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Geh schneller, wenn du kannst, heho«, murmelte Dra chenjünger Gen. »Dein Kopf müsste eigentlich längst auf einem Spieß stecken!«

Der Tunnel roch nach abgestandener Luft. An den Wänden wuchsen weder Flechten noch Schimmelpilze. Die Steine waren von einem leblosen Grau, das unter Gens Fackel nur kurz zu einem tanzenden Teppich aus Schatten und Flammenlicht erwachte, bevor es wieder in der Dunkelheit versank.

Gen packte meinen Ellbogen und trieb mich voran. Ich stolperte; meine gebrochenen Rippen schmerzten, und ich schrie auf.

»Ruhig«, murmelte er.

»Das tut weh!«, fuhr ich ihn an.

Mitleid erhoffte ich vergebens. »Der Drachenbulle wird bald die letzte Drachenkuh bestiegen haben, und dann erwartet die Menge, dass dein Kopf herumgetragen und allen gezeigt wird. Wir sollten nicht in diesem Labyrinth erwischt werden, wenn das Spektakel ausfällt, also beweg dich gefälligst, Mädchen, beeil dich!«

Der Tunnel rumpelte.

Ein Erdstoß, dachte ich mit einem Anflug von Panik, doch noch während mir der Gedanke durch den Kopf schoss, wurde mir klar, dass dieses Grollen das Brüllen des Drachenbullen in der Arena über uns war. Ihm antwortete der Jubel von zweihunderttausend Besuchern. Mir brach der kalte Schweiß aus.

In dem Moment dachte ich an Dono.

Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil ich seinen Angstschweiß gerochen hatte, als er mich vorhin in der Arena angegriffen hatte.

»Was ist mit Dono?«, erkundigte ich mich.

Ich konnte hinter dem elfenbeinfarbenen Schleier des Inquisitors, den Gen trug, sein Gesicht nicht erkennen. Ich sah nur die weißen Augäpfel, die wie nasse Lilienblüten glänzten, und seine Pupillen, die so schwarz waren wie die Panzer von Käfern. »Er kann dir nichts mehr tun, Babu. Geh weiter …«

»Er ist tot?«

»Der Mistkerl wollte nicht sterben«, gurgelte eine Stimme hinter mir. Ich blickte über die Schulter zurück auf den Drachenmeister Re, der von einem Mann gestützt wurde, der wie Gen als Inquisitor verkleidet war. Dunkles Blut quoll zäh wie Pflaumenmus über die Schenkel des Drachenmeisters; er war von der giftigen Zunge des Drachenbullen verletzt worden. Auf seiner Brust wellte sich ein blutiger Hautfetzen, und die Spitze seines Knebelbartes strich über die Wunde.

»Ich konnte ihn nicht erwürgen, also habe ich ihm die Kehle mit den Zähnen herausgerissen.« Die Augen des Drachenmeisters rollten unwillkürlich in ihren Höhlen. »Der Bastard wollte trotzdem nicht sterben.«

»Dono ist da oben? Lebendig?« Ich blieb stehen und blickte zu der Steindecke hoch, die so niedrig war, dass Drachenjünger Gen nur gebückt gehen konnte.

»Tot.« Gens Ton war endgültig. »Der Bulle wird ihn längst zertrampelt haben. Geh weiter.«

Ich riss meinen Ellbogen aus seinem Griff. »Der Bulle fliegt, wenn er sich paart. Dono kann nicht von ihm zertrampelt worden sein.«

»Nein, nicht zertrampelt. Er nicht, oh nein.« Der Drachenmeister keckerte. Sein Kopf schwankte haltlos hin und her; er war fast nicht mehr bei Sinnen durch das Gift des Drachen. »Als ich ihn verließ, kroch er durch den Staub, drückte sich an die Wand der Arena. Oh nein, er ist nicht tot, dieser Bastard, nicht tot!«

»Gen«, schnappte der andere als Inquisitor verkleidete Mann. »Wir müssen gehen!«

Gen riss an meinem Arm, und wir gingen weiter.

»Dieser Hurensohn hat sich gegen mich gestellt!«, kreischte der Komikon. Seine Stimme hallte dumpf durch den Tunnel.

