8

Sobald wir uns dem Tempel Xxamer Zu näherten, schickte Gen die Akolythen und Soldaten voraus zum Gelände der Drachenjünger. Unseren Karren lenkte er durch eine schmale Gasse, die auf beiden Seiten von großen, baufälligen Holzgebäuden gesäumt wurde. In der Dunkelheit wirkten sie wie bloße Fassaden, so als befände sich nichts dahinter. Wie Zeichnungen auf schwarzem Holz.

Ich erinnerte mich daran, wie ich bei Tag durch diese Gasse gegangen war, dachte an die alten Weiber, die mit ihren runzligen, wie angesengte Pilze wirkenden Gesichtern in den Türen dieser Gebäude gesessen hatten und uns mit Blicken gefolgt waren, als sähen sie die Handschrift des aufgebrachten Reinen Drachen.

Vor den Häusern hockten Rishi-Familien, die in der schwülen Nacht über qualmenden Feuerkörben ihre Mahlzeiten kochten. Kinder spielten auf den Straßen. Als wir vorüberfuhren, verstummten die Menschen und schienen mit den Schatten zu verschmelzen. Über uns schoben sich etliche große schwarze Wolken näher heran. Es herrschte ein unangenehmer Druck in der Luft, als würde alles Lebendige langsam und unausweichlich zwischen den dunklen Wolkenbergen und der unnachgiebigen Erdenfaust zerquetscht.

Aus manchen Häusern drang aus den Ritzen zwischen den vom Alter verbogenen Balken Kerzenlicht heraus. Hier und da war durch die Ritzen eine Silhouette zu sehen, die sich abgehackt bewegte. Es waren dies sozusagen gestreifte Blicke auf das Leben.

Gen zügelte unseren lahmen Brutdrachen vor einem dieser baufälligen Häuser. Die Drachenkuh blies Schaum aus dem Maul und schlug mit ihrem knochigen Schwanz. Die rautenförmige Membran am Ende zuckte über meine Zehen und knallte gegen den Karren.

»Wo sind wir hier?«, fragte ich.

»Noua Sor«, antwortete Gen. Die Zone der Heilumschläge. Das sagte mir nichts. Er senkte die Stimme in dem Bewusstsein, dass wir beobachtet und belauscht wurden. »Ich kenne eine der Bewohnerinnen. Ich rede kurz mir ihr, hm? Ich glaube, bei ihr seid ihr beide sicher, du und das Kind. Ja, hier seid ihr in Sicherheit.«

»Ihr bringt uns nicht zu den Stallungen?«

»Zu den Stallungen? Unsinn! Das wäre sinnlos, weil wir erst in einigen Monaten ein Reittier bekommen. Und ich werde besser schlafen, wenn Ghepp nicht weiß, wo du bist. Er wird nicht gerade erfreut sein, dass du den Sklavenhandel in Xxamer Zu unterbinden willst. Verdammt seist du, und verdammt sei auch er.«

Ich hob meine Brauen. »Ihr glaubt, er würde mir etwas antun?«

Gen seufzte erschöpft. »Heb dir diese Diskussion für drinnen auf.« Bevor ich widersprechen konnte, warf er die Zügel zur Seite und sprang vom Kutschbock. Der Karren knarrte und federte zurück, und der Brutdrachen bewegte sich in seinem Geschirr. Gen musste sich ducken, als er durch die grob gezimmerte Tür in das Haus trat. Eine Mischung verschiedener Gerüche waberte aus der Öffnung, bevor er die Tür hinter sich zufallen ließ. Der an Muskat erinnernde Geruch von Yanew-Borke, der schwere Moschusduft von Frettchen und das weiche Aroma von Rosenessenz.

Ein dürrer, einohriger Straßenköter schlich sich heran. Die gegabelte Zunge des Brutdrachen zuckte heraus und zitterte in der Luft. Blitzschnell peitschte er warnend mit dem Schwanz gegen seine schuppige Flanke. Der Knall erschreckte den Hund, und er rannte davon. Einige Kinder näherten sich uns, kamen jedoch nicht zu nah heran. Sie drängten sich ein Stück von dem Brutdrachen entfernt zusammen und glotzten mich an. In der Dunkelheit wirkten die grünen Flecken auf ihrer Haut wie große Placken nassen Schleims.

Die Tür der Hütte öffnete sich erneut knarrend. Gen trat heraus.

»Es ist alles arrangiert. Du wirst hier wohnen, bis ich die Lage mit …« Er verstummte, als ihm die lauschende Gruppe von Kindern auffiel. Er deutete mit einem Nicken auf Savga. »Ich hebe sie herunter, oder?«

Sofort versteifte sich Savga. Sie hatte gar nicht geschlafen, sondern nur so getan, als schliefe sie.

