7
Ich sang Savga, Oblan und Runami, meinen drei ungewoll ten Kindern, die ganze Nacht Lieder vor.
»Sen fu lili, sen limia …«
Es waren Liebeslieder, die sich während all der Jahre in mein Gedächtnis eingeprägt hatten, die ich zu Füßen der Töpferfrauen herumgekrabbelt war. Während sie arbeiteten und sangen, hatte ich mit kindlichen Kiefern auf muffigen Keksen herumgekaut und mit meinen kleinen Fingern sorgfältig Schätze vom Boden aufgelesen, die genauer untersucht werden mussten: einen Kieselstein, eine Tonscherbe, eine tote Motte.
»Mein lieblicher Honig, meine Versuchung …« Während die Kinder ihre leeren, schmerzenden Bäuche umklammerten, sich in den Schlaf weinten und von Zeit zu Zeit aufschrien, drang meine Stimme wie ein goldener Schimmer durch den lehmkalten Stall, in dem wir gefangen waren.
Gegen Mitternacht bekamen wir die ersten Bauchkrämpfe, und es setzte die vergebliche, hektische Suche nach einem Platz ein, an dem wir uns entleeren konnten. Ihr folgten die Scham und der Gestank unserer Eingeweide, die sich wie Vulkane entleeren und ihren Inhalt auf die Steine klatschen ließen.
Des ungeachtet, sang ich weiter, wenn ich nicht gerade selbst beschäftigt war. Wenn sie konnte, saß Savga auf meinem Schoß wie ein Baby, und ich drückte Oblan und Runami mit meinen Armen eng an mich, während ich sang.
»Sen wai kavarria, gunasthi tras hoiden nas.«
Oblan fragte unaufhörlich nach ihrem kleinen Brüderchen. Sie hatte jede Nacht mit ihm an ihrem Bauch geschlafen, hatte ihn jeden Tag mitgeschleppt, wenn sie Wasser holte oder Unkraut jätete. Unfähig, das ganze Ausmaß ihrer Lage zu begreifen, lenkte sie ihre ganze Sorge auf ihren Bruder. Wer wird sich um ihn kümmern, wenn Mutter arbeitet, Kazonvia? Wer, wer nur? Die
Vorstellung, dass er fror, unbeaufsichtigt war oder hungerte, machte sie fast verrückt. Und dabei stand sie kurz davor, in die Sklaverei verkauft zu werden.
»Ich bin vollkommen von dir besessen«, sang ich, »bin unfähig zu leben, verrückt vor Liebe.«
Der Morgen kam, hellte die Nacht auf, färbte die Wände aschgrau. Die ersten Fliegen summten in unserem stinkenden Gefängnis umher. Mein Steißbein war wund, weil ich die ganze Zeit mit Savga auf dem Schoß auf dem kalten Boden gesessen hatte. Meine Beine fühlten sich blutleer an, schienen nicht zu mir zu gehören.
Schließlich tauchte ein Akolyth der Drachenjünger vor dem Eisengitter des Stalls auf und sprach mit den vier Paras, die uns die ganze Nacht bewacht hatten. Ich hörte auf zu singen. Die wenigen Rishi-Frauen, die mit uns eingesperrt waren, erhoben sich, baten flehentlich um Essen für die Kinder, um sauberes Wasser, eine Latrine.
»Der Hatagin Komikon des Arbiyesku und seine Wai Roidan Yin werden zu Lupini Xxamer Zus Erstem Kanzler gerufen!«, überschrie einer der Paras das Flehen der Frauen. Seine Stimme klang heiser vor Müdigkeit, nachdem er die ganze Nacht Wache gehalten hatte. »Tretet vor.«
Savga umklammerte meinen Hals.
Ich schluckte. Meine Zunge fühlte sich an wie ein Stück zersplittertes Holz. Ich warf einen Blick auf den Drachenmeister, der die ganze Nacht neben dem Gitter der Stalltür gehockt hatte. Er stand auf. Seine blutunterlaufenen Augen wirkten in der fahlen Morgendämmerung undurchdringlich.
»Tretet vor!«, befahl der Akolyth, ungeduldig und gebieterisch und sichtlich erfreut, dass er, ein niederer Untergebener, jetzt in einer Position der Macht war. Er zog seinen grünen Überwurf glatt und zupfte unsichtbare Stäubchen davon ab. »Lasst uns nicht warten.«
Ich versuchte mich zu erheben. Savga schrie heiser auf und klammerte sich an mich.
»Ich lasse dich nicht allein, nein, das mache ich nicht«, flüsterte ich in ihr Haar. Unter ihrem Gewicht und der Last ihres Entsetzens gelang es mir nicht, aufzustehen. Einer der Jungen des Arbiyesku half mir auf, obwohl seine kleinen Hände einer solchen Aufgabe kaum gewachsen waren. Oblan und Runami standen ebenfalls auf, drückten sich an mich, klammerten sich an meinen verschmutzten Bitoo.
Wie ein verwundetes sechsbeiniges Tier schlurften wir zur Stalltür. Savga umklammerte, während sie auf mir hockte wie ein Äffchen auf seiner Mutter, meine Taille so fest mit ihren Beinen, dass mir die Rippen wehtaten.
Der Akolyth warf einen Seitenblick auf den Drachenmeister und maß dann die Kinder und mich mit einem angewiderten Blick.
