abwärts. An seiner Stelle tauchten rote, schuppige Beine auf, so dünn wie die eines Storchs, von denen verfaultes Fleisch herabfiel. Auf Befehl der Matriarchin begann sie, sich in einen Himmelswächter zu verwandeln.

»Hör nicht auf sie«, sagte ich, durchbrach die Anrufung der Matriarchin. Irgendwie war es mir gelungen aufzustehen, auch wenn meine Beine sich wacklig anfühlten. »Mutter, tu es nicht. Es ist deine Brutstätte, Xxamer Zu. Weißt du das nicht mehr?«

Ich drehte mich zu Malaban Bri um. »Gebt ihnen den verdammten Bullen und den Jährling!«

Die Matriarchin sprach weiter, während das barsche, unnatürliche Bellen des Stammes der Lautlosen Schlächter durch die Nacht hallte. Die Arme des Geistes verwandelten sich in Flügelknochen.

»Mutter, hör zu!« Ich trat vor. »Du hast Verwandte hier, den Danku, den Töpferclan. Ich habe sie gesehen. Du hast hier Neffen und Nichten. Deine Schwester ist am Leben. Sie hat eine Tochter, die aussieht wie Waivia.«

»Waivia.« Meine Mutter, der Geist, der halb ausgeformte Himmelswächter, schwang zu mir herum. »Du! Du hast ihre Sicherheit bedroht.«

»Nein …«

»Sie sagt mir, du sammelst eine große Streitmacht, du schmiedest Waffen, du willst dir nehmen, was ihr gehört.«

»Das würde ich niemals tun! Sie ist meine Schwester!« Wut verlieh mir Kraft, noch während mir klar wurde, dass Waivia irgendwie herausgefunden haben musste, dass ich das Schiff nach Xxeltek nicht bestiegen hatte. »Wage nicht, mich zu beschuldigen, Waivia Schaden zuzufügen. Niemals!«

Malaban sagte etwas zu dem Messerträger. Der fand mit Mühe seine Stimme wieder. Er redete in der Sprache der Kwembibi Shafwai. Die Matriarchin verstummte, das Bellen hörte auf. Langbeins Zischen erstarb.

»Ja«, sagte Malaban zu der Matriarchin, trat vor und streckte ihr einen seiner Unterarme mit der weichen Innenseite nach oben entgegen. Er zog ein Messer aus einer Scheide an seinem Gürtel und schnitt sich damit in die Haut. »Blutschwur. Es ist die Wahrheit.«

Falls der Bayen, der Malaban begleitet hatte, noch hier war und bei Bewusstsein, hütete er sich, Malabans Schwur in Frage zu stellen. Die Kwembibi Shafwai würden einen frisch geschlüpften Bullen bekommen und eine junge Drachenkuh, mit der er sich paaren konnte.

Die Matriarchin brauchte keine Übersetzung. Sie nickte.

Die Stammesangehörigen begannen ihr Bellen umzukehren, sogen Laute tief in ihre Bäuche ein, während Langbein die Luft zischend einsog. Meine Mutter begann zu verblassen.

»Mutter, hör mir zu.« Erneut trat ich auf sie zu, mit ausgestreckten Armen. Großer Drache, selbst jetzt war sie noch meine Mutter, rührte an meine Gefühle, und ich wollte nicht, dass sie mich verließ. »Bitte töte die Kinder deiner Brutstätte nicht. Wir werden Waivia nichts tun, ich verspreche es.«

»Du wirst dich ihr unterwerfen.«

»Für Xxamer Zu kann ich das nicht versprechen. Für mich selbst … Wenn du mir versprichst, weder diese Brutstätte noch jemanden von hier zu anzurühren«, ich dachte an Savga, Oblan und Agawan, »dann werde ich … werde ich mich ihr fügen. Ich allein. Ihr allein. Ja.«

»Das genügt nicht.« Sie war nur noch ein schwacher Schimmer von Knochen und totem Fleisch in der Dunkelheit und ihre Stimme so leise wie zu Pulver gemahlener Lehm, der über Schiefer wehte.

»Ich bin deine Tochter!« Ich muss zugeben, dass ich weinte. Sie würde mich immer zum Weinen bringen, jedes Mal, wenn sie mich im Stich ließ; jeder neue Verzicht auf ihre Liebe und ihr Verlust würden mich aufs Neue zerschmettern.

Der Geist hielt inne. Diese Lippen aus sich auflösenden Knochen, die mitten in der Luft schwebten, hielten sichtbar inne.

»Ja«, ertönte ein zischender Seufzer. »Meine Zzzzarq.«

Wäre es mir möglich gewesen, hätte ich diese Knochenstücke an meine Brust gezogen und sie umarmt, denn ich liebte sie. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich liebte sie.

»Alssso höre: Ich werde nicht zzzurückkommen, esss sssei denn, Waivia betritt diessse Brutssstätte. Wenn sssie dasss tut, werde ich sssie bessschützzzen, ganzzz gleich, wasss dasss meine Verwandten kossstet. Ich werde sssie bessschützzzen, wie ich dasss ssschon vor langer Zzzeit hätte tun sssollen!«

Die Matriarchin klatschte in die Hände und zerrieb die Lehmfigur zu Staub. Der Geist meiner Mutter verschwand auf der Stelle. Die Matriarchin blies den Staub von ihren Handflächen. Die Djimbi-Gesänge brachen schlagartig ab.

Ich taumelte und landete auf dem Boden, neben Tansan, die gerade Anstalten machte, aus ihrer Ohnmacht zu erwachen.

Das Gift der Drachen Drachen3
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