»Halts Maul«, knurrte der Mann hinter ihm.

Wir kamen an eine Kreuzung in dem Tunnelsystem. Ein Weg war durch einen Einsturz blockiert. Ob das ganz frisch passiert war oder schon vor langer Zeit, konnte ich nicht erkennen, überlegte aber, dass vielleicht unter diesem Schutthaufen menschliche Knochen moderten. Oder auf der anderen Seite.

Ohne zu zögern, führte Gen uns in den Tunnel zu unserer Rechten. Die Luft hier war kühler und etwas feuchter. Ich stellte mir Dono vor, Dono, meinen Milchbruder, das Waisenkind, mit dem ich meine Kindheit verbracht hatte, wie er durch die glühendheiße, staubige Arena über uns kroch, im Sehen behindert durch die Verletzung an seinem Auge, die ich ihm am Tag zuvor zugefügt hatte, und mit von den Zähnen des Drachenmeisters zerfetzter Kehle.

»Sie werden ihn hinrichten«, sagte ich. »Er sollte mich in der Arena töten und hat versagt. Der Tempel wird ihn köpfen.«

»Das wäre eine Gnade«, erwiderte Gen schlicht. »Für einen verkrüppelten Drachenschüler ist kein Platz in einem Stall.«

Ich blieb wieder stehen. »Wir müssen ihn holen.«

»Sei keine Närrin!«

Mir klapperten die Zähne. Mein Kopf pochte schmerzhaft, meine Rippen brannten wie Feuer. Das Bild meiner Schwester Waivia stieg vor meinen Augen auf. Ich hatte sie in den Logen der Arena gesehen, wo sie sich aufreizend an Waikar Re Kratt schmiegte, den Mann, der unseren Vater ermordet und Gesundheit und Verstand aus meiner Mutter herausgeprügelt hatte. Ob Waivia wohl gerade beobachtete, wie Dono blindlings durch den Staub kroch? Wenn ja, würde sie nichts unternehmen, um ihn zu retten, dessen war ich mir sicher.

Plötzlich wurde es für mich ungeheuer wichtig, Dono zu retten. Tat ich es nicht, war ich dazu verdammt, durch die dunklen Gänge unter der Arena zu kriechen, bis ich erschöpft zusammenbrach. Ich war fest davon überzeugt.

Also log ich und benutzte die einzige Waffe, die ich besaß: Gens Überzeugung, ich wäre die Dirwalan Babu, die Tochter des Himmelswächters, eine Frau, der prophezeit worden war, die Drachen und die Menschen von der Knute des Tempels zu befreien. »Dono ist von Bedeutung für uns, Gen. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber wir brauchen ihn. Ich spüre es in meinem tiefsten Innern. Wir müssen umkehren.«

Der Drachenmeister plapperte vor sich hin wie ein Baby, das in den Schlaf hinüberdämmerte.

Drachenjünger Gen antwortete langsam und bedächtig. »Zarq. Du stehst unter dem Einfluss des Giftes …«

»Ihr habt mir doch kaum welches gegeben!«, stieß ich hervor. »Jeder Schritt ist die reinste Qual für mich. Ich fühle jeden gebrochenen Knochen, als hätte ich nur Wasser getrunken!«

Die Fackel flackerte und warf Wellen von Hitze und Licht über mein Gesicht, über seinen Schleier und die bedrückenden Steinwände.

Abrupt fuhr Gen zu dem Mann herum, der den Komikon stützte. »Bring sie zum Ende des Tunnels.« Er klang wütend. Nein. In die Enge getrieben. »Dort kommt ihr an einen Scheideweg mit drei Gängen. Nehmt den mittleren Tunnel und biegt an seinem Ende links ab. Beeilt euch. Und sagt den Männern, die draußen postiert sind, sie sollen auf mich warten.«

»Ihr scherzt!«, erwiderte der Angesprochene entsetzt.

»Beeil dich!«, brüllte Drachenjünger Gen, drückte mir die Fackel in die Hand und drängte sich an mir vorbei, den Weg zurück, den wir gekommen waren. »Wartet draußen auf mich, mit unseren Drachen!«

»Wie lange denn?«, schrie der Mann Gen nach. Doch der war bereits verschwunden.

