17

Malaban ist unterwegs«, erklärte Jotan, als sie den Drachenmeister und mich durch einen Korridor führte. Mosaike glitten an uns vorbei, prächtige blauweiße Fliesen, die im dem Licht der Laterne glänzten, die uns eine Dienstmagd vorantrug.

»Bleibt er nur über Nacht weg, oder ist er gar nicht in Lireh?«, erkundigte ich mich angespannt.

»Er macht Geschäfte mit einer Brutstätte im Inland. Er verkauft an sie Felle und Elfenbein von Seeelefanten aus dem Norden.«

Ich fluchte ausgiebig und griff dabei zu den eher schillernden Ausdrücken in meinem Vokabular, bei denen es um den Beschwingten Unendlichen und ein Schwein ging. Der Drachenmeister neben mir murmelte nachdrücklich etwas, was ich allerdings nicht verstand.

Jotan warf mir einen kühlen Blick zu. »Malaban kommt in einer Klauevoll Tagen wieder zurück.«

»Du musst ihn sofort zurückrufen«, erwiderte ich. »Es haben sich Ereignisse in Gang gesetzt, die seine sofortige Aufmerksamkeit erfordern …«

»Und du glaubst, ich wüsste nicht, wie ich damit umgehen sollte?« Wieder sah sie mich unter ihrer tropfnassen Lederkappe kühl an.

Ich zögerte. »Mir ist nicht klar, ob du über … gewisse Dinge informiert bist.«

»Ich weiß alles, was Malaban weiß.«

»Aber … du warst sehr lange eingekerkert. Ich bin nicht sicher, ob dir alles bekannt ist, was sich in dieser Zeit außerhalb unseres Gefängnisses abgespielt hat.«

»Dir ist das alles bekannt, ja?«, erwiderte sie hochmütig. »Welch ausgezeichnete Beziehungen du geknüpft hast.«

Ich errötete. »So gut sind sie nicht, sonst wäre ich wohl kaum hier.«

»Gut, dass dir das eingefallen ist. Was mich angeht … sagen wir einfach, ich habe es mir zum Zeitvertreib gemacht, gut informiert zu sein. Dem Tempel sei Dank, dass er diese Neugier in mir geweckt hat.«

Die Dienstmagd schob einen Schlüssel in das Schloss einer Tür vor uns, stieß sie auf und glitt hinein. Jotan blieb vor der offenen Tür stehen und drehte sich zu mir um. »Du wirst dich umziehen und etwas essen wollen, bevor wir reden. Ich nehme an, dieses Gespräch kann nicht bis morgen warten?«

Als wir zusammen eingekerkert waren, hatten ihre Krankheit, mangelndes Sonnenlicht und der überhöhte Konsum von Drachengift ihre Haut blass und teigig gemacht; jetzt schimmerte sie gesund und braun, und ich sah, dass sie zwar etwas vom Blut des Imperators in sich hatte, aber mehr von der Archipel-Insel Lud y Auk. Sie war keine Fa-pim, keine Ludu Bayen, keine Großgrundbesitzerin.

Ihre Lippen waren voller und röter, als ich sie in Erinnerung hatte, und ihre Augen, so schwarz wie das Fell eines Panthers, entflammten mich und zogen mich in ihren Bann, obwohl das Weiße von blutigen Äderchen durchzogen und die Iriden mit kleinen weißen Flecken gesprenkelt waren. Oder vielleicht auch gerade wegen dieser Spuren des Giftes.

Ich erinnerte mich daran, wie sie in der Viagand in unserem Kerker auf einem Diwan gelegen hatte, ein Bein träge auf dem Boden, entblößt bis zum Oberschenkel, einen Arm auf die Kissen hinter ihrem Kopf gelegt, und wie ihr nahezu durchsichtiges Gewand ihr von der Schulter rutschte.

Und ich dachte auch daran, wie wir beide brutal und regelmäßig in diesem Kerker vergewaltigt worden waren, wie unsere geschundenen, gebrochenen Gliedmaßen schwer wurden vor Mattigkeit, wie unser Wille in einem Meer aus Passivität versank. Dass ich sie jetzt als gesunde, selbstbewusste Frau vor mir sah, brachte erschreckende Erinnerungen an das zurück, was wir erlitten hatten.