»Die da bleiben hier!«, fuhr er mich an und wedelte mit seinen bienenwachspolierten Fingernägeln in der Luft herum.
»Bitte …«, setzte ich an.
»Setz diese … Kreatur ab und komm heraus!«
Der Akolyth schien noch jünger zu sein als ich, verweichlicht durch ein sorgenfreies Leben. Seine Fa-pim-Haut war von all den Jahren, in denen er Schriftrollen auf Pergamente kopiert und niemals die Sonne gesehen hatte, außerordentlich blass.
»Der Lupini hat mich gerufen, ja?«, fragte ich leise. Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. »Können die drei nicht mit mir kommen?«
Sein Hals und seine Wangen röteten sich, als würde sich dunkler Wein über seine Haut ergießen. Er drehte sich zu einem Para um, während er vor Empörung förmlich bebte. »Enthauptet die Kinder! Und schafft die da hinaus!«
»Nein!«, schrie ich. Alle anderen im Stall kreischten ebenfalls, jammerten, bedeckten Augen und Ohren. Konnte er so etwas anordnen, obwohl er nur ein einfacher Akolyth war? Offenbar ja. Würde man ihm gehorchen?
Der Para nickte brüsk.
Offensichtlich ja.
Oblan und Runami krallten sich vor Entsetzen an mir fest. Ich sprach kurz mit ihnen, gab ihnen einen Klaps auf die Hände, versuchte, ihre kleinen Finger von meinem Bitoo zu lösen, während Savga mich noch fester umklammerte und ihr Gesicht an meinen Hals presste.
»Bitte, hört mir zu! Lasst mich los! Ich komme zurück, ich verspreche es! Lasst mich los.«
Der Para öffnete das Gitter und zog sein Schwert. »Geht, geht!«, schrie ich Runami und Oblan an, schlug ihnen auf die Arme, stieß sie fort, ohrfeigte sie. »Gehorcht mir! Ich komme zu euch zurück! Und jetzt geht!«
Sie rannten weg, rutschten aus, stolperten und versteckten sich hinter den Beinen der anderen.
Du bist jetzt ihre Mutter. Du allein kannst ihnen Liebe und Schutz spenden, sie vor Übel bewahren. Denk daran, Kazonvia!
Ich drehte mich um, während ich meinen Herzschlag schmerzhaft hinter meinen Augen spürte, und stellte mich dem Para. Ich schlang beide Arme um Savga und drückte sie fest an mich. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Savga«, flüsterte ich in ihr Haar. »Ich muss jetzt gehen. Bitte. Sie werden dir wehtun, wenn du mich nicht loslässt.«
Sie schüttelte ihr Köpfchen. Das Haar an ihrem Scheitel fühlte sich weich und fein unter meinem Kinn an. »Du kommst nicht zurück!«
»Ich komme zurück«, widersprach ich. Ich meinte es wirklich ernst und wäre doch an diesem Versprechen beinahe erstickt. Denn ich wusste, dass ich weder sie noch Oblan noch Runami je wiedersehen würde, sobald ich diesen Stall verlassen hatte.
»Wir sind beste Freundinnen«, hauchte Savga an meinem Hals. Ihre kleinen Rippen hoben und senkten sich hastig unter meinen Fingern. »Lass mich nicht allein zurück.«
Verzweifelt sah ich den Para an, blickte ihm in die Augen, die durch seine monströsen Gesichtsnarben absichtlich so unmenschlich wirkten. Ich erinnerte mich daran, wie Tansan sich für das Kind in meinen Armen der Vergewaltigung ausgeliefert hatte – und um mich vor einem solchen Schicksal zu schützen.
»Du musst mir schon die Arme vom Körper abtrennen, wenn du uns auseinanderreißen willst!«, zischte ich ihm zu.
Der Para riss entsetzt die Augen auf und drehte sich hilfesuchend zu dem Akolythen um. Der sah aus, als würde er im nächsten Moment dem Mann das Schwert aus der Hand reißen und selbst auf mich einschlagen.
Der Drachenmeister erhob seine Stimme.
»Wir verschwenden Zeit, Weib!«, blaffte er mich an. »Sollen wir unsere Köpfe durch den Zorn des Ersten Kanzlers verlieren, weil er auf uns warten musste, und das alles nur wegen eines einzigen Kindes? Sollen deshalb dieser einfache Akolyth ausgepeitscht, der Para degradiert werden? Nimm sie mit und fertig; soll der Kanzler mit dem Balg verfahren, wie es ihm beliebt!«
Ich starrte ihn an, während seine Stimme hohl und dumpf in meinen Ohren widerhallte, als stünde ich am Grund einer tiefen Zisterne. In diesem Moment fragte ich mich, was der Drachenmeister wirklich für Kinder empfand, für all die Kinder, die unter seiner Herrschaft als Drachenmeister der Brutstätte Re vor seinen Augen in der Arena zu Tode getrampelt worden waren. Vielleicht zwang er sich ja dazu, Kinder zu verabscheuen, um Tag für Tag weitermachen und all die Dinge tun zu können, die von ihm als Drachenmeister verlangt wurden. Vielleicht war sein Abscheu vor Kindern nur eine Fassade, sein einziger Schutzpanzer gegen eine Welt, die von den Gesetzen des Tempels so erbarmungslos und blutig gestaltet wurde. Dieser Unwille Kindern gegenüber war sein Schutzschild.
