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Zuhause. Dieses Wort ist so mächtig, durchsetzt mit Emotionen, überlagert von Erinnerungen. In unserem Zuhause werden wir geformt. Wir hätscheln es in unserem Verstand als ein Beispiel für das, was wir für unsere Kinder wollen oder auch nicht wollen, für unsere Zukunft, unsere Familien. Wir wollen einen Herd, der wärmer ist, eine Zuflucht, die uns mehr willkommen heißt. Verbiege dies, ändere das. Behalte zwei oder auch drei Dinge bei.
Das Ergebnis ist, ganz klar, das perfekte Refugium, ein makelloses Zuhause, das gleichzeitig für immer unerreichbar bleibt.
Irgendwie hatte ich mir eingeredet, dass ich nach Hause flöge.
Dabei war ich noch nie in Brut Xxamer Zu gewesen, außer in einer Vision, die mich beim Tod meiner Mutter heimgesucht hatte. Als ich jetzt mit Gen, der schwer auf mir lag, dorthin flog und die Schwingen der Escoa neben uns wie gewaltige Bahnen karamellisierten Zuckers glitzerten, durchströmte mich erregende Vorfreude. Ich war unterwegs nach Hause, zu einem Drachensitz, auf dem es Dracheneier gab und den ich durch eine illegale Wette in der Arena gewonnen hatte. Zu einem Ort, an dem ich sicher sein würde und wo ich für die Sicherheit anderer sorgen konnte. Ich würde das eine verbiegen, das andere ändern, und das Endergebnis würde …
Die Morgendämmerung färbte den Himmel lavendelfarben und blassorange. Meilen unter uns erstreckte sich die Dschungelvegetation wie ein aufgewühlter Ozean bis zum Horizont. Die Morgendämmerung ging in den Morgen über, dann kam die Mittagszeit. Die Landschaft unter uns veränderte sich; Berge wurden zu Ebenen, der Dschungel zu wogender Steppe. Wir konnten im warmen Wind trotz der Höhe, in der wir flogen, den Duft von Staub und Samen ausmachen. Die Sonne brannte vom Himmel, die Luft war gnadenlos heiß und trocken. Ich war fast wahnsinnig vor Durst, und mein ganzer Körper schmerzte höllisch.
Dann tauchte vor uns ein brauner Fleck auf, der auf einer Seite von dem glitzernden Band eines Flusses gesäumt wurde.
»Das ist es!«, brüllte mir Gen trotz seiner Erschöpfung triumphierend ins Ohr.
Xxamer Zu. Meine Brutstätte. Mein Zuhause.
Ich hatte dort Nabelverwandte, Tanten, Onkel, Nichten und Neffen, alle mütterlicherseits. Würden sie in meinem vernarbten, hageren Körper meine Mutter wiedererkennen? In meinem kurz geschorenen Haar? Meiner Hautfarbe, die weder die grünen Pigmente noch die Flecken der Djimbihaut meiner Mutter aufwies?
»Ghepp dürfte bereits gestern Mittag angekommen sein!«, schrie Gen. »Er dürfte gerade die Übernahme von dem früheren Vorsteher besiegeln.«
Ghepp. Das war der Mann, den ich als Verwalter meines Besitzes ausgewählt hatte. Denn der Tempel erlaubte nur einem anerkannten Lord oder Kriegerfürsten, eine Brutstätte zu regieren. Als Sohn des berühmten Roshu-Lupini Re erfüllte Ghepp die Kriterien des Tempels.
»Guter Wein und reichhaltiges Essen!«, brüllte Gen an meinem Ohr. Er war fast berauscht von unserem Erfolg. »Seidene Roben und reife Früchte! All das gehört jetzt dir, Babu!«
Und in den Stallungen meiner Brut würden Reittiere sein, giftige Drachen, die für den Kampf ausgebildet waren. Das bedeutete, es gab Gift.
Erneut durchzuckte mich die Erregung, unmittelbar gefolgt von Abscheu über mich selbst. Ich hatte dem Gift längst abgeschworen, hatte gelobt, mich nie wieder von seiner mächtigen Verlockung versklaven zu lassen. Ich verfluchte mich, dass ich überhaupt an das flüssige Feuer der Drachen dachte.
Die Brutstätte am Horizont wurde rasch größer.
Wir konnten das Zentrum der Brut erkennen. Auf einigen Anhöhen in der Steppe erhoben sich die Herrenhäuser der Elite, der Aristokraten, die man in der Sprache des Imperators Bayen nennt, Erste-Klasse-Bürger. Sie scharten sich um einen Tempel, dessen zentrale Kuppel in der Steppe lag wie ein gewaltiges Ei in einem Nest aus Gras. Als wir näher kamen, konnte ich den mit Gold bedeckten Turm sehen, der aus der Spitze der Kuppel emporragte und wie eine Lanze in den Bauch des Himmels stach.
Ein Flickenteppich aus Feldern umringte die Brut, und hinter ihnen lag etwas wie ein großes, weißes Laken.
»Salzteiche!«, dröhnte Gen, als wäre er meinem Blick gefolgt. »Die Haupteinkommensquelle der Brutstätte. Bereite dich jetzt auf die Landung vor!«
Wir waren da. Mein neues Leben sollte beginnen.
Geführt von Gen, schwenkten unsere Drachen über den Dächern ab, umkreisten in einem weiten Bogen die Tempelkuppel und landeten schließlich innerhalb der Tempelanlage im großen Hof der Botenstallungen, die mit ihren roten und schwarzen Dachziegeln auch aus großer Höhe zu erkennen waren. In Malacar erhalten nur Orte, die Drachen beherbergen können, solche Ziegel.
Der Schmied und der Schwertträger landeten neben uns. Wir hatten Donos Leichnam bei den Verlorenen gelassen und ihnen versprochen, sie dafür zu bezahlen, dass sie ihn an einen der Bäume in ihren Bestattungshainen nagelten. Ich hoffte, dass die Personen, die den Schakal erlegten und aßen, der Donos Leichnam verzehrt hatte, die rituellen Dankgebete sprechen würden, wenn sie die Rippen des Schakals für ihr Abendessen kochten.
In jeder Stallbox der Botenstallungen von Xxamer Zu stand eine Escoa, in manchen sogar zwei.
Gut, dachte ich müde, als Gen von meinem Rücken glitt und abstieg. Ich besitze also eine beeindruckende Menge von Escoas.
»Gib mir deine Hand, Babu.« Gens weißer Schleier blickte zu mir hoch. »Ich helfe dir herunter.«
Denk an gebratenes Fleisch und frische Früchte, sagte ich mir, als ich mich für den Abstieg wappnete. Meine gebrochenen Rippen fühlten sich in meinem Inneren wie ein glühender Schraubstock an. Denk an klares, frisches Wasser und Schlaf.
Ich stieg nicht ab, sondern rutschte vielmehr mit einem Grunzen in Gens ausgestreckte Arme. Ein junger Botenschüler tauchte aus der Stallhütte am anderen Ende des langen Hofs auf. Er lief zu uns und nahm die Zügel unserer Escoas. Der Schmied stieg ebenfalls ab und hielt dem Drachenmeister hilfreich die Hand hin. Der Komikon schlug sie aus.