Ich merkte, dass sie mich ebenfalls musterte, dass auch sie mit denselben Emotionen kämpfte und die Frau vor sich mit den Erinnerungen an die Zarq in Einklang zu bringen versuchte, die sie im Gefängnis kennengelernt hatte.

»Zarq?«, drängte sie. »Kann das Gespräch bis morgen warten?«

»Wie?« Roch ich da etwa Drachengift an ihr? »Nein. Nein, wir sollten noch heute Abend miteinander sprechen. Ich muss so rasch wie möglich zurückkehren.«

Neben mir stieß der Drachenmeister ein tiefes, kehliges Knurren aus. »Wir können später essen. Reden wir jetzt.«

»Dann sprecht mit den Wänden«, erwiderte Jotan und sah ihn an. »Ich für meinen Teil werde zuerst baden und mich umziehen.«

Ein Feuer loderte knisternd in dem Raum vor uns. Kerzen waren angezündet worden. Die Dienstmagd war aus dem Gemach getreten und stand unterwürfig und mit gesenktem Blick neben Jotan. Bestürzt bemerkte ich, dass es eine Djimbi war. Ob es irgendeinen Djimbi in Lireh gab, der einen angesehenen Posten innehatte oder gar ein Haus besaß?

»Hier entlang«, sagte Jotan zum Komikon. »Ich führe Euch in Euer Quartier.«

Ich betrat den Raum und schloss die Tür hinter mir. Dann blieb ich stehen und bestaunte die prachtvolle Einrichtung.

Den Mittelpunkt des Gemachs bildete ein schweres Bett. Auf geschnitzten Drachenfüßen stehend, erhob es sich über dem gefliesten Boden, dicke Decken und etliche Kissen lagen darauf; es war ein Meisterwerk der Drechslerkunst. Das Kopfende bildeten zwei Drachen mit geschwungenen Hälsen und aufgerissenen Mäulern, gefletschten Zähnen und miteinander verschlungen Zungen. Die Kinnlappen des einen Drachen waren wie aufgeblasen und wirkten so prall und glatt wie Brüste, unter dem schuppigen Bauch des anderen ragte ein gegabelter Phallus hervor, der in die menschenähnliche Vulva des anderen eindrang. Zwei lange Schwänze aus Teakholz bildeten die Seitenteile des Bettes und vereinigten sich am Fußende, das aussah wie zwei rautenförmige Schwanzmembranen, nur viel größer. Die Art, wie sich die beiden aneinanderschmiegten wie die Leiber zweier Liebender, wirkte irgendwie noch provozierender als das Kopfende.

Über die Kissen hatte jemand ein gelbes Gewand drapiert. In seiner Schlichtheit war es sehr elegant und weit vornehmer als alles, was ich jemals berührt, geschweige denn getragen hatte. Ich sah sofort, dass der Ausschnitt so groß war, dass er gerade eben die Spitzen meiner Brüste bedecken würde, und der hauchdünne Stoff würde meine Taille und meine Hüften umfassen wie die Hände eines lüsternen Geliebten. Vorausgesetzt, ich war kühn genug, das Gewand wirklich anzulegen.

Falls es überhaupt für mich gedacht war. Vielleicht irrte ich mich ja auch und fand darunter etwas, was einer Person von meinem Rang angemessener war.

Jemand klopfte an die Tür, und nach einem Augenblick traten zwei Mägde ein. Sie trugen eine große Zinkwanne.

»Euer Bad, Herrin«, murmelte eine, als sie die Wanne auf den Fliesen vor dem Kamin absetzten.

Ihnen folgten fünf weitere Frauen zwischen dreizehn und dreißig Jahren, die an einem Stock über den Schultern jeweils zwei Eimer mit dampfendem Wasser trugen. Während ich verlegen dastand, gossen sie das heiße Wasser in die Wanne und verschwanden.

Die beiden jungen Mägde blieben da.

Eine Weile standen wir schweigend da, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, während sie geduldig warteten – worauf auch immer. Keine von beiden blickte hoch.