Jetzt würde ich es schaffen. Wir würden den Weg aus dem Labyrinth finden, und ich würde nicht dazu verdammt sein, in den Tunneln zu sterben, zur Strafe dafür, dass ich Dono zurückgelassen hatte.

Warum klapperten mir dann die Zähne?

Ich wusste vage, dass ich unter dem Einfluss des Giftes stand, dass ich Hirngespinsten, Wahnvorstellungen nachhing, berauscht war, dass mir schwindelte. Doch das spielte keine Rolle. Dono gehörte zur Familie, und ich würde verdammt sein, wenn ich ihn zurückließ, damit der Tempel ihn unter dem gleichgültigen Blick meiner Schwester exekutierte. Ich war verdammt, wenn ich ihr auch nur im Entferntesten ähnlich würde.

Danach setzten wir unseren Weg fort, fast im Laufschritt. Vor uns huschten Kreaturen davon, manchmal hörten wir sie auch hinter uns. Einmal sah ich etwas in der Dunkelheit vor mir. Es war kniehoch, und seine Farbe glich dem gelblichen Grau gekochten Eigelbs. Sein Rückgrat sah aus wie die Knöchel einer geballten Faust. Es bewegte sich geduckt und stank nach verfilztem Fell und Palmöl. Ich hatte keine Ahnung, was es sein konnte, und meine Haut kribbelte.

Wortlos folgten wir Gens Anweisungen. Selbst der Drachenmeister war verstummt. Wir stolperten weiter, immer weiter durch das endlose Dunkel.

Unaufhörlich weiter.

Großer Drache, hatten wir etwa die Abzweigung verpasst? Nein. Vor uns gabelte sich der Tunnel in drei Gänge. Wir nahmen den mittleren und gingen durch einen noch schmaleren Tunnel, der zunächst sanft, dann zunehmend steiler anstieg und urplötzlich endete. Vor mir erhob sich eine Steinwand, und nach rechts und links führte jeweils ein Gang. Ich wandte mich nach links. Der Tunnel krümmte sich, hierhin, dorthin, immer wieder. Die Decke wurde niedriger, immer niedriger. Wir liefen gebückt im Kreis.

»Das ist der falsche Weg!«, stieß ich pfeifend hervor. Die Hitze der Fackel trocknete meine Gesichtshaut so sehr aus, dass sie spannte. Meine gebrochenen Rippen bohrten sich wie Drachenklauen in meine Eingeweide.

Plötzlich machte der Tunnel erneut einen Bogen, in die andere Richtung diesmal, und der Mann hinter mir, der den Drachenmeister schleppte, schrie erleichtert auf. Vor uns schimmerte Licht, und ich roch frische Luft, Vegetation und warme Erde. Ich verkniff mir ein Wimmern und stolperte voran.

Gebückt traten wir aus dem Eingang des Tunnels. Ich ließ die Fackel fallen und sank auf die Knie. Warmer Wind trocknete den Schweiß auf meiner Haut. Drachen schnaubten, Steigbügel klirrten, und Zaumzeug klingelte.

»Ihr seid nur drei!«, blaffte jemand. Stahl fuhr singend aus einer Scheide. »Wurdet ihr verfolgt? Gab es einen Kampf?«

Vor mir tauchte eine Silhouette in dem gleißenden Tageslicht auf, ein Mann, finster blickend und mit einem Schwert in der Hand. Er sah von mir zum Eingang des Tunnels hinter mir.

»Gen ist umgekehrt, um einen Schüler zu holen.« Der Mann neben mir, der den Komikon stützte, hustete und spie aus. »Das Mädchen bestand darauf. Helft mir, der hier ist ohnmächtig geworden.«

Ich blinzelte in das blendende Licht, da ich zusah, wie zwei Männer den Drachenmeister auf einen geflügelten Drachen wuchteten, während ein dritter den Drachen ruhig hielt. Als sie das geschafft hatten, streifte der Mann, der den Komikon durch das Labyrinth getragen hatte, die Robe des Inquisitors ab; darunter trug er Hose und Stiefel. Er hatte Arme so muskulös wie die eines Schmiedes und doppelt so dicke Oberschenkel. Er sah mich an und deutete brüsk mit dem Kinn auf eine gesattelte Drachenkuh. Ich straffte mich und humpelte hinüber.