»Ich habe mehr Drachen geritten, als du Frauen geritten hast und wahrscheinlich jemals reiten wirst«, knurrte er.
Der Schmied wandte sich wortlos ab und warf dem Botenschüler die Zügel seines Reittiers zu. »Sorge gut für sie, Junge. Sie hat einen langen und anstrengenden Flug hinter sich.«
Der Junge schluckte, warf Gen einen kurzen Blick zu und griff dann hastig nach den Zügeln der Escoa des Schwertträgers.
»Haben wir deinen Mittagsschlaf gestört?«, erkundigte sich dieser und schwang sich aus dem Sattel. »Was denn? Alle deine Kameraden ruhen sich in dieser Hitze aus, und du allein musst arbeiten?«
Der Schüler zog den Kopf ein, zerrte kräftig an den Zügeln unserer drei Reittiere und führte sie ins Erdgeschoss der schattigen Futterscheune, die eine ganze Seite des Hofs einnahm.
Gen schlang behutsam einen Arm um meinen Rücken und hielt mich unter meinen Achseln. »Stütz dich auf mich, wenn du …«
Der Schmied prallte gegen uns. Gen stolperte zur Seite, und ich fiel mit einem Schmerzensschrei zu Boden.
»Runter!«, brüllte der Schwertträger, »Deckung!« Im nächsten Moment flog sein Kopf so wuchtig auf seine Brust, dass er in die Knie sank. Aus seinem Nacken ragte funkelnder Stahl hervor. Ein Kriegswurfring.
Gen und der Drachenmeister warfen sich zu Boden, als ein Inquisitor aus einer Ecke des Hofs auftauchte. Ein zweiter trat aus einer anderen Ecke auf uns zu, und plötzlich tauchten von überall her noch mehr auf, eine ganze Klaue voll. Wir waren umzingelt.
»Bleib unten!«, brüllte Gen, noch während er des Schwertträgers Klinge aus seiner Scheide riss. Dann kniete er sich hin, während die Inquisitoren sich uns näherten. Mit einem unheiligen Djimbi-Ruf schleuderte Gen das Schwert wie einen Speer auf einen der Tempelhenker. Der Stahl flog mit übernatürlicher Geschwindigkeit durch die Luft und bohrte sich in den Bauch des Mannes, wo er in einem Schauer aus blauweißen Teilchen explodierte. Die unmittelbar danach einen heulenden Wirbel bildeten.
Ich kroch auf dem Bauch durch den Staub zu dem Schmied und riss ihm den Wurfring aus dem Nacken. Er löste sich mit einem gruselig schabenden Geräusch. Gen schrie mir zu, ja unten zu bleiben. Meine Nackenhaare sträubten sich, denn ich wusste, dass ein Wurfring in meine Richtung flog. Ich ließ mich auf die Seite fallen – der Schmerz raubte mir fast die Besinnung – und warf meinen eigenen Wurfring mit all der Kraft und Genauigkeit, die ich mir während meiner Ausbildung als Schüler angeeignet hatte. Der rasiermesserscharfe Wurfring eines Inquisitors fegte über meinen linken Arm. Mein eigener Ring durchtrennte seinen Schleier und grub sich in seine Kehle. Ich wartete nicht ab, um zu sehen, ob ich ihn getötet hatte, denn vier weitere Tempelhenker stürzten sich auf mich. Währenddessen prallte der unnatürliche Wirbel aus Schwertstücken, den Gen gewirkt hatte, von einer Wand ab, traf zwei weitere Inquisitoren und explodierte. Dann hielt er mitten in der Luft inne und wurde eine Wand aus weißen Flammen. Im nächsten Moment gellten kreischende Schreie über den Hof, der Gestank nach verbranntem Fleisch und versengten Haaren stieg mir in die Nase. Ich krabbelte hastig zu einem auf dem Boden liegenden Wurfring, wirbelte ihn um meinen Zeigefinger und schleuderte ihn auf einen weiteren Tempelhenker. Er verfehlte sein Ziel.
Der Drachenmeister rannte derweil wie von Sinnen brüllend mit dem Schwert des Schmieds in der Hand auf einen Inquisitor zu …
Wie viele von ihnen gab es denn hier? Eine ganze Heerschar?
Wir würden es nicht schaffen. Das erkannte ich mit kalter Klarheit. Vier Inquisitoren hatten uns umzingelt und wirbelten ihre Wurfringe um ihre Zeigefinger.
Dann zuckte einer der Männer heftig zusammen, einmal, zweimal, dreimal, seine Hände verkrampften sich, und der Wurfring trudelte kraftlos durch die Luft. Die drei Tempelhenker hinter ihm wurden ebenfalls von krampfhaften Zuckungen gepackt; schwarze Pfeilspitzen lugten an verschiedenen Stellen aus ihren Gewändern hervor. Sie ließen die Hände sinken, während sie einen Schritt nach vorn taumelten, noch einen. Ein Wurfring grub sich dicht an meinem Fuß in den Boden und ließ eine Fontäne aus Dreck gegen meinen Schenkel spritzen. Ein zweiter Wurfring landete unmittelbar neben meinem Knie.
Die Inquisitoren fielen wie Ähren unter einer Sichel. Aus ihren Rücken ragten gefiederte Pfeilenden hervor.
Ich blickte hoch. Dort, am anderen Ende des Hofes, in der Nähe der Hütte der Stallburschen, stand eine Klaue voll Männer, von denen einige Bögen in den Händen hielten. Sie, Gen, der Drachenmeister und ich waren die Einzigen im Hof, die noch am Leben waren. Der Komikon schlug wütend auf die Leiche eines Inquisitors ein.
»Drachen und Schlange!«, schrie jemand. Dann trat ein elegant gekleideter Bayen aus dem Schatten auf uns zu. Er trug eine geschlitzte Hose in der Farbe reifer Datteln; sein smaragdgrünes Hemd bauschte sich um seinen Oberkörper, als er auf die toten Tempelhenker zeigte. »Verdammt, Gen, seid tausendfach verdammt! Ihr solltet bereits gestern vor Einbruch der Dunkelheit hier eintreffen.«
Der Bayen war Rutgar Re Ghepp, der Mann, der eingewilligt hatte, den Tempel zu täuschen, indem er als Herr meiner Brut fungierte.
»Ich bin verletzt«, keuchte Gen, während er sich aufrappelte. Das Weiß seines linken Ärmels war rot getränkt. »Zarq?«
»Ich bin unversehrt. Glaube ich. Ja.«
Gen zog schwer atmend seinen Schleier herunter und presste eine Hand auf seinen Oberarm. Sein schwarzer, in der Mitte geteilter Bart war ebenso verfilzt und ungebärdig wie die Haare auf seinem Kopf und glitzerte von Feuchtigkeit.
Es ist kein Blut, dachte ich. Nicht Gen. Nicht hier. Nicht in meiner Brutstätte.
Rutgar Re Ghepp, jetzt Lupini Xxamer Zu, stand vor uns. Seine schrägen Augen glühten, und seine Wangen waren gerötet.