Den er jetzt listig benutzte, um mich zu beschützen. Der Akolyth erstarrte, da der Drachenmeister ihn mit seinen Worten an seinen niederen Status erinnerte. Er bedeutete mir, aus dem Stall zu kommen. Ich gehorchte und hielt Savga fest umschlungen. Das Gitter schlug hinter uns klappernd zu.
Der Akolyth spie vor mir aus. Sein Speichel hatte die Farbe rohen Fleisches, sah aus wie Innereien. Er wirbelte herum und entfernte sich von dem Hof mit den Stallungen. Der Drachenmeister folgte ihm mit zusammengezogenen Schultern.
Nach einem Moment setzte auch ich mich in Bewegung.
Ich blickte nicht einmal zu Oblan und Runami zurück, die mir mit starren Augen nachsahen.
Hast du dich auch so gefühlt, Mutter, als du Waivia mir vorzogst? War dein Bauch schwer von Verzweiflung, deine Augen geschwollen von unvergossenen Tränen? Bist auch du an deinem Verrat beinahe erstickt und hast dich mit dem glühenden Schwur getröstet, dass du dich von diesem Kind, diesem einen Kind, niemals abwenden würdest, ganz gleich, was auch geschehen mochte? Niemals?
Fühlte es sich so ähnlich an, wenn man seine Tochter im Stich ließ?
Wir gingen in die Quartiere der Drachenjünger, durch kühle, steinerne Gänge, die so schmal waren, dass man nicht nebeneinander marschieren konnte. Die weißen Steine schimmerten, als wären sie poliert. Ich dachte an weiße Coranüsse, die geschält in einer Pfanne mit heißem Öl schwammen. In den Wänden befanden sich kleine, glatte Nischen, und in jeder einzelnen standen wunderschöne, aus Elfenbein geschnitzte Drachen. Aber es waren keine normalen Drachen, oh nein. Sie hatten Brustwarzen, große, gewölbte Brüste, Zitzen oder Brüste wie Tauben. Ihre Schwänze waren dick und sahen wie Phalli aus. Einige der Statuetten waren kunstvoll in sich verschlungen. Andere waren keilförmig, bestanden nur aus scharfen Kanten und spitzen Dreiecken. Jede wirkte wie das Werk eines Dawahat Komikon, eines Meisters der Elfenbeinschnitzerei, und sie alle waren zahllose Dracheneier wert.
Ich musste Savga absetzen, weil ich keine Kraft mehr in Armen und Körper hatte. Sie glitt an mir herunter, ohne mich loszulassen. Ich legte meine Hand auf ihre knochige, schmale Schulter, die sie an meine Hüfte presste, als wir weiterschlurften.
Der muffige Geruch von Weihrauch hing schwer in der Luft. An den Wänden klebten braune Tropfen davon, die in braunen Streifen herunterliefen, als würden die weißen Wände das Zeug ausschwitzen. Ab und zu kamen wir an einer muschelförmigen Nische in der Wand vorbei, einer Grotte, in der ein Drachenjünger Platz fand, um andere in dem schmalen Gang passieren zu lassen.
Wir gingen an Türen vorbei, die aus gehämmertem Zinn bestanden, in die Reliefs von Featon-Garben, Dracheneiern und Granatäpfeln eingeprägt waren. Einige waren mit großen Riegeln und Stangen verschlossen. Der Tempel musste sich offenbar vor seinen eigenen Leuten schützen.
Vor einer dieser Zinntüren blieben wir stehen. Der Akolyth öffnete sie und trat geduckt ein. Der Drachenmeister folgte ihm, mit Savga und mir auf den Fersen.
Der Raum war überladen mit weichen Kissen, die Wände mit großen Wandteppichen behängt, die sie wie Felle überzogen. Ich bekam kaum Luft, so stickig und staubig war dieses Gemach. Der abgestandene Geruch, der von langer Nichtbenutzung herrührte, erfüllte meine Nase und meinen Mund wie Watte.
Zwei Paras neben der Tür, durch die wir getreten waren, betrachteten mich mit demselben Ekel. Ich errötete vor Scham über die braunen Kotflecken auf meinem Bitoo, über meinen und Savgas Gestank, hob aber dennoch trotzig das Kinn. Wären nicht die Paras und ihresgleichen gewesen, hätte ich mich nicht in einem solch entwürdigenden Zustand befunden. Sie waren verantwortlich für meinen Schmutz; sollten sie doch daran ersticken.
»Das ist er«, ertönte eine Stimme. Ich ließ meinen Blick über die Kissen und Gobelins gleiten und sah schließlich in dem verwirrenden Farbdurcheinander den Wai Vaneshor stehen, den Ersten Kanzler. Er trug eine rote Robe, die am Hals und an den Ärmeln mit blauer Seide gesäumt war. Der graubärtige Mann kam mir auf verstörende Weise bekannt vor.
»Das ist der Hatagin Komikon, der noch Geld aus den Wetten in der Arena schuldig geblieben ist«, sagte der Erste Kanzler. »Ich werde mich von jetzt an um ihn und seine erwählte Frau kümmern.«
Der Akolyth warf erst dem Drachenmeister und dann mir einen selbstgefälligen Blick zu. Jetzt bekommt ihr eure Strafe, besagte dieser Blick unmissverständlich. Als er an uns vorbeirauschte, verbarg Savga ihr Gesicht unter meinem Arm. Der Akolyth tippte sich mit den Daumennägeln an seine Ohrläppchen, um das Böse abzuwehren. Als besäßen ein hungriges Kind und seine schmutzige Ersatzmutter die Macht, ihm Schaden zuzufügen.