War sie ein Reittier? Nein, sie roch nicht nach Gift. Also war sie eine Escoa, eine der geflügelten Drachenkühe, die für Malacars Paket-und Brief-Dienst flogen. Allen Escoas wurden ihre Giftsäcke entnommen.

Der Mann, der wie ein Schmied aussah, half mir ziemlich grob in den Sattel. Zwei Drachen auf der anderen Seite meines Reittiers schnaubten und stampften voller Unruhe. Sie waren an einem jungen Baum angebunden, den sie mit einem einzigen Satz hätten entwurzeln können, wenn sie das gewollt hätten.

Ich sah mich von der erhöhten Position im Sattel der Escoa um. In der Ferne erstreckten sich hügelige Obstplantagen bis zum Horizont, eingefasst von einer niedrigen Gebirgskette. Wir befanden uns auf der gegenüberliegenden Seite der Arena, fern von den Tavernen, den Buden der Straßenhändler und der Karawanserei von Fwendar ki Bol, dem Dorf der Eier. Und damit auch weit weg vom Haupteingang der Arena.

Rechts neben uns erhob sich ihre runde Mauer, grau und drohend.

Der Drachenmeister erwachte aus seiner Betäubung und murmelte irgendwelche Obszönitäten, hielt sich aber im Sattel der Escoa, auf die man ihn gehievt hatte. Die drei Männer standen neben seinem Reittier und beobachteten den Eingang des Tunnels. Einer hatte die Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt.

»Wir sind zu siebt. Falls Gen mit dem Schüler zurückkehrt«, erklärte der mit dem Schwert grimmig.

Sieben konnten nicht mit den Drachen fliegen. Sechs ja. Aber sieben? Nein.

»Zwei von uns werden mit dem Mädchen und dem Drachenmeister wegfliegen«, erklärte der Schmied langsam, als würde er die Logik seiner Worte überprüfen, während er sie aussprach. »Einer von uns schlägt sich in die Felder und überlässt die dritte Escoa Gen und dem Schüler.«

Der Schwertträger umklammerte den Griff seiner Waffe fester. »Hier wird es sehr bald von Tempelsoldaten nur so wimmeln.«

»Je schneller die beiden übrigen davonfliegen, desto früher können unsere Lockvögel die Soldaten ablenken. Das verbessert Gens Chancen.«

Die drei sahen sich an, als würden sie sich gegenseitig abschätzen.

Schließlich ergriff der dritte Mann das Wort. »Ich denke, ich könnte es bis zu den Obstplantagen schaffen, bevor hier Alarm geschlagen wird.«

Wir blickten zu den Obstgärten in der Ferne. Entweder war er wirklich ein ausgezeichneter Läufer, oder er war ein ziemlicher Optimist. Doch welche Wahl blieb ihm angesichts der Situation schon, als beides zu sein? Der Schmied schlug ihm auf die Schulter, und ohne ein weiteres Wort rannte der Mann los.

Das gedämpfte Trompeten des Drachen erklang hinter den Mauern der Arena. Die Zuschauer antworteten mit einem ozeanischen Brüllen. Ich erschauerte.

»Wie lange warten wir noch?« Der Schwertträger ließ den Tunneleingang nicht aus den Augen.

»Bis Gen zurückkehrt«, sagte ich. Die beiden Männer sahen mich an. Ihre Blicke waren nicht sonderlich wohlwollend. »Er wird zurückkommen.«

Während wir warteten, wiederholte ich diesen Satz immer wieder stumm in meinem Kopf. Die Escoas wurden zunehmend unruhiger, warfen ihre Schnauzen hoch, schlugen mit ihren Schwänzen nach Beißfliegen, die Atmosphäre wurde immer angespannter, und mein Mantra erschöpfte sich, als die Zeit versickerte, bis ich schließlich einfach nur im Sattel hockte, mein Verstand ebenso leer und schwarz wie der Tunneleingang, während mein Puls raste und mein Mund trocken wurde.

»Wir fliegen los. Jetzt«, befahl der Schmied, wirbelte herum und trat zu mir.