»Sie sind am späten Vormittag eingetroffen.« Er klang entschuldigend, fast weinerlich.
»Ihr hättet uns warnen können«, stieß Gen zwischen den Zähnen hervor.
»Sie haben den Stall geschlossen.«
»Sind noch mehr von ihnen da?«
Ghepp fuhr sich mit der Hand durch sein schwarzes Haar und sah sich im Hof um. Seine vollen Lippen bewegten sich leicht, während er zählte. »Nein, das sind alle.«
»Und was ist mit den Tierstallungen?«
Ghepp schnaubte. »Sie sind leer. Diese Brut besitzt kein einziges verdammtes Reittier. Nicht ein einziges. Ihr blickt auf Xxamer Zus einzige geflügelte Drachen, und die meisten von ihnen wurden von den Inquisitoren geflogen, die Ihr gerade ermordet habt.«
Gen ließ sich nicht anmerken, ob er das »Ihr« bemerkte.
Der Drachenmeister näherte sich uns schwankend und schleifte das blutige Schwert durch den Staub hinter sich her. Er hatte Schaum vor dem Mund, und seine hässliche Brustwunde blutete stark.
»Was soll das, he? Was zum Teufel soll das hier?«, kreischte er.
»Dasselbe könnte ich Euch fragen!« Ghepp deutete mit dem Finger auf Gen. »Ihr habt gesagt, dass Ihr ohne Schwierigkeiten fliehen würdet. Ihr sagtet, niemand würde Xxamer Zu mit ihr in Verbindung bringen!« Jetzt deutete er mit dem Finger in meine Richtung.
»Xxamer Zu ist auch nicht mit Zarq in Verbindung gebracht worden«, grollte Gen. »Denkt nach, Mann! Der Tempel schickt seine Inquisitoren in jede Brutstätte, in der nach der Arena der Vorsteher wechselt, um zu überwachen …«
»Und warum sind die Stallungen dann verschlossen? Was sollte dieser Hinterhalt?«
Gen zog seine pechschwarzen Brauen zusammen. »Sind sie wirklich geschlossen worden? Habt Ihr versucht, uns einen Drachenreiter entgegenzuschicken, um uns zu warnen?«
Ghepp blähte die Nasenflügel. »So dumm war ich natürlich nicht!«
»Schwachsinniger Narr!«, fuhr der Drachenmeister ihn an. »Deine Furcht hat dich um den Verstand gebracht, und jetzt klebt uns das Blut einer ganzen Schar von Inquisitoren an den Händen!«
»Das reicht!« Gen schwankte, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Wisst Ihr ganz sicher, dass dies hier ein Hinterhalt war?«
»Seht Euch doch um!«, schrie Ghepp.
Gen rührte sich nicht. »Warum waren diese Inquisitoren hier bei Euch in den Stallungen?«
»Wir wollten die Außenbezirke der Brutstätte abfliegen und die Grenzen bestätigen …«
»Na also. Kein Hinterhalt. Sie waren nur zur falschen Zeit am falschen Ort, haben Zarq erkannt und sofort reagiert.« Gen deutete mit dem Kinn auf die Bogenschützen, die uns aus dem Schatten beobachteten. »Sind das Eure Männer?«
Ghepp nickte grimmig. »Von Brut Re.«
»Habt Ihr acht Männer übrig?«
Ghepp fluchte.
»Lasst die Roben der Inquisitoren so schnell wie möglich waschen und trocknen. Dann steckt acht von Euren Männern hinein. Und sagt diesem Schüler, der sich in der Fütterungsscheune versteckt, dass er stirbt, wenn er nicht den Mund hält und verrät, wessen er eben Zeuge geworden ist. Dann zeigt mir, wo ich meine Wunde versorgen kann, bevor ich verblute. Überprüft alle Schüler, und stellt sicher, dass keiner etwas gesehen oder gehört hat.«
»Und sie?« Ghepps Blick verriet, dass er mich für den Tod der Inquisitoren und den Ärger verantwortlich machte, den er dafür bekommen würde. »Wisst Ihr, wie klein diese Brutstätte ist, wie primitiv? Hier gibt es keine Bastion, ich kann sie nirgendwo verstecken. Wenn ich sie in die Quartiere der Bayen bringe, wird sie mit Sicherheit von jemandem erkannt, der die Arena besucht hat. Und zwar augenblicklich.« Er schnippte mit den Fingern.
»Wer die Arena besucht hat, ist immer noch dabei, herumzuhuren und zu spielen …«
»Nein«, unterbrach ihn Ghepp. In seiner Stimme schwang ein eiserner Unterton mit. »Seht sie Euch an. Sie wird weder als Bayen noch als Junge durchgehen. Genauso wenig wie er. Versteckt sie unter den Rishi.«
Jetzt war es Gen, der fluchte. Dann erbleichte er, schwankte und schloss die Augen. Die Magie, die er gewirkt hatte, hatte seine Kräfte vollkommen erschöpft.
»Fangt ihn auf!«, schrie ich.
Ghepp und der Komikon fingen den schwankenden Hünen im letzten Moment auf. Sie taumelten unter seinem Gewicht und legten ihn dann, nach einem kurzen Wortwechsel, auf den Boden. Der Drachenmeister sank schwer atmend auf die Knie. Ghepp eilte im Laufschritt zu seinen Männern.
Gen rührte sich. »Arbiyesku.«
»Was?« Ich beugte mich dichter zu ihm herunter.
»Geht in den Arbiyesku.«
Mir schwand der Mut. Der Drachenmeister wollte protestieren, aber Gen öffnete ein Auge und brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Dort wird niemand nach euch suchen. Verstanden?« Gen hielt inne. »Ich benachrichtige sie.«
Ich verstand ihn, und nach einem Moment begriff auch der Komikon. Gen glaubte kein Wort von dem, was er gesagt hatte, um Ghepps Ängste zu zerstreuen. Er vermutete, dass der Tempel mich irgendwie doch mit dieser Wette in Verbindung gebracht hatte, bei der Ghepp Xxamer Zu gewonnen hatte. Und er fürchtete, dass die Inquisitorenschar genau aus diesem Grund hierhergeschickt worden war: um uns aufzulauern.
Vielleicht war einer unserer Lockvögel oder Granth, der Mann, den wir zurückgelassen hatten, gefangen und verhört worden. Vielleicht hatte uns auch der Händler verraten, der meine Wette unterstützt hatte. Vielleicht war diese gebeugte Kreatur mit dem knochigen Rückgrat im Labyrinth ein Mensch gewesen, hatte mich erkannt und gehört, wie ich Xxamer Zu erwähnt hatte …
Ich konnte tausend Spekulationen anstellen. Es spielte alles keine Rolle. Die Tatsachen blieben: Nachdem die Inquisitoren des Tempels mich angegriffen hatten, lagen sie jetzt tot in dem Botenhof meiner Brut, und der von Panik erfüllte Vorsteher der Brutstätte bestand darauf, dass ich mich unter den Arbeitern von Xxamer Zu versteckte.
Gebratenes Fleisch, saftige Früchte, sauberes Wasser und Schlaf würde ich nicht bekommen. Noch nicht.