Damit verließ er den Raum. Der Erste Kanzler wandte sich an die Paras. »Wartet draußen. Ich rufe euch, wenn ich euch benötige.«
Sie gehorchten.
Die Tür schloss sich mit einem scharfen, klirrenden Geräusch.
»Bei der Liebe der Schwingen, Babu, was ist mit dir passiert?«, grollte der Kanzler. Ich starrte ihn an.
Als würde ich auf eine in der Hitze der Wüste flirrende Gestalt blicken, verwandelte sich der Erste Kanzler langsam in jemand Bekanntes: Drachenjünger Gen.
Er stand leicht gebeugt da, wie ein runzliger alter Mann. Sein ungebärdiger, gegabelter Bart war zu einem ordentlichen grauen Spitzbart gestutzt worden. Sein Kopf war kahl geschoren und von Altersflecken übersät, und seine Haut war nicht mehr so braun wir Borke, sondern elfenbeinfarben, so unmöglich fa-pim wie die des Imperators.
»Gen?«, stieß ich keuchend hervor.
»Senk deine Stimme, Blut-Blut! Diese Tür hat Ohren!« Er zog die grauen, ungewohnt gepflegten Brauen zusammen. »Warst du krank? Du stinkst schlimmer als Fäulnis.«
»Eure Haut hat … die falsche Farbe«, erwiderte ich wie vom Donner gerührt.
»Pass auf, was du sagst.« Er deutete auf Savga. »Wer ist diese Rishi Via?«
Ich folgte seiner Hand mit den Augen und schrak zusammen, als ich das kleine Mädchen neben mir sah. Doch der Schreck hielt nur einen Moment an. Ich erinnerte mich wieder daran, wo ich war und was sich ereignet hatte, und im nächsten Moment schäumte ich vor Empörung.
»Was macht Ihr eigentlich?«, schrie ich und trat mehrere Schritte vor. Savga hielt mich zurück, wie Ballast, ein Mühlstein, ein Anker.
»Sprich leise!«, befahl Gen.
Ich blähte meine Nasenflügel und zog Savga mit zu ihm, watete durch die Kissenberge. »Was hat das zu bedeuten? Wieso raubt Ihr Menschen aus ihren Kus und schlagt sie in Ketten?« Ich packte Savgas Arme und zeigte ihm wütend die Handschellen. »Behandelt Ihr so Kinder?«
Gen wirkte plötzlich ebenso elend und niedergeschlagen, wie Fwipi im Frauenhaus ausgesehen hatte. »Ghepp hat mir keine Wahl gelassen, Babu. Gäbe es eine andere Möglichkeit, zu kaufen, was wir benötigen und unsere Schulden zu begleichen …«
»Es gibt eine andere Möglichkeit. Es muss eine geben!«
»Ich habe an viele gedacht, aber Ghepp …«
»Ich bin die Herrin dieser Brutstätte, nicht Ghepp!«
Ein müder Ausdruck zuckte über Gens Gesicht, aber ich ignorierte ihn, gefangen in meinem rasenden Zorn, der mich wie eine blutige Beule umhüllte. Ich fuhr mit der Hand durch die Luft. »In den Nischen dieser Wände da draußen stehen Statuetten, die ein kleines Vermögen wert sind. Wie könnt Ihr es wagen mir zu erklären, Ihr hättet keine Wahl, und wagt es dann, Kinder statt dieser Statuetten zu verkaufen?«
»Diese Statuetten gehören dem Tempel«, erwiderte der Drachenmeister. Er kam steifbeinig herüber und baute sich neben mir auf. Feindseligkeit strahlte von ihm aus. »Wenn wir die verkaufen, werden wir alle Drachenjünger auf diesen Ländereien gegen uns aufbringen. Ihr Aufschrei wird bis nach Liru zu hören sein.«
»Glaub nicht, ich hätte nicht darüber nachgedacht.« Gens Stimme klang alt, sein Blick war flehentlich.
Aber ich wollte ihm kein Gramm Mitgefühl schenken.
»Dann verkauft ein paar von unseren Brutdrachen«, verlangte ich, meine Hände zu Fäusten geballt, das Wort »unsere« mein Schwert.