»Nein«, widersprach ich heiser. »Er wird kommen, er muss kommen …«

»Wenn wir noch länger warten, sind wir so gut wie tot. Die Hälfte unserer Lockvögel ist vielleicht schon jetzt entdeckt worden. Steig auf!«, blaffte er dann den Schwertträger an, der sich hinter dem Drachenmeister auf das Reittier schwang.

Ich hatte Gen in den Tod geschickt.

»Wir können nicht losfliegen!« Ich machte Anstalten, abzusteigen.

Der Schmied packte mich am Fußgelenk. »Wenn er lebt, wird er zu uns stoßen. Wurde er aber gefangen genommen, ist es sinnlos …«

»Soldaten!«, hallte ein heiserer Schrei aus dem Tunnel. Unsere Köpfe ruckten herum, und wir starrten auf den Eingang. Gen stolperte heraus. Dono hing schlaff in seinen Armen. Mein Milchbruder war nackt bis auf den Lendenschurz, staubbedeckt und blutverschmiert.

»Nehmt ihn, steigt auf und los! Bewegt euch!«, keuchte Gen. Der Schmied und der Schwertträger waren augenblicklich an seiner Seite. Der Schwertträger nahm Dono, Gen stützte sich auf den Schmied und schlurfte zu mir. »Soldaten kommen. Sieben, vielleicht mehr. Die Lockvögel sind bereit?«

»Sechs Escoas mit je einem Reiter«, erwiderte der Schmied. »Sie steigen auf und fliegen nach Süden und Osten, sobald sie uns in der Luft sehen.«

»Wo ist Granth?«

Der Schmied deutete auf eine Gestalt in der Ferne.

»Der Drache gewähre ihm den Verstand, sich fallen zu lassen und ruhig liegen zu bleiben, sobald wir in der Luft sind«, murmelte Gen. »Dann hat er eine kleine Chance, nicht gesehen zu werden.« Er sah mich an. »Leg dich so flach auf den Drachen, wie du kannst, Babu.«

Einen Drachen zu fliegen bedeutet, halb auf seinem Rückgrat zu liegen, die Knie an die schuppigen Flanken und den Ledersattel gepresst, die Füße in den Steigbügeln, die dicht unter dem Rückgrat des Drachen befestigt sind. Ich biss die Zähne zusammen und nahm vorsichtig meine Flugposition ein. Gen schwang sich in den Sattel und legte sich über mich, behutsam wegen meiner gebrochenen Rippen. Dann packte er die Zügel, die am Hals der Escoa herunterhingen. Der Schwertträger saß bereits im Sattel. Dono lag quer hinter ihm auf der Escoa, wie ein Sack Getreide mit Riemen gesichert. Der Schmied stieg wieder hinter den Drachenmeister und hob die Zügel.

Mit gewaltigen Sätzen stiegen die Drachen in die Luft empor.

Ich suchte den Boden ab, suchte den Mann, den Gen Granth genannt hatte. Ich konnte ihn nicht sehen. Ich wusste zwar nicht, wer er war, wo er zu Hause war, wen er liebte, ob er Kinder hatte, aber ich betete, dass er uns sah, wie wir nach Westen flogen, und klug genug war, sich auf den Boden zu werfen. Wenn er sich mit Staub und Pflanzen bedeckte, konnte er sich gewiss vor den Augen des Tempels verbergen. Ganz bestimmt.

Ich wollte einfach daran glauben.

 

Drachenfliegen wird sehr stark romantisiert.

In Wirklichkeit ist es laut und anstrengend, bedeutet verkrampfte Muskeln in erstarrten Gliedmaßen, die zu lange in einer unbequemen Position verharrten und, was die Unbequemlichkeit angeht, mit den Ohren wetteifern, die sowohl wegen der Höhenunterschiede als auch von dem Heulen des Windes schmerzen. Der Wind trocknet einem auch die Kehle aus und lässt die Zunge am Gaumen kleben. Jeder mühsame Atemzug muss diesem unablässigen Wind abgerungen werden. Die Augäpfel fühlen sich an wie vertrocknete Erbsen, die Nasenlöcher brennen vor Trockenheit. Außerdem bedarf es unermüdlicher Konzentration, um sich auf einem Drachen zu halten und nicht von einem plötzlichen Schwenk zu einer Seite hin überrascht zu werden, der einen aus dem Himmel durch die Wolken in den Tod Meilen tiefer stürzen ließe.