Und was das Gefühl von Sicherheit und einem Zuhause anging…
Kurz nach dem Angriff sah der Hof wieder aus wie bei unserer Ankunft. Das unnatürliche weiße Feuer, von Gen mit seiner Djimbimagie beschworen, hatte drei Inquisitoren vollkommen verzehrt. Von ihnen waren weder Knochen noch Asche noch Rauch zu sehen. Der stechende Gestank nach verbranntem Haar und Haut war der einzige Hinweis darauf, dass hier vor kurzem jemand verbrannt war. Die anderen Leichen lagen verborgen unter der Spreu für die Stallungen in der Futterscheune. Wir würden sie im Schutz der Nacht entsorgen.
Damit kommen wir nicht davon, dachte ich. Auch wenn die Bayen und die anderen Leute in der Mittagsglut geschlafen haben, wird jemand die Schreie gehört haben.
Zu unseren Gunsten sprach nur das Entsetzen, das Inquisitoren in allen Menschen auslösten, ganz gleich, ob Bayen oder Rishi. Alle wussten, dass den Inquisitoren Verhöre und Schreie der Gefolterten auf dem Fuße folgten. Selbst die Drachenjünger des Tempels wirkten in der Gegenwart der heiligen Henker mit ihren weißen Schleiern beklommen. Vielleicht würden also keine Fragen gestellt werden. Vielleicht würde die Angst den Menschen die Münder verschließen, würde der Neugier einen festen Riegel vorschieben. Immerhin waren die Malacariten geübt darin, das Sicht-und Hörbare nicht zu sehen oder zu hören. Wenn es ihnen zupasskam.
Der Drachenmeister lag auf einem Heuballen. Aus der Wunde auf seiner Brust quoll immer noch Blut. Meine Schmerzen waren so schlimm, dass ich mir selbst eingestand, wie sehr ich mich nach Gift sehnte. Ghepp hatte versprochen, uns einen Heiler zu schicken, aber bis jetzt war noch niemand aufgetaucht.
Es gefiel mir nicht, dass ich keine Waffe hatte, mit der ich mich hätte verteidigen können. Vor allem, weil ich Ghepp nicht wirklich vertraute. Oh nein! Nicht nach dem Blick, den er mir zugeworfen hatte …
Und es war nicht nur der Blick. Die Tatsachen selbst passten nicht zusammen. Wenn er und die Inquisitoren gerade hatten aufsitzen und die Grenzen der Brutstätte hätten überprüfen wollen, warum hatten dann einige von Ghepps Männern Armbrüste und Bögen bei sich gehabt? Das war merkwürdig, weil die übliche Bewaffnung von Soldaten normalerweise aus Schwertern bestand. Es sei denn, man brauchte eine Waffe mit großer Reichweite zur Verteidigung. Genau solche Waffen benötigte man gegen Wurfringe.
Und dann diese Wurfringe …
Inquisitoren war es verboten, gewöhnliche Waffen zu tragen. Eine Ausnahme bildeten nur die Enthauptungsbeile, mit denen sie vor einem Tempeltribunal die heilige Exekution durchführten. Die einzige Waffe, welche die Tempelhenker tragen, aber nur zur Selbstverteidigung benutzen durften, waren Furgkri, eben diese rasiermesserscharfen Wurfringe.
Die Inquisitoren hatten beabsichtigt, ihren Hinterhalt wie bloße Selbstverteidigung aussehen zu lassen.
Hatte Ghepp von dem Hinterhalt gewusst, oder war es Zufall gewesen, dass sie alle bei unserer Ankunft im Hof der Botenstallungen gewesen waren? Und Ghepps Männer … hatten die Inquisitoren gewusst, dass einige von ihnen mit Armbrüsten bewaffnet waren, oder waren die Soldaten ohne das Wissen der Inquisitoren im Hof aufgetaucht?
Wieder konnte ich über tausend Möglichkeiten spekulieren. Ich bezweifelte allerdings, dass ich jemals die Antwort finden würde. Das Ergebnis wurde davon ohnehin nicht beeinträchtigt: Selbst hier, in meiner eigenen Brutstätte, war ich nicht in Sicherheit.
Lange nach Mittag brachte uns ein Inquisitor, einer von Ghepps als Tempelhenker verkleideten Männern, eine Flasche verdünnten Weins und eine Handvoll Pflaumen. In seiner Begleitung befand sich eine Djimbi. Die starre Miene der Frau verriet, dass sie am Rand blanken Entsetzens schwebte. Auf ihrer Hüfte balancierte sie einen Weidenkorb. Ihre Kleidung missfiel mir. Sie sah aus, als hätte sie sich nur eine pflaumenfarbene, mit schwarzen Fischgräten gemusterte Tuchbahn kunstvoll von ihrem Busen bis zu den Schenkeln um den Leib gewickelt. Eine solch schamlose Zurschaustellung wäre in Brut Re niemals geduldet worden, und ich fragte mich, ob dieses Gewand sie als Hure auswies.
Der »Inquisitor« deutete auf den Drachenmeister. Die Frau ging zu ihm, stellte den Korb auf den Boden und begann, mit sichtlich zitternden Händen seine Wunden zu untersuchen. Er schlug um sich. Sie murmelte ihm etwas auf Djimbi zu, woraufhin er sich beruhigte und ihr gestattete, weiterzumachen.
Ghepps Mann zog ein verschnürtes braunes Tuch aus dem weiten Ärmel seines Hemdes und warf es mir vor die Füße. »Von dem Gegabelten.«
Er meinte Gen und spielte auf seinen Bart an.
Ich bückte mich, steif vor Schmerz, und hob das Bündel auf. Es war ein Bitoo, einer dieser knöchellangen, mit einer Kapuze versehenen Kittel, der in Malacar als angemessenes Kleidungsstück für Frauen galt. Die Machart dieses Bitoo, braun, ohne Abnäher oder Falten und aus praktischer Muschelseide angefertigt, war unter den Rishi sehr beliebt.
Er war um ein Wams gewickelt, in dem sich wiederum ein Mitgiftschwert verbarg. Diese Mitgiftschwerter bestanden aus zwei mit rotem Garn zusammengebundenen Holzstäben, wie Klinge und Griff eines Spielzeugschwertes. Auf das rote Garn waren etliche durchlöcherte Münzen, Tempelgeld und Kupfertropfen aufgefädelt. Es war kein besonders langes Mitgiftschwert, und es gab auch keine Silber-oder Goldmünzen, aber es genügte. Es würde dem Drachenmeister und mir die Aufnahme in den Arbiyesku gewähren.
Der falsche Inquisitor duckte sich vor mir. Mir gefiel weder seine Nähe noch sein Schleier oder seine einstudierte Gelassenheit.
»Was?«, fuhr ich ihn an.
Er reichte mir aufreizend langsam eine kleine Pergamentrolle. Sie enthielt knappe Instruktionen.
Der Drachenmeister ist ein Hatagin Komikon, der seine Karawane und seinen Status aufgrund einer ungünstigen Wette in der Arena verloren hat. Du bist seine Roidan Yin. Gib deinen Arena-Umhang dem Überbringer dieser Nachricht. Ich werde dich rufen, sobald ich es für sicher halte, und werde dir ein Unterpfand senden, damit du weißt, dass wirklich ich dich verständigt habe.