Sie waren Djimbi. Senemeis, dachte ich, als ich mich an Savgas honigfarbene Haut erinnerte, deren schwache Flecken die Farbe von sonnengebleichtem Gras hatten. Sie … tragen eine weit erfreulichere Farbe als die stark gefleckten Exemplare, die aus den unreinen Paarungen unter Fleckbäuchigen erwachsen.

Ich überlegte, ob unsere Revolution – Nashe hatte der Drachenmeister sie genannt – Malaban und Jotan Bri auf eine Art beeinflussen würde, wie ich sie nicht vorhergesehen hatte. Ob ihnen überhaupt das Rassenvorurteil bewusst war, das sich in der Wahl ihrer Dienstboten zeigte? Und würde Jotan mich anders behandeln, wenn sie erfuhr, dass ich eine Djimbi war?

»Wollt Ihr nicht in die Wanne steigen, solange das Wasser noch heiß ist?«, fragte eine der Mägde schließlich.

»Könnt ihr lesen oder schreiben?«, erkundigte ich mich.

Überrascht sahen sie mich an, bevor sie erneut demütig die Fliesen vor ihren Füßen betrachteten.

»Nein, Herrin«, antwortete eine.

»Seid ihr verpflichtet, den Bedürfnissen männlicher Gäste zu dienen?«

Erneut erntete ich Blicke, diesmal erschreckte. »Bayen Hacros Bri stellt seinen Gästen seine Ebanis zur Verfügung, Herrin. Wollt Ihr … wollt Ihr, dass wir eine zu Euch schicken?«

»Ganz sicher nicht!« Ich schämte mich, weil mir allein bei dieser Vorstellung heiß zwischen den Beinen wurde. »Seid ihr versklavte Leibeigene?«

Sie runzelten die Stirn. »Wir verdienen hier unseren Lebensunterhalt, heho!«

»Euch ist also erlaubt, auch woanders nach Arbeit zu suchen?«

»Bayen Hacros Bri führt ein gutes Haus.« Die Magd, die meine Fragen beantwortet hatte, sah mich an und deutete fast flehentlich auf die Wanne. »Wollt Ihr jetzt nicht Euer Bad nehmen, Herrin?«

»Ich wasche mich selbst«, erklärte ich. »Ihr könnt gehen.« Ich wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, zog mich dann aus und stieg in das dampfende Wasser. Wie mein Bauch und meine Brüste wohl mit den grünen Flecken darauf aussahen?

Als die Mägde mit einem silbernen Krug und silbernen Tellern mit Speisen zurückkehrten, war ich sauber, trocken und hatte mich verlegen in das wundervolle gelbe Gewand gehüllt. Mein Haar hatte ich mit einem nach Muskatnuss duftenden Handtuch getrocknet. Leicht wie Daunen fiel es auf meine Schultern, und ja, wie ich vermutet hatte, der Ausschnitt des Kleides endete so gerade eben oberhalb meiner Brustwarzen. Die Mägde stellten den Weinkrug und die Teller mit den Speisen auf einen kleinen Tisch neben dem Kamin. Ich staunte. Eine Magd hob den silbernen Deckel eines jeden Serviertellers und nannte mir die Speisen.

»Kandierte Blüten des Brotbaumes. Bananen mit Gharialfleisch. Würzig gebratene Papageien in Eiersoße. Fliegende Fische und geröstete Coranüsse in Blätterteig.«

Die Fremdartigkeit und Reichhaltigkeit der Speisen flößte mir Ehrfurcht ein. Die Mädchen traten zurück, und nach einem Moment des Zögerns kostete ich vorsichtig ein Stück von dem gebratenen Papagei in Eiersoße. Die Schärfe der Gewürze trieb mir die Tränen in die Augen, aber die Speise war köstlich. Mit Heißhunger machte ich mich über die Mahlzeit her.