Wie viel schlimmer ist dann wohl der Flug mit einem Drachen, wenn man verletzt und vom Kampf mitgenommen ist, wenn man gebrochene Knochen hat und einem vor Hunger und Erschöpfung fast schlecht ist?

Unsere Flucht von der Arena aus dauerte so lange, dass ich bei einsetzender Dunkelheit meine Angst vor möglichen Verfolgern längst vergessen hatte. Meine Finger waren so weich wie Aloe-Gel, während ich die hölzernen Haltegriffe rechts und links am Sattel neben dem Hals der Escoa umklammerte. Ich konnte mich einfach nicht länger festhalten.

Außerdem hatte ich Angst um Dono. Er hatte sich nicht ein einziges Mal gerührt, seit er auf der Escoa von dem Schwertträger festgebunden worden war. Außerdem schienen sich die Lederriemen, die ihn hielten, gelockert zu haben, denn er schwankte heftig hin und her wie die losgerissene Fracht eines vom Sturm geschüttelten Trawlers.

»Wir müssen landen!«, schrie ich gegen den Wind. »Seht Euch Dono an!«

Gen antwortete nicht. Jedenfalls nicht hörbar. Aber ich fühlte, wie er sich anspannte.

»Verdammt, Gen, wir dürfen ihn nicht einfach fallen lassen!«

»Noch ein kleines Stück, dann sind wir in Brut Xxamer Zu.«

»Wie weit noch?«

Sein Schweigen war Antwort genug: Sehr weit.

»Dono wird es nicht schaffen!«, schrie ich. »Ich ebenso wenig! Wir müssen irgendwo landen und übernachten.«

Unter uns lag nur der Bergdschungel. Ich wartete auf eine Reaktion von Gen, aber es kam keine. Gereizt griff ich nach den Zügeln und zog daran. Der Kopf unserer Escoa ruckte nach links, und sie schwenkte scharf ab. Ich kreischte und fühlte, wie ich von ihrem Rücken rutschte. Gen brüllte mir etwas ins Ohr. Nur sein Gewicht auf mir hielt mich im Sattel.

Einige aufregende Momente später richteten wir uns wieder auf. Kurz darauf hob er den Arm und bedeutete den beiden anderen Männern, uns zu flankieren. Dann änderten wir den Kurs.

Es wurde Nacht, und schon bald landeten wir am Rand eines primitiven Dorfes auf einem dunklen Feld, das im Windschatten eines Bergkamms lag. Am anderen Ende des Feldes streckten mehrere abgestorbene Bäume ihre toten Glieder zu den Sternen empor. Dahinter lag der Dschungel.

»Ein ungeplanter Halt«, erklärte der Schmied, der im Sattel seiner heftig auf dem Gebiss kauenden Escoa sitzen geblieben war. »Was ist das hier für ein Ort?«

»Ein Weiler der Verlorenen.« Gen stieg ebenfalls ab. In der Siedlung kläffte ein Hund. Mehrere andere stimmten in sein Bellen ein. »Wir sind hier sicher genug.«

»Sicher? Ihr seid als Inquisitor verkleidet …«

»Ich weiß selbst, was ich trage.«

Ein Muskel zuckte in des Schmieds Wange. »Ihr solltet die Robe ausziehen.«

»Sie haben uns bei diesem Mondlicht landen sehen, vor allem mich in meiner Robe. Es ist besser, nicht zu versuchen sie zu täuschen.« Gen nahm den Zügel seiner Escoa und zog daran.

Wir hatten die Hälfte des Feldes überquert, als uns eine Klaue voll Männer entgegenkam. Sie waren mit Mistgabeln, brennenden Holzscheiten und gespannten Bögen bewaffnet. Einige hielten kläffende Hunde an groben Stricken zurück. Unsere Escoas blieben schnaubend stehen. Gen hob beide Hände, um den Männern zu zeigen, dass er unbewaffnet war.