Gen
Also sollte der Drachenmeister die Rolle eines Karawanenbesitzers spielen und ich die seiner erwählten Frau. Die Wunde auf seiner Brust würden alle akzeptieren, denn es kam nicht selten vor, dass ein Karawanenmeister von einem seiner gereizten, bis zur Erschöpfung angetriebenen Drachen verletzt wurde.
Ich zerriss das Pergament in winzige Stücke. »Verbrennt das«, befahl ich. »Und dreht Euch um. Ich muss mich umziehen.«
Einen Moment glaubte ich, der als Inquisitor verkleidete Soldat würde sich weigern. Wusste er, wer ich war? Oder ahnte er es? Vielleicht wusste er es tatsächlich und war von diesem Wissen beunruhigt. Er nahm mir die Schnipsel aus der Hand, stand auf und drehte sich um.
Im Schatten der Futterscheune verband derweil die Djimbi die Wunde des Drachenmeisters und half ihm in das Wams, das Ghepp für ihn besorgt hatte. Ich mühte mich währenddessen, den Umhang und das umgearbeitete Wams abzulegen, die ich in der Arena getragen hatte. Meine gebrochenen Rippen und vom Kampf noch steifen Glieder machten diese Aufgabe zu einer schwierigen Herausforderung.
Als ich fertig war, wurden der Drachenmeister und ich aus den Botenstallungen eskortiert. Das Mitgiftschwert hatte ich unter dem Bitoo verborgen, dessen Kapuze ich aufgesetzt hatte, allerdings nicht als Schutz gegen die Sonne. Die Stallungen lagen innerhalb der Tempelanlage in unmittelbarer Nähe der Quartiere der Drachenjünger, einer Ansammlung von blendend weißen Steingebäuden, die jeweils einen Hof umschlossen, der jeweils durch eine kurze Brücke mit dem nächsten Hof verbunden war. Unterwegs kamen wir an einigen prachtvoll gekleideten Heiligen Hütern vorbei, aber da wir von einem Inquisitor begleitet wurden und der Komikon und ich steifbeinig schlurften wie frisch Verletzte, glitten ihre Blicke über uns hinweg, als wären wir unsichtbar. Niemand mochte die Opfer der Inquisitoren ansehen und damit zugeben, dass der Tempel folterte.
Bewachte Tore öffneten sich für uns, und wir traten auf einen staubigen Marktplatz, der neben dem Tempel der Brutstätte winzig wirkte. Die Pflastersteine des Platzes schimmerten in der Mittagsglut. Djimbi-Rishi mit Heuballen auf ihren grüngefleckten Rücken überquerten langsam den Markt. Die Frauen waren alle statt mit Bitoos in diese merkwürdigen, vom Busen bis zu den Schenkeln gewickelten Gewänder aus zerlumptem und verschlissenem pflaumenfarbenem Tuch gekleidet. Ihre Babys trugen sie nicht in Schals über der Schulter, solche Schals besaßen sie nicht, sondern in Schlingen vor der Brust oder auf dem Rücken. Ich war verblüfft, wie viel von ihrem Körper diese Frauen entblößten: Schultern, Arme, Beine, alles vollkommen nackt.
»Geht nach Süden«, sagte der falsche Inquisitor neben mir. »Fragt nötigenfalls nach dem Weg.«
»Wir brauchen Wasser«, erwiderte ich. Der Drachenmeister neben mir starrte ausdruckslos auf die Karawansereien und Zelte am anderen Ende des Marktplatzes. Wir benötigten Schlaf ebenso dringend wie Wasser, aber wahrlich keinen langen Marsch zu einem fremden Clan, ohne zu wissen, wie man uns dort aufnehmen würde.
Der Inquisitor zuckte mit den Schultern. »Die Brutstätte ist klein; ihr werdet nicht lange bis zu eurem Ziel brauchen.«
Es dauerte einen ganzen Tag.
Bei Einbruch der Dämmerung erreichten der Komikon und ich unser Ziel. Hitze, Durst und Erschöpfung hatten uns am Nachmittag gezwungen, in dem spärlichen Schatten einiger verlassener Hütten zu rasten, und auch wenn wir keine große Distanz bewältigt hatten – die Kuppel des Tempels schimmerte nach wie vor hinter uns jenseits der Steppe -, war uns der Weg endlos vorgekommen.
Als wir in den Arbiyesku stolperten, erhoben sich einige Männer vom staubigen Boden. Frauen unterbrachen die Reinigung von Töpfen, ihre Flechtarbeit und das Stillen von Babys. Kinder liefen zu ihren Müttern.
Der süßliche Gestank von verfaulenden Drachenkokons würgte mich fast. Sie waren in einem Ziegelgebäude links von uns untergebracht, dem Lagerhaus des Arbiyesku. Ich drückte mir rasch die Kapuze meines Bitoo vor die Nase. Im selben Moment zuckte ein schmerzhafter Stich durch meinen Oberkörper, und ich erstarrte keuchend. Gebrochene Rippen mögen keine plötzlichen Bewegungen.
Der Drachenmeister sah sich finster um, als die Angehörigen des Arbiyesku uns umringten. Wie alle anderen freien Leibeigenen, die ich bisher in Xxamer Zu gesehen hatte, gingen auch die Clanmitglieder des Arbiyesku barfuß und waren ziemlich abgemagert. Den meisten fehlten etliche Zähne, sie hatten Geschwüre am ganzen Leib, schwarz verfärbte Lippen und Zungen, wie fast alle Rishi, denen wir in Brutstätte Xxamer Zu bisher begegnet waren. Der Drachenmeister hatte etwas von Slii-Kernen gemurmelt, die man lutschte, um den Hunger zu besänftigen.
Ich konnte kaum den Blick von der Kleidung der Frauen losreißen oder aufhören, sie wegen ihrer unterschiedlichen Hautfarbe anzugaffen. Ich hatte noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen, in deren Adern offensichtlich Djimbi-Blut floss. Unter dem orangeroten Abendhimmel schimmerten einige von ihnen wie poliertes Mahagoni, und die charakteristischen Flecken auf ihrer Haut hatten die Farbe alter, patinierter Bronze. Andere hatten eine fast ockerfarbene Haut, die hier und da von mattem Oliv gesprenkelt wurde. Noch andere waren walnussbraun, und ihre Flecken leuchteten aschgrau und grün. Kein einziger Rishi hatte meine Hautfarbe, die bei einem Bayen rehbraun genannt wird. Bei einem Rishi jedoch nennt man sie aosogi: der Begriff bezeichnet schlecht gegerbtes Fell. Und ebenso wenig hatte auch nur einer der vor mir Stehenden die reine, elfenbeinfarbene Haut des Imperators.
Eine Djimbi mit mächtigem Busen und einer grauenvollen Narbe, die über ihre linke Wange lief, trat aus der Menge hervor. Ihre Haut schimmerte wie feuchter Zimt, und ihre Flecken waren grün wie Salbei.