Als ich fertig war und meine Glieder von dem Wein und dem Essen, das ich verzehrt hatte, schwer waren und glühten, bürstete eine der Mägde mein Haar, während eine andere meine Hände eincremte und meine Fingernägel mit Bienenwachs polierte. Leider konnte ich das jedoch nicht so recht genießen, denn diese Art von Aufmerksamkeiten war mir zu fremd. Ich war erleichtert, als sie schließlich fertig waren und mir leichte Sandalen in der gelben Farbe meines Gewandes gaben, dazu ein elegantes Schultertuch, das so schwarz war wie Drachengift. Unbeholfen schlang ich es um meinen Hals, dankbar, dass ich das tiefe Dekolleté bedecken konnte. Ich fühlte mich so unpassend wie eine Wildsau in dieser fremden und vornehmen Umgebung, während ich einer der Mägde zur Bibliothek folgte, wo Jotan und der Drachenmeister zwischen unzähligen Schriftrollen auf mich warteten.

Allein der Anblick des hässlichen, feindseligen Gesichts des Komikon ließ mich meine Beklemmung über diese prachtvolle Umgebung vergessen und erinnerte mich an den ernsten Grund meiner Anwesenheit in dieser Villa.

Jotan hörte aufmerksam zu, während ich ihr Bericht erstattete. Ich schilderte ihr alles bis auf, natürlich, die Einzelheiten, warum niemals Bullen aus Eiern von gefangenen Drachenkühen schlüpften. Dabei ging ich in der Bibliothek umher, um ihren Augen zu entrinnen, die mich so ablenkten, ihren wundervollen, roten Lippen, dem Anblick ihres langen nachtschwarzen Haars, das sie mit einer Drachenklammer hochgesteckt hatte und so ihren Hals entblößte. Ihr Gewand war weiß und ärmellos, das Dekolleté reichte in einem schmalen, spitz zulaufenden V bis zu ihrem Bauchnabel und wurde von einem tiefblauen Seidenband zusammengehalten. Diese dunkelblaue Seide bildete einen starken Kontrast zu dem strahlend weißen Kleid und ihrer goldbraunen Haut. Jotan bot wahrlich einen wirklich fantastischen Anblick.

Der Drachenmeister trug ein einfaches braunes Wams mit einem geflochtenen Ledergürtel und hörte meiner Erzählung fast die ganze Zeit stumm zu. Er unterbrach mich nur selten, dann aber leidenschaftlich, wenn er der Meinung war, mehr oder weniger Details wären angebracht.

»Ich weiß, mit wem ich mich in Verbindung setzen muss«, erklärte Jotan ruhig, als ich fertig war. »Ich entsende sofort einen Boten.«

Sie beugte sich auf ihrem Stuhl vor und zog an einer seidenen Kordel an der Wand. Dann drehte sie sich wieder zu mir um. »Du hast recht. Malaban muss sofort zurückkehren. Ich werde ihn rufen lassen. Du bleibst natürlich, bis er wiederkommt.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Einen Tag, bis mein Bote ihn erreicht, und einen Tag, bis Malaban hier eintrifft.«

Die Vorstellung, noch zwei Tage in der Villa der Bris zu bleiben, gefiel mir sehr. Ich nickte, obwohl der Drachenmeister wütend protestierte.

Jotan wandte sich zu ihm. »Das ist keine Zeitverschwendung«, sagte sie kühl. »Die Vorbereitungen beginnen auch ohne die Anwesenheit meines Bruders. Wir werden Bewaffnete und Geld sammeln, das ihr für die Verteidigung von Xxamer Zu benötigt. Außerdem werden wir die Pläne für die Aktionen ausarbeiten, die Zarq erwähnt hat, den Angriff auf die Schiffe des Archipels und gewisse Brutstätten. Die Männer, die ich benachrichtige, werden das alles arrangieren.«

»Wir ebenfalls«, warf ich ein.

Jotan richtete den Blick ihrer vom Gift gezeichneten Augen auf mich. »Erwarte nicht, eine wesentliche Rolle dabei zu spielen, Zarq. Sobald meine Boten die entscheidenden Hintermänner informiert haben, werden sie ihrerseits ihre Vertreter zu anderen Kontaktmännern senden, die wiederum ihre Leute aktivieren. An dieser Sache sind viele Netzwerke und Personen beteiligt … Du hast von den Aufständen in der Wai-Fa-Paak-Fabrik gehört? Nein? Natürlich nicht. Du bist eine Rishi, die Leibeigene einer Brutstätte.«

Sie bemerkte meine Verstimmung, als sie fortfuhr, und genoss sie sichtlich.