»Wir müssen uns nur von unserer Reise kurz ausruhen!« Seine dröhnende Stimme übertönte das Kläffen der Hunde.

Einer der Verlorenen trat vor. Seine Gelenke waren geschwollen, und er wirkte unterernährt. Wie alle Verlorenen trug auch er eine Tonscheibe in seiner Unterlippe, die signalisierte, dass er nur den Angehörigen seines Weilers Loyalität schuldete. Mit einem Blick auf mich tat er mich als harmlosen Rishi-Jungen ab und betrachtete dann lange den Drachenmeister, der murmelnd und zuckend zwischen den Schulterblättern der Drachenkuh des Schmieds lag. Noch ausführlicher musterte er Dono, der quer hinter dem Schwertträger lag. Er versuchte nicht einmal, den Widerwillen auf seinem Gesicht zu unterdrücken, als sein Blick zu Gen zurückglitt.

Gen hätte seine Inquisitorenverkleidung ablegen sollen. Die Verlorenen hatten geschworen, frei vom Einfluss des Tempels zu leben.

Aber als das Schweigen immer angespannter wurde, änderte ich meine Meinung. Diese Leute waren muskulös und vernarbt, barfuß und zerlumpt und wirkten irgendwie verzweifelt; hinter ihrem Ring aus knurrenden Hunden beobachteten sie uns mit einer Mischung aus Verachtung und Gier. Es war gut, dass Gen die Robe, die Kapuze und den Schleier eines der gefürchteten Henker des Tempels trug. Nur die Angst der Verlorenen vor einer Vergeltung durch den Tempel würde uns davor bewahren, hier wegen unserer Habe ermordet zu werden.

Ich war erleichtert, dass man mich für einen Tempeldiener hielt, und gleichzeitig widerte Gen mich an, ebenso wie ich über mich selbst entsetzt war, weil wir die Furcht vor dem Tempel als Schutzschild gegen diese Leute benutzten.

»Wir mögen keine Besucher«, erklärte der Verlorene schließlich.

»Wir bleiben nicht lange«, antwortete Gen. Sein gleichgültiger Tonfall war jemandem angemessen, der selbstverständlichen Gehorsam erwartete und sich nicht darum kümmerte, was es kostete, einen solchen Gehorsam von anderen zu erhalten.

Der Verlorene ließ sich jedoch nicht so schnell einschüchtern. »Ihr habt unsere Setzlinge zertrampelt. Das kostet etwas.«

»Ihr werdet angemessen entschädigt.«

»Man kann keine Geldfetzen an den Füßen tragen. Und man kann sich damit auch nicht gegen Gesetzlose und Dschungelkatzen verteidigen.«

»Du akzeptierst, was dir gewährt wird.« Gen trat vor. Ich konnte den Verlorenen nicht verübeln, dass sie uns verabscheuten. Aber Dono musste behandelt werden. »Wir benötigen klares Wasser. Am besten abgekocht und gekühlt.«

Das Feuer leckte an den Holzscheiten, Hunde knurrten und zerrten an den groben Stricken. Die Escoas trampelten unruhig hin und her.

Schließlich nickte der Verlorene verächtlich und ließ seine Wut an dem nächstbesten Köter aus. Er trat ihm in die Rippen. Der Hund jaulte schrill auf und duckte sich unterwürfig auf den Boden.

Der Weiler wurde von einer Palisade aus behauenen jungen Stämmen geschützt, die vor allem wilde Tiere abhalten sollte. Hinter der Umzäunung standen primitive Hütten, deren Eingänge mit Fellen und Matten verhängt waren, durch die kein Licht herausdrang. Wir sahen keinen einzigen Bewohner außer den Männern und den knurrenden Hunden, die uns eskortierten.

Wir wurden in eine Hütte geführt, und man gab uns einen brennenden Holzscheit, damit wir Licht hatten. Der Schwertträger stand als Erster Wache, vor der Tür, mit den Escoas. Der Drachenmeister murmelte und zuckte zwar immer noch, konnte aber bereits allein laufen. Er stolperte in eine Ecke der Hütte und brach mit ausgestreckten Gliedmaßen auf dem Boden zusammen. Der Schmied legte Dono auf die Erde.