»Ich bin Tansan.« Ihre Stimme klang unerschrocken, ihr Blick war herausfordernd. Sie war mindestens einen Kopf größer als ich. »Ich warte auf die Bullenschwingen, dass sie die Herde von Xxamer Zu segnen.«
Ich blickte von ihr zum Drachenmeister, dann wieder zu ihr zurück. Dessen Miene verfinsterte sich nur unmerklich, als wäre es normal, dass eine Frau einem Fremden die rituelle Begrüßung entbot, obwohl Männer anwesend waren. Ebenso hatte sie ihren Namen genannt, als wäre er ein typischer, malacaritischer Name.
»Möge dein Warten ein Ende haben«, erwiderte er knurrend. »Mögen Bullenschwingen schlüpfen.« Mit einer barschen Geste bedeutete er mir, das Mitgiftschwert hervorzuholen. Als ich es aus meinem Ärmel gezogen hatte, stellte er sich brüsk vor und erklärte, dass wir um Aufnahme in ihren Clan baten.
Die Anwesenden starrten auf das offenkundig wertvolle Schwert. Kinder gafften uns an. Die Alten mahlten mit ihren zahnlosen Gaumen und tuschelten miteinander mit funkelnden Augen. Ein Djimbi nahm mir behutsam das Schwert ab, um es zu untersuchen, und wurde sofort von den anderen Männern umringt.
Doch die große, üppige Frau, Tansan, wie sie sich nannte, betrachtete uns argwöhnisch. »Warum wir? Warum hier? Wer seid ihr, dass ihr eine solch kostbare Gabe bei euch tragt und bei Einbruch der Nacht hier auftaucht, Aosogi Via?«
Ihr Argwohn und ihre bissige Anrede ärgerten mich, aber längst nicht so sehr wie ihre selbstbewusste und abweisende Art. Außerdem hatte sie die Frage an mich gerichtet, nicht an den Drachenmeister, was ungewöhnlich war und dazu unverschämt.
Ich versuchte meine Rolle als demütige, erwählte Frau zu spielen, und sah den Drachenmeister abwartend an, damit er ihr antwortete.
»Ihr könnt uns entweder aufnehmen oder es sein lassen!«, fuhr er sie an. »An diesem Schwert sind mehr Münzen, als du seit langem gesehen hast. Wir können uns ebenso gut an einen einsichtigeren Clan wenden.«
Tansan warf ihm nur einen kurzen Seitenblick zu, bevor sie wieder mich ansah. Ihre Augen waren von einem undurchdringlichen Schwarz. »Warum wir, Aosogi Via?«, wiederholte sie die Frage an mich.
Ich bemühte mich, mir weder meine Gereiztheit anmerken zu lassen noch ein Blickduell mit ihr zu beginnen. Noch mich etwas tiefer in den Schatten meiner Kapuze zurückzuziehen. »Ich werde ehrlich antworten, ja?«, murmelte ich. »Mein Gebieter hat sich im Laufe der Jahre mit einigen Erste-Klasse-Bürgern entzweit, in Lireh. Niemand in seiner Brut oder seinem Clan würdigt uns auch nur eines Blickes. Niemand.«
Lireh war der Hafen unserer Hauptstadt an der Küste, Liru. Und sie lag so weit von Xxamer Zu entfernt, wie es in Malacar nur möglich war, sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn.
»Aber warum diese Brut und warum dieser Clan, Aosogi Via?«, wiederholte Tansan leise.
Ich blähte die Nasenflügel und unterdrückte den Impuls, die Fäuste zu ballen. »Xxamer Zu besteht nur aus Salzteichen und Dürre«, murmelte ich. »Das wissen alle Malacariten, und niemand würde freiwillig hier leben wollen. Genau deshalb haben wir diese Brutstätte ausgesucht. Und was den Clan angeht … Weil ihr weit genug von den Blicken der Bayen entfernt seid. Das ist alles. Aber es gibt noch andere Clans hier in diesen Außenbezirken. Ich denke, wir schließen uns einem von ihnen an, ja?«
Mit ausgestreckter Hand forderte ich das Mitgiftschwert zurück, doch der Mann, der es untersucht hatte, sah mich nur beunruhigt an. Sie führten eine hitzige Diskussion auf Djimbi, in die der Drachenmeister mehrmals eingriff, weil es auch seine Muttersprache war. Tansans Gesicht verschloss sich wie eine Orchidee bei einem Wolkenbruch.
»Ihr bleibt«, erklärte ein älterer Mann schließlich, nahm das Schwert und drückte es an seine Stirn. »Dein Leib ist unserer, unser Samen ist der deine. Ihr seid jetzt Arbiyesku.«
Sofort drängten sich die Frauen des Clans um mich; ich spürte die Wärme ihrer staubigen Haut durch meinen Bitoo. Tansan blieb unmittelbar vor mir stehen, unbeweglich und so nah, dass ihre stolzen, hervorgestreckten Brüste meinen Busen streiften. Ich mag es nicht, wenn sich Menschen unaufgefordert so dicht vor mich stellen.
Ich betrachtete sie aus dem Schutz meiner Kapuze heraus, während die Frauen des Arbiyesku Grüße murmelten und ihre Handflächen in der rituellen Begrüßung auf meinen Unterleib pressten. Tansan war nicht viel älter als ich, höchstens zwanzig. Ruhig, nachdenklich und selbstbewusst betrachtete sie mich unter ihren dichten schwarzen Wimpern. Ihre vollen Lippen waren schwarz gefleckt wie die ihrer Clansfamilie, aber sie litt im Unterschied zu ihnen nicht an irgendwelchen Geschwüren. Ihre breiten Schultern waren sehr gerade, aber weich gerundet.
Unvermittelt hob sie die Hand und schob meine Kapuze zurück. »Lass dich ansehen, heho!«
Mein Anblick wurde mit Gemurmel und Zungenschnalzen aufgenommen.
Ich hätte mir die Kapuze sofort wieder über den Kopf gezogen, hätten meine schmerzenden Rippen nicht meine Bewegungsfreiheit und Reaktionsschnelligkeit eingeschränkt. Also begnügte ich mich stattdessen damit, Tansan wütend mit meinem Blick zu durchbohren. Sie ignorierte meine Feindseligkeit und betrachtete mich prüfend. Unter ihrem Blick kam ich mir vor wie ein Jährling, der vor dem Verkauf untersucht wird.
Über meinen Hals lief eine dicke Narbe von der linken Wange bis zu meinem Schlüsselbein – ein Andenken an eine Drachenzunge während meiner Zeit in den Stallungen des Drachenmeisters von Brut Re. Mein schwarzes Haar hatte ich mir kurz geschnitten wie ein Junge, damit ich beim Kampf in der Arena besser sehen konnte. Meine Augen waren blutunterlaufen, meine schwarzen Pupillen weiß marmoriert von meinem früheren Missbrauch des Drachengiftes. Es gab keinen Zentimeter auf meiner Haut, der nicht von Prellungen, Narben, Striemen oder eitrigen Kratzern überzogen war, allesamt Verletzungen, die ich in der Arena davongetragen hatte.