»In dieser Brutstätte gibt es auch so schon kaum genug Nahrung. Wir können es uns nicht einmal leisten, auch nur einen einzigen eierlegenden Drachen zu verlieren, geschweige denn die Anzahl, die erforderlich wäre …«
»Dann verkaufen wir eben Maniok!«
»Die Ernte ist bereits verkauft, obwohl sie noch nicht einmal eingefahren wurde!«
»Rishi sind keine Sklaven!«, schrie ich. »Wir sind keine rechtlosen Leibeigenen, die man wie Tiere jagen und mit denen man handeln kann!«
Der Drachenmeister kommentierte meinen Aufschrei mit einer abfälligen Handbewegung, als er sich an Gen wandte. »Du tauschst die Kinder gegen einen Drachen ein, oder? Gegen ein junges Reittier?«
Gen nickte. »Ghepp ist es gelungen, für unsere Zwecke einen Jährling mit intakten Giftdrüsen von Brutstätte Diri zu erwerben.«
»Diri?«, rief der Drachenmeister. »Ihre Drachen leiden an Schuppenpest! Wenn dieses Drachenweibchen ebenfalls infiziert ist, wird es Xxamer Zus Brutherde vollkommen dezimieren!«
»Wir beabsichtigen, es zu isolieren«, knurrte Gen. »Keine Brutstätte der Dschungelkrone würde uns im Moment ein Reittier verkaufen. Wir hatten keine andere Wahl, als uns an Diri zu wenden. Kratt ist nicht sonderlich erfreut, dass sein Halbbruder Xxamer Zu in der Arena gewonnen hat. Er hat seine Beziehungen spielen lassen, so dass Ghepp jetzt keinen einzigen Verbündeten unter den Vorstehern in diesem Verwaltungsbezirk hat.«
Der Drachenmeister runzelte die Stirn. »Kratt vermutet einen Betrug.«
»Natürlich! Der Mann ist kein Narr! Ghepp hat auf eine winzige Chance eine ungeheuerlich hohe Wette platziert, die von jemandem gedeckt wurde, der anonym blieb. Eine solche Wette bleibt nicht unbemerkt, heho! Während wir hier reden, versucht Kratt herauszufinden, woher Ghepps Mittel für die Wette stammten. Er wird schon bald herausfinden, dass Malaban Bri für unsere Wette gebürgt hat.«
Gen warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Und Kratt weiß auch, dass du die Arena überlebt hast und geflohen bist, heho! Er stachelt den Tempel und die Bevölkerung zu einem krankhaften Hass auf dich an. Er behauptet, du wärst von Dämonen gezeugt und hättest vor, die Tradition zu untergraben und die Jugend des Landes dazu zu verführen, sich bestialischen Perversionen hinzugeben. Die ganze Hauptstadt befindet sich in Aufruhr, die Menschen kochen förmlich vor Wut!«
»Bei der Öffentlichkeit war ich schon immer unbeliebt«, erwiderte ich kühn. Aber mein Puls hämmerte wie wild.
»Das hier ist etwas anderes, Mädchen. Kratt hat dich zu einem Symbol des Bösen stilisiert und stellt sich selbst als einen durch Reue motivierten Kämpfer gegen dieses Böse dar. Er benutzt die Tatsache, dass er dich unterstützt hat, als Beweis für deine verführerische Macht.« Gen drohte mir mit dem Finger, als wäre ich ein Kind. »Das macht er nur, weil er deinen Himmelswächter fürchtet, heho! Er weiß, wer du wirklich bist, weiß, welche Macht du beschwören kannst. Du bist für ihn wie eine Gewitterwolke, und er fürchtet die Blitze, die du werfen kannst!«
Mein Magen wurde hart und brannte. Ich besaß diese Macht nicht. Nicht mehr. Jetzt kontrollierte meine Schwester sie, und Waivia stand an Kratts Seite. Kratt wollte jede Bedrohung eliminieren, die ihn die Unterstützung des Himmelswächters kosten könnte. Folglich wollte er mich töten.
Erneut tat der Drachenmeister Gens Bemerkungen mit einer rüden Handbewegung ab, als verscheuche er Fliegen. »Wann kommt dieses Reittier aus Diri hier an? Seine Ausbildung wird Monate kosten. Wir haben keine Zeit zu verlieren!«
»Der Drache kommt eine Woche, nachdem die von uns … zugesagten Waren geliefert wurden«, sagte Gen. Sein Blick zuckte über mich, aber er vermochte das in Handschellen gelegte Kind neben mir nicht anzublicken. »Deshalb habe ich euch beide hergeholt …«
»Nein«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich weigere mich.«
»Du verweigerst was?«, höhnte der Drachenmeister.
Ich ohrfeigte ihn. Oh ja. Ich schlug den Mann, der gerade erst dafür gesorgt hatte, dass Savga unverletzt bei mir bleiben konnte. Den Mann, der mich vor kaum einem Jahr ausgepeitscht, mich verspottet und verlangt hatte, dass ich bestialische Perversionen mit einem Drachen beging, der mir riesige Angst eingeflößt und mich vollkommen eingeschüchtert hatte.
Die Abdrücke meiner Finger hoben sich wie geschlagener Eischaum von seiner fleckigen Wange ab. Ich spürte förmlich, wie sich die Blutstropfen in mir und ihm neu anordneten, als meine Handlung das Machtverhältnis zwischen uns veränderte. Sein Gesicht nahm die Farbe schlammigen Wassers an. Ich wollte nicht zulassen, dass er sich in einen Wutanfall hineinsteigerte, deshalb sah ich Gen an und hielt seinen Blick so fest, als würde ich ihm eiserne Fesseln anlegen.