»Es war ein Aufstand, der von einer Gruppe ausgelöst wurde, die sich selbst die Zündler nennen. Vielleicht waren unsere Leute darin verwickelt, vielleicht auch nicht, das spielt keine Rolle. Wichtig ist vielmehr die Aufsässigkeit der arbeitenden Klasse, die Bereitschaft der Arbeiter, eine Fabrik, die sie in Brot und Lohn hielt, bis auf die Grundmauern niederzubrennen, statt weiterhin die Taschen des Besitzers aus dem Archipel zu füllen. In jener Nacht brannten auch viele Geschäfte und Wohnhäuser, und die Plünderungen dauerten Tage an. Es gab auch andere Aufstände, die natürlich wie immer von den Soldaten des Tempels niedergeschlagen wurden. Aber mindestens einmal im Monat wird eine Brücke von den Ikap-fen der Zündler blockiert.« Ihre Augen funkelten mutwillig. »Das ist Lirehs Äquivalent zu euch Rishi: die Arbeiter, die arbeitende Klasse, die Ikap-fe, die Netze webenden Spinnen.«

Ich weigerte mich, auf ihren Seitenhieb zu reagieren.

Der Drachenmeister, der die ganze Zeit unruhig murmelnd auf dem Stuhl herumgerutscht war und sich vor Aufregung seinen Backenbart gekratzt hatte, konnte sich nicht mehr beherrschen. Es musste ihn ungeheure Selbstbeherrschung gekostet haben, seine Zunge zu hüten und nicht über seinen Traum zu sprechen, die Djimbi nach all den Jahren der Unterdrückung zu befreien. Er sprang auf und marschierte an den Wänden der Bibliothek entlang, wie eine Raubkatze an den Gittern ihres Käfigs entlangschleicht. Ich dagegen blieb sofort stehen und ließ mich auf einen Diwan fallen, da ich befürchtete, dass wir uns sonst zu sehr ähnelten.

»Der Aufstand in der Wai-Fa-Paak-Fabrik ist bis jetzt der berüchtigtste Aufstand«, fuhr Jotan fort. Ein Lächeln umspielte ihre roten Lippen. »Der Besitzer des Archipels wurde am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit in Stücke gerissen, von den Ikap-fen, die ihn auf die Straße gezerrt hatten. Die Frauen und Kinder des Eigentümers wurden angeblich ebenfalls zerstückelt. Ich war nicht dabei, also kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Aber es spielt auch keine Rolle. Einige der Zündler, die an dem Aufstand beteiligt gewesen waren, wurden später von Inquisitoren aufgespürt und öffentlich enthauptet. Vielleicht waren es aber auch gar keine Zündler, die der Tempel gefunden hat. Er war nicht sonderlich wählerisch. Solange Köpfe rollten, und zwar Köpfe, die nicht den Ludu Bayen gehörten, war der Ashgon zufrieden.«

Sie zuckte mit den Schultern und reckte sich ein bisschen. Unter dem blauen Seidenband bewegten sich ihre Brüste und ihr Bauch.

»Ich will auf Folgendes hinaus: Ganz gleich, ob diese Aufstände spontan von Arbeitern ausgingen oder heimlich von einflussreichen Männern gesteuert worden waren: Die Anschläge und all die darauffolgenden Exekutionen und Ausgehverbote haben es nicht geschafft, die Große Erhebung auszulösen. Jetzt tauchst du auf und behauptest, du könntest Bullen in Gefangenschaft züchten. Du, Zarq, wirst der Funke sein, der die Große Erhebung entfacht. Aber du bist nicht der Aufstand selbst.«