Die Wärme von Tansans Busen drang in meine Brüste und stieg mir in den Hals. Der Drachenmeister folgte einer Gruppe von Männern zu einer Männer-Hütte des Arbiyesku, um dort noch einmal angemessen begrüßt zu werden.
»Du hast ein Debu-Leben geführt«, verkündete Tansan. Die Umstehenden akzeptierten ihre Beobachtung mit ruhigem Nicken.
Debu. Ein verächtliches Wort der Djimbi für verflucht. Meine Mutter hatte es in meiner Kindheit benutzt.
Wie gern hätte ich Tansan ihre Überlegenheit aus dem Gesicht geschlagen. Wer war sie denn, unschicklich gekleidet und dazu in Gewänder, die so verschlissen waren, dass man fast durch sie hindurchblicken konnte? Wie konnte sie es wagen, mein Leben verflucht zu schimpfen? Wie konnte sie sich erdreisten, umringt von Kind und Kegel, weit weg von dem Wahnsinn der Arena, geborgen in dieser armen, entlegenen Brutstätte, mein Leben als verdammt zu bezeichnen?
Sie drehte sich auf dem Absatz herum, die Arme entspannt an den Seiten, ihrer Körperhaltung nach vollkommen gelassen, und ging davon. Jemand berührte mich am Handgelenk. Es war eine alte Frau, die ein Baby in einer Schlinge trug. Die Flecken auf der lehmbraunen Haut der Frau hatten die Farbe feuchten Heus und ihre Augen die von Nacktschnecken. Lippen und Zunge waren schwarz von Slii-Kernen.
»Komm, ja, komm, wir geben dir Essen und Wasser.«
Die Frauen, die mich umringten, waren so gnädig, keine Bemerkungen über meinen schlurfenden Gang zu machen. Tansan vor uns ging hoch aufgerichtet und mit wiegenden Hüften zu der hölzernen Treppe eines Langhauses, das auf Bambuspfählen stand und mit Stricken zusammengehalten wurde: das Frauenhaus. Sie ging mit derselben lasziven Geschmeidigkeit wie meine Schwester Waivia.
Dann ließ sie sich auf den Stufen des Langhauses nieder, und die Alte mit den Schneckenaugen reichte ihr das Baby in der Schlinge.
»Setz dich hierhin«, murmelte eine andere Frau. »Iss mit uns zu Abend. Du bist hungrig und durstig, ja?«
Mühsam ließ ich mich auf den Boden herunter, ohne dass es mir gelang, den Schmerz zu verbergen, den ich dabei empfand. Einige Frauen hockten sich um mich herum und starrten mich an, während sich ihre Kinder neben ihnen drängelten.
Die alte Frau mit den Schneckenaugen kam wieder zurück und hockte sich vor mich hin. Sie schlug sich mit dem Daumen auf ihre knochige Brust; es klang fast so, als hätte man mit einem Knöchel auf einen unreifen Kürbis geklopft. »Ich bin Fwipi. Und du?«
»Ich bin die Wai Roidan Yin des Hatagin Komikon«, murmelte ich.
»Nein, nicht gut, das ist nicht gut. Dein Name, ein Name.«
»Das ist mein Name.«
»Haaa! Das ist nur ein Titel! Du hast keinen Namen?«
»Kazonvia.« Das war keine ausgesprochene Lüge, denn schließlich war ich die zweitgeborene Tochter.
Fwipi verzog das Gesicht. »Dein Name ist Zweite Tochter? Ein hohler Name, ein Name nach der Sitte des Imperators. Magst du seine Sitten?«
Diese Frage war sehr ärgerlich. Ebenso aufreizend wie die wachsende Menge der Männer, die sich jetzt zu uns gesellten, nachdem sie den Drachenmeister in die Lehmhütte begleitet hatten. Ich musste schlafen, konnte nicht klar denken.
»Der Imperator ist ein Despot!«, fuhr ich sie an. »Er ist nicht mal meine Pisse wert!«
Fwipi sog scharf die Luft ein. Und einige Frauen wechselten vielsagende Blicke.
»Leute, die solche Dinge sagen, verlieren schnell Finger oder Zunge«, tadelte mich Fwipi. »Ein solcher Verrat gefährdet uns alle. Es ist besser, solche Gedanken für sich zu behalten, heho!«
Einige ältere Frauen murmelten zustimmend, und dann sprach niemand mehr mit mir, bis zwei Frauen ein Brett mit Kadoob-Knollen herantrugen, die sie frisch aus der Glut geholt hatten und die als Speise dienten.
Statt sich einen Platz am Rand des Kreises der sitzenden Männer zu suchen, saßen die Frauen und Kinder des Arbiyesku neben ihnen. Statt zu warten, bis die Männer sich satt gegessen hatten, bevor sie selbst die Nahrung berührten, aßen Frauen und Kinder zur gleichen Zeit wie sie. Ein solches Verhalten war höchst unschicklich. Aber ich begrüßte es. Die Sitte, dass Frauen und Kinder zuletzt essen mussten, hatte ich schon immer verabscheut.
Ich jedoch aß nicht. Eine steingroße Kadoob-Knolle, rußig und mit schrumpeliger Schale, lag unbeachtet auf meinem Schoß, während ich erschöpft und schmerzerfüllt ins Leere starrte. Neben mir wechselte Fwipi einige Worte mit einem alten Mann. Sie unterhielten sich auf Djimbi.
Dann sprach sie mich wieder an. Ihre faulen Zähne schimmerten auf wie schwarze Käfer. »Du siehst morgen nur zu. Du bist weit gereist, heho, und du bist müde. Morgen siehst du nur zu.«
Der Alte neben ihr nickte und strahlte zustimmend. Sein Gaumen war so zahnlos wie der eines Neugeborenen.
Fwipi legte ihre trockene Hand auf meinen Arm und blickte zu dem Drachenmeister hinüber, der gerade zu uns kam. »Fürchte ihn jetzt nicht mehr. Du tust, was der Clan für angemessen hält. Wir beschützen dich, ja?«
Sie dachte, ich wäre von meinem Gebieter so zugerichtet worden. Ich knirschte mit den Zähnen und zwang mich dazu, mich wie eine dankbare, unterwürfige Frau zu benehmen. »Danke«, murmelte ich mit niedergeschlagenen Augen.
Der alte Mann hielt mir plötzlich etwas hin, etwas Trockenes, Verdrehtes, von der Farbe gebleichter Knochen. Eine Maska-Wurzel. Er sagte etwas auf Djimbi, und auch wenn ich ihn nicht verstand, war klar, was er meinte. Iss.
»Danke«, wiederholte ich. Diesmal jedoch klang mein Dank aufrichtiger. Ich nahm die kostbare Wurzel, schälte sie rasch mit den Zähnen und kaute sie. Sie schmeckte wie Galle.
Alle anderen aßen ebenfalls. Die dickbäuchigen Kinder mit ihren dürren Armen und Beinen fassten langsam den Mut, sich mir zu nähern. Schließlich versammelten sie sich in unverhohlener Neugier vor mir in einem Halbkreis. Eines der Kinder räusperte sich, ein knapp sechs Jahre altes Mädchen mit Augen in der Farbe von Schlehen, einer Haut wie mit Honig bestrichenem Kuchen, von kleinen, hellgrünen Flecken überzogen.