»Ich werde Euch verlassen, diese Brutstätte, mich von Euren Plänen und Träumen abwenden, wenn Ihr mit dem hier weitermacht, Gen. Ihr bringt ausnahmslos alle Rishi zu ihren Clans zurück, verstanden? Wir werden auf eine andere Art und Weise für dieses Reittier bezahlen. Ich werde keinem Drachen beiwohnen, der mit dem Leben von Kindern erworben wurde.«
»Bei der Liebe der Schwingen, Mädchen …«
»Tut es einfach!«
»Wie denn? Ich kann nicht Gold scheißen!«
Ich dachte an all die Kostbarkeiten, an denen ich im Gang vorübergekommen war, an diesen weiß schimmernden Wohlstand, der unantastbar in den geschnitzten Knochen, Steinen und Hörnern der Statuetten eingeschlossen war. Und ich dachte an die weißen, staubbedeckten Villen der Bayen, an denen ich gefesselt auf dem Weg zum Tempel von Xxamer Zu vorbeigeführt worden war.
»Diese Häuser an der Hauptstraße«, sagte ich. »Woraus bestehen sie? Ich meine diesen eierschalenweißen Stein.«
»Die Fassaden sind aus Alabaster, vielleicht auch aus Marmor.« Ein wachsamer Ausdruck trat auf Gens Gesicht. »Ich bin kein Steinmetz. Sicher weiß ich es nicht.«
»Reißt eines dieser Häuser ab.« Meine Worte klangen endgültig. »Verkauft die Einrichtung, und lasst die Fassadensteine zu kostbaren Tiegeln für Salben verarbeiten oder zu Flakons für Duftwasser. Zu Statuetten und Trinkgefäßen und Urnen und Kämmen … welcher Tand auch immer unter den Aristokraten in Liru beliebt ist. Tauscht dies für ein Reittier ein.«
»Dotterhirnige Metze!«, wütete der Drachenmeister neben mir. »Es dauert Monate, so etwas herzustellen …«
Ohne ihn anzusehen, hob ich die Hand und unterbrach seine Tirade. Ich antwortete nur Gen. »Tut es. Tut es, oder Ihr verliert mich.«
»Du forderst mich auf, Nebel mit meinen Händen zu greifen.«
»Nebel besteht aus Wasser. Wasser kann man fassen.«
»Wenn Ghepp zu etwas gezwungen wird, benimmt er sich wie eine ganze Schar störrischer Kinder, nur gepanzert und unangreifbar. Der Mann glaubt ohnehin schon kaum, dass du die Dirwalan Babu bist, und er zaudert, sich gegen den Tempel zu stellen.«
»Tut es, Gen.«
Er schloss die Augen und presste die Fäuste gegen die Stirn. So blieb er lange regungslos stehen. Schließlich sah er mich an.
»Es gibt hier eine Bayen-Familie«, er sprach jedes Wort langsam und bedächtig aus. »Eine, die nicht allzu sehr dagegen protestieren würde, mit viel Pomp an die Küste zu ziehen. Vielleicht findet Malaban Bri für den Herrn dieser Familie eine illustre Position in Liru. Wir könnten ihr Haus abreißen und den Marmor und Alabaster dafür benutzen …«
»Gut.«
»Ghepp wird sich das nicht bieten lassen.«
»Sicher.«
Gen rieb sich die Wangen und wirkte dabei alt und gebrechlich. Aber weil er ein guter Mensch war, weil er das Kind neben mir retten wollte, holte er tief Luft, was ihn weit älter aussehen ließ als selbst seine Verkleidung, und nickte.
»Also gut, Babu.« Er streckte seine breite Hand aus und legte sie auf Savgas Kopf. »So soll es geschehen.«
Aufgrund seiner Stellung als Wai Vaneshor Xxamer Zu, als Erster Kanzler von Lupini Xxamer Zu, konnte Gen die Freilassung aller zusammengetriebenen Rishi veranlassen, ohne zuvor Ghepps Erlaubnis einholen zu müssen.
Eskortiert von zwei von Gens handverlesenen Paras, wurde der Drachenmeister zu den stillgelegten und leeren Reitställen von Xxamer Zu geführt. Er sollte eine Inventur der Ausrüstung durchführen und feststellen, was repariert werden musste. Einer der Paras war der Soldat, der mir bei meiner Gefangennahme im Arbiyesku Gens Unterpfand in die Hand gedrückt hatte.
Ich indes bestand darauf, Gen zu begleiten, wenn er Oblan, Runami und Savga zum Arbiyesku zurückbrachte.
Gen fuhr sich mit seinem rissigen Fingernagel über seine gewaltige Nase. Er wirkte müde und resigniert. »Ja, ja.« Er seufzte. »Wie du willst. Ab auf den Karren mit dir.«
Es gelang ihm, mehrere Karren für unseren Zweck zu beschaffen. Bei den Brutdrachen, die sie zogen, konnte man die Rippen zählen, und ihre Bäuche waren aufgebläht. Wäre ich noch in der Lage gewesen, etwas zu empfinden, hätte ihr Zustand mich erschüttert.
Stattdessen verschloss ich vor ihnen meine Augen, kletterte auf einen Karren und setzte mich neben Runami und Oblan. Savga kuschelte sich auf meinen Schoß. Sie war angespannt vor Erwartung und schnappte förmlich nach Luft. Die Kinder waren alle stumm und atemlos, hofften verzweifelt, dass das, was Gen ihnen versprochen hatte, die Rückkehr zu ihren Zunftclans, wirklich wahr werden würde.
Das erschüttert mich bis heute am meisten: dieses Schweigen verzweifelter Kinder.