Ich hielt meine Zunge im Zaum, aber es kostete mich unsägliche Mühe. Wenn ich jetzt meine Zweifel daran äußerte, tatsächlich allen Rishi von Malacar und denen, die Jotan Ikap-fen nannte, Drachenbullen zu bescheren, dann würde sie das vielleicht abschrecken. Sie war eine Bayen, also würden die Männer, mit denen sie sich in Verbindung setzen wollte, ebenfalls Bayen sein. Sicher, einige Ausländer dürften darunter sein und gewiss mochten sich andere aus bescheidenen Verhältnissen zu Rang und Namen hochgearbeitet haben, und natürlich wurden alle von ihren eigenen Motiven zum gemeinsamen Ziel getrieben, die auf den Drachentempel gestützte Diktatur des Imperators in Malacar zu beenden.

Aber nur wenige würden ihren Dienern Brutdrachen geben wollen. Wenn ein Diener einen Drachenbullen oder eine Drachenkuh besaß, warum sollte er dann noch dienen? Es war auch ein Klassenkampf, den ich focht, und sobald meine jungen Bullen aus ihren Kokons geschlüpft waren …

Falls sie es überhaupt taten, verflucht!

Das Gefühl setzte mir zu, dass keine Bullen entstehen würden, dass alle Mühen der Rishi, die in Xxamer Zu schufteten, während ich auf das feine Parkett der Bibliothek des Hauses Bri starrte, umsonst wären. Weil mir etwas entgangen war.

Ein Diener tauchte auf. Ein Djimbi. Er hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Ich vermutete, dass er einige Jahre älter war als ich, und fragte mich, ob er eine Frau erwählt und Kinder hatte. Ob er für Jotan und ihresgleichen ebenfalls nur eine Netze webende Spinne war.

Jotan stand auf, trat an einen Schreibtisch, tunkte eine Schreibfeder in ein Tintenfass und fuhr damit kratzend über ein Pergament. Dann trocknete sie die Tinte mit einem Fächer aus weißen Federn, rollte das Pergament zusammen, schob es in eine Bambushülle, die so dünn und kurz war wie ein frischer Zuckerrohrableger, und träufelte smaragdgrünes Wachs über den Korkstopfen. Schließlich presste sie ein Siegel hinein und schrieb zwei weitere Nachrichten, die sie ebenfalls in runden Bambushüllen versiegelte.

Diese drei Röhren reichte sie dem Diener, der die ganze Zeit mit gesenktem Blick neben dem Schreibtisch gewartet hatte.

»Wecke die Boten Suip und Domsti!«, befahl sie. »Suip soll diese Schriftrolle zum Haus S’twe bringen und sie Bayen Hacros S’twe persönlich aushändigen. Er wartet dort und bringt mir Bayen Hacros S’twes Antwort noch heute Nacht. Wenn Suip mehrere Stunden in den Stallungen warten muss, bevor S’twe antworten kann, wird er das tun. Verstanden?«

»Jawohl, Bayen Bri.«

»Bote Domsti bringt diese Rolle zum Haus Etaan. Er kehrt anschließend sofort hierher zurück und fliegt noch im Morgengrauen zur Brutstätte Swensi und übergibt die letzte Rolle Bayen Hacros Bri. Drei Rollen, jede an eine andere Person. Schicke die falsche Rolle mit dem falschen Boten an das falsche Haus, und ich lasse dich kastrieren. Verstanden?«

»Jawohl, Bayen Bri.«

»Dann geh jetzt.«

Der Diener ging rückwärts aus der Bibliothek. Jotan blieb an der Tür stehen und sah mich und den Drachenmeister an. »Ich schlage vor, dass ihr beide euch jetzt ebenfalls zurückzieht. Es war ein langer Tag. Und ich weiß, dass meiner noch nicht zu Ende ist.«

»Seid Ihr verrückt geworden?«, schrie der Drachenmeister, der vor dem Kamin auf und ab gegangen war. »Wir haben noch viel mehr zu besprechen.«

»Nicht heute Nacht, nein.«

»Wo sind die Männer dieses Hauses? Ich will mit ihnen sprechen.«

Jotan redete weiter, während er wütete, aber ich sah, wie sie sich versteifte. »Für morgen verlangt die Etikette, dass du meiner Mutter vorgestellt wirst, Zarq. Drachenmeister Re muss uns nicht begleiten. Mutter weiß, wer du bist.«

Was bedeutete, dass ihre Mutter bis ins letzte entsetzliche Detail wusste, was Jotan während ihrer Gefangenschaft widerfahren war. Ich war der Meinung, dass man einer Mutter solche Dinge ersparen sollte. Andererseits musste vielleicht nicht jeder seiner Mutter eine Leidenschaft beichten, die so finster und intensiv war wie meine.