»In welchem Clan warst du vorher?«, wollte sie wissen.
»Ich gehörte dem Hatagin Komikon, keinem Clan.« Mir war sehr bewusst, dass alle auf meine Antwort warteten.
»Ist dein Gebieter verrückt?«
Ich unterdrückte das überstürzte Ja, das mir auf der Zunge lag, und antwortete mit so viel Demut, wie ich aufbringen konnte: »Er wirkt manchmal verrückt und verhält sich auch manchmal so. Vielleicht ist er also tatsächlich verrückt, hm?«
»Was ist mit deinen Augen los?«
»Als Kind war ich sehr krank. Diese Krankheit hat sie gezeichnet.«
»Hat die Krankheit auch die Farbe deiner Haut verändert?«
Wie ungewöhnlich, dass ich wegen meiner Hautfarbe als anders empfunden wurde. Daran war ich nicht gewöhnt. Ich antwortete bedächtig: »Da, wo ich herkomme, sehen die meisten Rishi aus wie ich. Aosogi nennen es manche, obwohl die Bayen, welche dieselbe Farbe haben, ihre Haut gern heller und fa-pim machen, indem sie die Farbe rehbraun nennen.«
»Fa-pim, pah! Wer will schon wie der Imperator sein? Bayen sind Dotterhirne!«
Fwipi schnalzte tadelnd mit der Zunge, aber das Mädchen ignorierte sie und hockte sich neben mich. Sie musterte mich einen Moment und deutete dann auf das verschlissene Kleid an ihrem Körper.
»Das ist ein Yungshmi.« Sie sprach übertrieben deutlich, als käme ich aus dem Norden und spräche nur Xxeltekisch. »Yungshmi! Yungshmi. Du solltest dich nicht in diesem hässlichen Sack verstecken, nein, nein!«
»Ich trage lieber meinen Bitoo«, antwortete ich. Meine Lippen waren bereits gefühllos von der Wurzel, die ich kaute, und die Schmerzen in meiner Brust wurden schwächer und dumpf.
Sie schüttelte den Kopf, als wäre ich einfältig.
»Yungshmi«, verkündete sie langsam und deutlich. »Ich helfe dir, einen Yungshmi anzuziehen.«
Sie beugte sich vor und berührte scheu meine Hand. Ihre Zähne waren noch nicht angeschlagen und faul von den Slii-Kernen, obwohl auch ihre Lippen bereits diese verräterischen schwarzen Flecken aufwiesen. »Du willst doch nicht wie eine Frau des Imperators aussehen, heho!«
Sie stand auf, schob ihren Bauch vor und stolzierte mit gespreizten Füßen herum.
»Ich bin der Imperator!«, verkündete sie und versuchte die dröhnende Stimme des Kriegerfürsten des Archipels zu imitieren. »Ich bin der große, fette Imperator! Ich stecke meine Frauen in Säcke wie Aale in Körbe.«
Die anderen Kinder kicherten. Dann drehte sie sich um und drohte mir mit einem Finger. »Für mich«, verkündete sie, »siehst du gut aus in einem Aalsack! Gut, gut! Leckerer Aal!«
»Das reicht, Savga!«, fuhr Fwipi sie scharf an. »Tansan, sag meinem Enkelkind, dass es seine Zunge hüten soll. Ein leichtsinniger Mund kann Knochen brechen.«
Die Ältesten des Clans murmelten zustimmend. Ich sah zu Tansan, die auf den Stufen des Frauenhauses saß und ihr Baby stillte. Drei junge Männer hockten zu ihren Füßen.
Tansan hob den Kopf. »Lass sie die Wahrheit doch aussprechen, heho!«
Ärger wallte in mir hoch. Ich konnte nichts dagegen tun. Tansan war so alt wie ich, stillte ein gesundes Baby an ihrem Busen und war auch noch die Mutter des altklugen Mädchens neben mir. Sie hatte eine besonnene Mutter, einen Clan, nicht nur einen, sondern gleich drei Verehrer, saß über uns und abseits, während sie die Gefahr herunterspielte, die die Worte ihrer Tochter heraufbeschwören konnten. Tansan hatte Dinge, die ich verloren oder nie besessen hatte und vielleicht auch nie besitzen würde. Das brannte in mir, wie auch die Erinnerung daran, dass sie mein Leben verdammt hatte.
Wie immer sprudelten mir meine Gefühle sofort über die Zunge. »Du lässt deine Tochter reden und das Risiko eingehen, dafür bestraft zu werden?«
Tansan sah mich mit nachsichtiger Belustigung an, was mich noch mehr in Rage brachte. »Hast du selbst nicht eben noch den Imperator mit deiner Pisse verglichen, hm?«
»Ich bin erwachsen, kenne die Konsequenzen, die es haben kann, wenn meine Worte belauscht werden. Kinder dagegen sind verletzlich …«, meine Stimme klang plötzlich erstickt. »Eine gute Mutter«, fuhr ich heiser fort, »gibt ihren Kindern ein Vorbild, beschützt sie.«
Tansans dunkle Augen blitzten. »Du glaubst, ihr würde nicht die Zunge von der Axt eines Heiligen Hüters gespalten werden, wenn du schlecht über den Imperator redest? Ich weiß nicht, woher du kommst, Zweite Tochter, aber hier teilt jeder, der die Beleidigung eines Spötters gehört hat, seine Strafe.«
Ein unbehagliches Schweigen senkte sich über meinen neuen Clan. Tansan und ich maßen uns gegenseitig mit Blicken … Doch ich hatte Schwierigkeiten, mich nicht von dem Schmatzen des Säuglings an ihrer Brust ablenken zu lassen.
Eine kleine Hand berührte zögernd meine Schulter. Ich gab das Blickduell mit Tansan auf und sah Savga an.
»Bist du böse auf mich?«, fragte mich das Mädchen. Seine schlehenfarbenen Augen waren ganz dunkel, und es runzelte die Stirn.
»Nein.« Dann nahm ich Savgas kleine Hände in meine, mir der Wirkung voll bewusst, die mein Tun auf Tansan ausübte. »Wie sollte ich böse auf dich sein? Du bist klug und amüsant und hübsch, alles, was sich eine Freundin nur wünschen kann.«
Savga riss erstaunt die Augen auf. »Wirklich? Sind wir Freunde?«
Ich spürte, wie Tansan sich auf den Stufen der Treppe anspannte.
Aber ich blickte nur Savga an, als ich feierlich nickte. »Ich, Kazonvia, verspreche hiermit, dass ich die beste Freundin Savgas aus dem Arbiyesku von Xxamer Zu sein werde.«
Savga strahlte, entzog mir die Hände und verschränkte sie vor Entzücken. Ein wenig selbstgefällig klopfte sie mir auf den Kopf, damit alle anderen Kinder es auch ja sahen. »Freunde«, sagte sie. »Kazonvia und ich sind allerbeste Freundinnen.«
Aus den Augenwinkeln verfolgte ich, wie Tansan geschmeidig aufstand und im Frauenhaus verschwand.