Einige der gefangenen Jungen dagegen sprühten förmlich Funken. Nun, da sie ihre Freiheit wiedererlangt hatten, machte sie die Empörung über das, was ihnen widerfahren war, kühn. Sie murrten, sahen sich finster um und verfluchten den Ranon ki Cinai, den Imperator und Lupini Xxamer Zu. Es kümmerte sie nicht, dass dieselben Paras, die sie in die Gefangenschaft geführt hatten, sie auch jetzt mit gezückten Schwertern umringten.
Gen war sich dessen hingegen sehr wohl bewusst. Noch bevor das letzte Kind auf die Karren gestiegen war, schwitzend und zitternd von den Bauchkrämpfen, erhob sich Gen von dem Bock des Karrens, den er fahren würde, und holte tief Luft. »Lupini Xxamer Zu ist ein gerechter Mann!«, dröhnte er. »Ein einfallsreicher Vorsteher. Seine Weigerung, mit Rishi zu handeln, um die Schulden des früheren Vorstehers dieser Brutstätte zu begleichen, hat ihm der Eine Drache in seiner Weisheit eingegeben. Erst vor wenigen Stunden hat Lupini Xxamer Zu eine andere Möglichkeit gefunden, eben diese Schulden zu bezahlen! Ich würde den Zorn eines solch moralischen Mannes nicht herausfordern, es sei denn, ihr wollt ihn dazu bringen, seine Entscheidung zu bereuen und wieder zurückzunehmen!«
Obwohl er die Tonsur und den grauen Bart eines alten Mannes trug, wirkte Gen plötzlich wieder wie der unzähmbare Hüne, der er in Wirklichkeit war, und ich bin davon überzeugt, dass nicht nur ich ihn mir mit zerzausten schwarzen Brauen vorstellte, als er die Jungen einen nach dem anderen ansah.
Seine Rede schüchterte die Jungen ein, und sie verstummten. Unsere Reise begann.
Es war schwül, die Luft war feucht und von Gerüchen geschwängert. Wolken drohten am Horizont; Wolkenbänke in brütendem Grau. Als würde die Sonne ihr Nahen spüren, glühte sie vor Wut. Auf dem Karren wurden die Kinder und ich träge.
Er war klug, der Drachenjünger Gen, wo ich naiv war. Ich hatte Tränen und freudige Wiedervereinigung erwartet. Doch nein. Ärger herrschte vor, viel Ärger, der sich gegen Gen richtete und die Akolythen, die gezwungen worden waren, die anderen Karren zu kutschieren. Es war kein Ärger darüber, dass die Kinder zurückgebracht wurden, oh nein. Es war Ärger darüber, dass sie entführt worden waren, ein scheußlicher Akt, der auch noch so ungeschickt durchgeführt worden war. Es war gut, dass die Paras uns begleiteten. Allein ihre drohenden Schwerter verhinderten, dass Gen und die Akolythen von den Böcken gezerrt und zu Brei geschlagen wurden.
Es war bereits dunkel, als mir der fleischige, ranzige Geruch des Arbiyesku in die Nase stieg. Die Wolken am Horizont waren näher gekommen und hüllten viele der Sterne in undurchdringliches Schwarz. Runami, Savga und Oblan waren ausgetrocknet und schmutzig und hockten zusammengesunken neben mir auf dem Karren.
Unsere Karren rollten auf den Hof des Arbiyesku. Sie alle waren leer, bis auf den, den Gen fuhr, und ihre Achsen quietschten wie Grillen. Wir blieben stehen. Es herrschte tiefste Stille. Neben mir atmete Savga so laut wie ein Blasebalg.
Aus dem Dunkel vor dem Frauenhaus lösten sich Schatten. Weitere Schatten tauchten in den Türen der Lehmziegelhütten auf. Langsam, wie verwahrloste Gespenster, kamen sie näher. Das Licht der Sterne fiel auf sie und erweckte den Eindruck, als träte aus ihrer fleckigen Haut flüssiges Silber aus wie Blut. Zahllose Augen starrten uns an. Wartend.
Heiser und erschöpft wiederholte Gen seine Rede, verkündete die Abneigung des neuen Lupini gegen Menschenhandel und beschwor seine Genialität, andere Mittel gefunden zu haben, um die Schulden des vorigen Vorstehers zu begleichen. Aber während seine Worte heute Morgen noch echt geklungen hatten, wirkten sie jetzt zurechtgelegt und hohl.
Die beiden Jungen des Arbiyesku kletterten langsam von unserem Karren herunter. Ein Para nahm ihnen die Handschellen ab. Einer der Jungen, der höchstens acht Jahre zählte, spie dem Para vor die Füße, drehte sich langsam um und verschmolz mit den Schatten der Wartenden.
Ich stand mühsam auf und half Runami, Oblan und Savga, sich ebenfalls aufzurichten.
Ein Para beugte sich über den Rand des Karrens und löste unsere Fesseln. Sie fielen wie schwarze, zerbrochene Schädel auf den Boden.
Eine Frau in der Menge rief Oblans Namen. Oblan brach in Tränen aus und streckte ihre Arme in das Dunkel hinaus. Ich hob sie auf den Boden, und sie rannte, schwach und mit wackligen Knien, auf einen der Schatten zu. Sie wurde aufgefangen, umarmt, geküsst, umringt, gedrückt und getätschelt. Das Schluchzen von Mutter und Kind, das Murmeln, das Murren, das Weinen von Tanten und Onkeln erklangen in trauriger Freude im Wind.