Ich rief mir die ausgedehnte Villa ins Gedächtnis, vor deren Portal wir unter Jotans Führung erst vor einigen Stunden gelandet waren. Das Anwesen der Bris war riesig, fast schon ein Palast. Aber es lag am Fuß der Liru-Berge und gehörte nicht zu den terrassenförmig angelegten, von Kuppeln gekrönten Palästen von Liru selbst. Die Bris waren einflussreich, gewiss, aber sie waren keine Ludu Bayen. Sie waren keine Großgrundbesitzer von reinem Archipel-Blut.

»Wer lebt hier noch außer Malaban und deiner Mutter?« Ich ignorierte den wütenden Ausbruch des Drachenmeisters. »Und abgesehen von euren Bediensteten?«

Jotan lachte frostig. »Wir sind fast eine kleine Nation, wir Bris. Ich habe Schwestern, Brüder, Cousins und Cousinen, Tanten, Onkel, Neffen und Nichten … und sie alle leben hier. Aber mach dir keine Sorgen. Du bist in Sicherheit und bleibst anonym. Nur meine Mutter muss erfahren, wer du bist.«

Der Drachenmeister stampfte durch den Raum und baute sich vor uns auf. Es war ein Fehler gewesen, ihn einfach zu ignorieren, denn damit hatten wir einen Wutanfall bei ihm ausgelöst.

»Ich will Antworten!«, kreischte er und riss an seinem ungepflegten Bart. »Ich werde mich nicht einfach ins Bett schicken lassen, während eine hängetittige Via Boten hierhin und dorthin …«

»Drachenmeister Re«, unterbrach Jotan ihn eisig, während der Blick ihrer von Gift gezeichneten Augen sich in ihn bohrte. Es war ein bemerkenswertes Schauspiel; zwei Süchtige, die keine Angst vor dem Tod hatten und sich in einem Moment kaum gezügelter Wut gegenüberstanden. »Ich bin nicht verpflichtet, Euch irgendetwas von dem zu gewähren, was Ihr fordert, und ich verlange, dass Ihr mich mit demselben Respekt behandelt, den ich Euch erweise. Habt Ihr das verstanden?«

Der Drachenmeister war ein Affe von einem Mann, dazu wutentbrannt und impotent und dement und alt. Aber er hatte mit seinen vom Kampf gestählten Armen oft und gut getötet; in seinen Muskeln schien Tod statt Blut zu fließen; seine Sehnen nährten sich von Gemetzel; seine Knochen waren stark und schwer von all den Schädeln, die unter seinen Fäusten zerborsten waren. Er warf sich auf Jotan Bri, eine Sekunde bevor ich mich auf ihn stürzte.

Im nächsten Moment versuchten wir uns wie eine zwölfgliedrige Bestie selbst zu zerfleischen.

Möbel stürzten krachend um. Leiber fielen mit einem Rums auf den Boden. Grunzen hallte durch das Gemach, Keuchen. Aber keine Schreie, keine Flüche. Es gab nur noch Blut und Zähne und Fäuste.

Das Krachen einer Messingskulptur, die Knochen zertrümmerte. Der Drachenmeister fiel zuckend zu Boden. Ich fluchte, riss ein Kissen vom Diwan, wobei ich eine blutige Spur auf dem Samt hinterließ, und stopfte es ihm unter den Kopf. Er verdrehte die Augen. Seine Krämpfe hörten auf, und er wurde schlaff.

Stille trat ein.