Donos Gesicht wirkte durch die Schwellung seines zerfetzten Augenlides verzerrt. Eiter und Blut verkrusteten seine Wimpern. Die Schicht war so dick wie Haferschleim. Die dunkelviolette Haut über dem geschwollenen Auge war an mehreren besonders gespannten Stellen aufgeplatzt. Sein Hals sah noch schlimmer aus. Unter dem schwarzen, getrockneten Blut sah ich etwas Weißes schimmern. War das sein Kehlkopf? Ich wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen.

Er war bewusstlos, sah wächsern aus und atmete nur flach.

»Er wird die Nacht nicht überleben«, erklärte der Schmied.

Gen reichte ihm das brennende Holzscheit und kauerte sich neben Dono. »Ich fürchte, du hast recht.«

»Tut etwas«, stieß ich heiser hervor. »Irgendetwas … Djimbi.«

Etwas Magisches.

Gen drehte sich um und starrte mich hinter dem Schleier an. »Es gibt keine Anrufung auf der ganzen Welt, die den Tod abwehren kann, Babu. Was nicht heißen soll, dass ich es nicht versuchen würde …« Er hob die Hand, um meinem Protest zuvorzukommen. »Ich werde tun, was ich kann, mit allem, was diese Leute entbehren können. Aber sie brauchen ihre Heilkräuter dringender als Dono.«

»Das könnt Ihr nicht wissen!«

»Ich habe genug gesehen, um zu wissen, wann sich die Nacht auf einen Menschen heruntersenkt.«

Ich schwankte. Gen deutete mit einem Nicken auf den Boden. »Besser, du schläfst eine Weile. Ich wecke dich, sobald sich etwas ändert.«

Mein Torso fühlte sich so steif an wie altes Bambusholz, meine Eingeweide waren von meinen gebrochenen Rippen zerschunden. Es erschien mir unmöglich, mich auch nur auf den Boden zu legen. Gen stand auf und half mir. Dann lag ich auf dem Rücken und lauschte Donos Atemzügen, aber sie waren so schwach, dass sie in dem Schnauben und dem rauen Keuchen der Escoas vor der Hütte untergingen, in dem Gemurmel des Drachenmeisters, dem Knistern des Holzscheits, dem lauten Atmen Gens und des Schmieds. Der Rauch von dem Scheit erfüllte die Hütte, und ich schloss meine Augen, weil sie davon brannten.

»Wir sollten sie löschen, heho«, hörte ich Gens Murmeln. »Die Funken könnten diese Hütte in einen Scheiterhaufen verwandeln.«

Ich wollte protestieren, wollte einwenden, dass Dono Licht brauchte, dass wir das Dunkel in Schach halten mussten. Aber ich schlief bereits.

Dono starb im Morgengrauen.

Gen weckte mich, hielt mir eine Schale mit schlammigem Wasser an die Lippen und half mir dann an Donos Seite. »Er geht jetzt, Babu. Mehr kann ich nicht für ihn tun.«

»Aber Ihr habt es versucht.«

Sein weißer Schleier starrte mich an. Wie eine Mauer.

»Ihr habt es doch versucht?« Ich war wütend.

»Zweifelst du an mir?«

Ich hielt Donos Hand, als er seinen letzten Atemzug tat. Sie war immer noch größer als meine, diese Hand, selbst im Tode. Groß, schwielig, mit geraden, starken Knochen. Wir hatten uns seit unserer Kindheit nicht mehr an den Händen gehalten, und auch damals nur, wenn wir spielten.

Aber was auch immer Dono Leben und Kraft gegeben hatte, war aus ihm gewichen. Mein Milchbruder war von mir gegangen, und seine Hand war so kalt wie Lehm. Ich wollte etwas sagen, ein Gebet, eine Liedstrophe, irgendetwas zutiefst Empfundenes und Bedeutungsvolles. Mir fiel nichts ein. Gar nichts.

Stattdessen fragte ich mich, ob Dono wohl jemals Reue empfunden hatte, weil er mich in den Kerker des Tempels geschickt hatte.

Dann ließ ich seine Hand aus meiner gleiten.

Das Gift der Drachen Drachen3
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