»Runami! Runami, mein Kind!«
Runami sprang vom Karren, lief rasch zwischen zwei Paras hindurch, die uns flankierten, und war im nächsten Moment wieder mit ihrer Familie vereint.
Erschöpft kletterte ich vom Karren und setzte Savga auf den Boden. Ich barg kurz mein Gesicht an ihrem weichen Hals und sog ihren Duft nach warmem Brot ein. »Geh zu deiner Mutter, Savga.«
Sie blieb neben mir stehen, schwankte vor Erschöpfung und blickte auf die silbrig schimmernden Schatten, die vor uns wogten. Eine unheimliche Stille senkte sich über den Arbiyesku. Alle starrten Savga und mich an. Ihre Augen wirkten wie viele winzige Monde.
Ich schob Savga auf ihre Familie zu.
Sie rief nach ihrer Mutter.
Schweigen antwortete.
Schließlich trat eine Frau vor, eine alte Frau. Tiwana-Tante. »Tansan ist verschwunden. Sie hat ihren Sohn und ihren Gebieter mitgenommen. Meine Schwester ist mit ihnen gegangen. Und Alliak. Sie alle sind verschwunden.«
Ich versuchte ihre ernsten Worte zu begreifen. Tansan war verschwunden? Und Fwipi? Fort?
»Wohin?« Mehr brachte ich nicht heraus.
Tiwana-Tante wandte den Blick ab und zuckte mit den Schultern. »Zu viele Kinder wurden dem Arbiyesku weggenommen. Zu viele Kinder den Kus dieser Brutstätte. Niemand kann ihnen vorwerfen, dass sie weggegangen sind.«
Savga schob ihre Hand in meine. Ich starrte ungläubig, entsetzt auf sie herab. Mit eingefallenen, entzündeten Augen sah sie mich an.
»Ich bin hungrig«, flüsterte sie.
Ich leckte mir meine rissigen Lippen, suchte nach Worten, um ihr zu erklären, was sie zweifellos längst verstanden hatte. Ich hockte mich neben sie und legte ihr beide Hände auf die schmalen Schultern.
»Du hast hier Familie, Savga. Tiwana-Tante. Und Freunde. Oblan, Runami …«
»Du hast den Kanzler dazu gebracht, uns freizulassen. Du wirst meine Mutter finden.« Ihr Blick ließ mich nicht los.
Ich schluckte. »Savga … Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist.«
Sie seufzte, schloss die Augen und lehnte sich an mich. »Trag mich.«
Ich hob sie hoch. Ihre Beine baumelten gegen meine Knie, und ihre kleinen Zehen streiften meine Waden. Sie wog viel mehr, als ich tragen konnte. Ich fragte mich unwillkürlich, wie es mir heute Morgen gelungen war, sie zu schleppen.
Schwankend trat ich einen Schritt vor. Die Reihe der Paras öffnete sich wie ein Tor vor mir. Tiwana-Tante trat mit ausgestreckten Armen auf mich zu, um mir Savga abzunehmen. Die Adern auf ihren runzligen Händen wirkten im Licht des Mondes wie silberne Rinnsale. Als ihre sehnigen Hände Savgas Taille umfassten, wurde das Kind in meinen Armen etwas leichter.
Savga versteifte sich. Und schrie.
Ihr Schrei schien die Nacht aufzureißen wie den Bauch einer schwarzen Dschungelkatze. Mond und Sterne verwandelten sich in blutrote Tropfen, das schwöre ich. Und die gewaltigen schwarzen Wolken, die unaufhaltsam näher krochen, wirkten plötzlich geisterhaft fahl.
Auf uns alle, Tempelakolythen, angeheuerte Söldner, Mütter, Väter, Kinder, fiel die blutige Schuld am Verlust von Savgas Kindheit.
Ich drückte sie an mich, flehte sie an, mit dem Schreien aufzuhören, schloss die Augen vor dem rötlichen Eiter, der aus Mond und Sternen strömte. Ich wiegte sie, schüttelte sie, weinte.
Ganz gleich, was auch geschehen würde, ich würde mich niemals mehr von diesem Kind, diesem einen Kind, abwenden. Niemals.
Ihr Schrei schien nicht zu enden, sondern zu ersterben, als ihre Seele, ihr Herz ausgeblutet war. Erst als es vorbei war, vermochte ich endlich wieder die Augen zu öffnen. Das unirdische, blutrote Licht, das uns alle in Schuld und Scham und herzzerreißenden Verlust getaucht hatte, war so durchscheinend wie Serum geworden. Allmählich drangen die silbrigen Strahlen des Mondes und der Sterne wieder zu uns herab und verwandelten uns erneut in schieferfarbenen, bleiernen lebendigen Stein.
Tiwana-Tante sah mich an und murmelte etwas auf Djimbi. Ich wusste, dass mein Herz bis zu meinem Tod gebunden war, dass sich alles, was ich von diesem Moment an dächte und täte, um dieses Kind in meinen Armen drehen würde.
Ich setzte Savga auf meine Hüfte. Sie umklammerte mich sofort mit ihren Beinen. Mit einem letzten Blick auf den silbergefleckten Clan, in dem meine Tochter ihre Kindheit verbracht hatte, wandte ich mich ab.
Ich war jetzt Mutter.