»Ich habe ihn getötet«, stellte Jotan tonlos fest. Sie kniete auf der anderen Seite neben dem Drachenmeister. Der Saum ihres Gewandes war bis zum Nabel aufgerissen. Ein Hautfetzen hing über ihrer linken Brust, die rasch anschwoll. Die faulen Zähne des Drachenmeisters hatten sich durch die Seide ihres Gewandes gegraben.

Die Brust des Komikon sank ein. Rührte sich nicht. Wollte sich nicht heben. Konnte es nicht.

Doch halt: Langsam, zögernd hob sie sich.

Senkte … und hob sich.

»Er lebt.« Zitternd ließ ich mich auf den Boden sinken.

»Eines Tages werden auch wir so enden«, meinte Jotan. »Verrückt vom Gift.« Sie warf die Messingskulptur achtlos zur Seite. Krachend rollte sie gegen einen umgestürzten Tisch. Unsere Blicke begegneten sich. Ihre Augen glühten, wild, lebendig, hinreißend. Sie wollte mich. Sie wollte mich hier und jetzt.

Einer Drache steh mir bei, ich wollte sie auch.

»Warte.« Sie leckte sich die Lippen, und ich erstarrte mitten in der Bewegung, als ich mich gerade auf die Knie stemmen wollte.

Jotan stand auf. Stolperte über Bambushüllen, die zu Boden gefallen waren, als wir mit dem Rücken gegen die sechseckigen Regale gestoßen waren. Sie griff in eines der Regale und wühlte zwischen den Bambushüllen herum, die noch darin lagen. Ihr Arm verschwand bis zum Ellbogen in dem Fach.

Als sie zu mir zurückkam, wusste ich bereits, was sie in der Hand hielt.

»Woher hast du das?« Meine Lippe war aufgeplatzt und geschwollen, und meine Worte klangen undeutlich. Ich hasste sie und mich selbst und diese Phiole aus Bergkristall in ihrer Hand mit ihrem schwarzen Inhalt.

Vorsichtig öffnete sie die Phiole.

Dieser Duft. Er verzehrte mich, und ich gab mich diesem Gefühl nur zu gern hin.

Mit zitternden Händen zog sie den Pfropfen ganz aus dem fast leeren Glasfläschchen. Die Spitze des langen Kristallverschlusses war mit Gift benetzt. Ihre Hände zitterten so sehr, dass der Verschluss auf dem Rand der Phiole klapperte.

»Ich beabsichtige, morgen meinen Lieferanten aufzusuchen«, flüsterte sie heiser. »Du kommst mit.«

Ich nickte. Oh ja. Ich würde mit ihr gehen.

»Mach den Mund auf«, flüsterte sie. Der Drache möge mir helfen, ich gehorchte sofort, und sie fuhr mit dem schwarzen Ende des Verschlusses über meine Lippen, meinen Gaumen, meine Zunge.

Dann wiederholte sie die Prozedur bei sich, während sich Hitze in meinen Nebenhöhlen ausbreitete und mein Kopf sich in einen Feuerball zu verwandeln schien.

»Mach die Beine breit«, zischte sie, und erneut gehorchte ich willig, lehnte mich an ein Regal mit Schriftrollen und zog mein Gewand bis zur Taille hoch. Sie tauchte den Kristallverschluss in die Phiole und fuhr dann mit dem schwarzen Ende über die vernarbte Haut, die von der Beschneidung geblieben war, der mich eine Onai, eine heilige Frau, unterzogen hatte. Dann schob sie den Verschluss in mich hinein.

Dasselbe tat sie bei sich, während ich mich vor Lust wand, mich danach sehnte, sie zu beißen, in sie einzudringen, ihre Seele, ihre Brüste, ihr Herz und ihr Nervenzentrum zu werden, während ich mich schluchzend nach dem Lied der Drachen verzehrte.

Und mich dafür hasste, dass ich erneut in die Klauen des Giftes fiel.

»Jetzt«, krächzte Jotan, »singen wir unsere eigene Motette.«

Genau das taten wir. Da uns die mystische Musik der Dachen vorenthalten war, fickten und stöhnten und seufzten und schrien wir auf dem Boden der Bibliothek und sangen so unseren eigenen, von uns selbst komponierten Choral.

Das Gift der Drachen Drachen3
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