»Ich trage sie schon.« Langsam ließ ich sie an meinen Schenkeln hinabgleiten, bis sie ausgestreckt auf der Bank lag. Die verschwitzte Stelle, an der sie ihre heiße Wange an meinen Körper gedrückt hatte, fühlte sich plötzlich kalt an. Ich hielt mich an dem glattpolierten Holz des Karrens fest und kletterte langsam hinunter. Ich traute meinen Beinen nicht ganz zu, mein Gewicht zu tragen. Gen stützte mich helfend am Ellbogen, als ich einen Moment schwankend auf dem Boden stand.

Ohne ein Wort stürzte sich Savga in meine Arme und schien mit mir zu verschmelzen.

Eigentlich war sie zu schwer, als dass ich sie hätte tragen können, aber ich würde nie mehr versuchen, diese Last einem anderen aufzubürden. Während ich ihren kleinen Körper an mich drückte, stolperte ich hinter Gen her, der sich umdrehte und die schmale Holztür der Hütte aufstieß.

Als ich in das dämmrige Innere trat, überfielen mich dieselben Gerüche, die nach draußen gedrungen waren, nur wesentlich intensiver: Moschus, Yanew, Rosenöl, Schwefel, fauliges Holz, fettige Schlafmatten, Schweiß und noch etwas, was wie pürierter süßer Mais roch. Eine aufgebockte, grobe Holzplatte erfüllte praktisch den ganzen Raum. Auf ihr stand eine Talgkerze, von der schwarzer Ruß in die Höhe stieg. Zwei primitive Schränke standen an einem Ende des Tisches Wache, aneinandergelehnt wie zwei fette alte Frauen, die sich Geheimnisse zutuschelten. An dem vor uns liegenden Ende des Tisches stand ein altes Weib in einem zerfransten Yungshmi, dem üblichen Gewand der Rishi-Frauen in Brutstätte Xxamer Zu. Die nackten Beine der Frau waren so dünn, dass ihre Knie geschwollen wirkten. Hinter ihr ließ ein tintenschwarzes Rechteck vermuten, dass noch ein weiterer Raum vorhanden war.

»Wo ist der Rest Eurer Familie?«, erkundigte sich Gen.

»Sie durchstreifen den Dschungel«, erwiderte das Weib. »Sie kommen in zwei Tagen wieder, vielleicht aber auch erst in acht.«

Gen nickte, als wüsste er Bescheid. »Verschwiegenheit und Klugheit, beides ist hier vonnöten, verstanden?«

Das Weib schmatzte mit ihren zahnlosen, rosinenroten Kiefern. »Unser Haus ist verschwiegen, heho! Hier gibt es keine geschwätzigen Lippen, die dem Wind ihr Lied singen, oh nein.« Als sie an den Tisch trat und die Kerze nahm, knackten ihre Gelenke. »Folgt mir.«

Gen winkte mich weiter. Ich schob Savga auf meine Hüfte, um ihr Gewicht besser ausbalancieren zu können, und folgte der Frau. Gen trottete hinter mir her wie ein großer Keiler, den man in einen Weidenkäfig gesperrt hatte.

Das Weib führte uns eine steile, schmale Treppe hinauf, die bei jedem Schritt schwankte und wackelte. Sie endete in einem Podest an der Rückwand des Gebäudes. Links und rechts des Podests lag je ein winziger Raum. In Ermangelung von Türen hingen lange Streifen von Rindentuch vor den beiden Eingängen. Die Alte drehte sich nach rechts und schob die Borkenstreifen beiseite. Sie rutschten klappernd über die Stange, an der sie wie die Knochen eines Gyin-Gyin-Klangspiels aufgehängt waren.

»Das ist für Euch, das ganze Zimmer.« Mit einer großen Geste ihrer gichtigen Hand wies sie durch das Zimmer, das kaum größer war als ein Verschlag in einer Paarungshütte, etwa einen Meter fünfzig mal drei Meter, aber ein mit einem Laden verschlossenes Fenster und einen Nachttopf aufwies.

Das Kerzenlicht schillerte auf den kahlen Brettern der Wand, zwischen denen große Lücken klafften. Ich stellte mir vor, dass in den Ritzen Spinnen hausten.

Eine Wasserurne stand auf der Schlafmatte, die ausgerollt auf dem Boden lag. Ein halber Kugelnuss-Kürbis, von jahrelanger Nutzung blank poliert, stand daneben. Auf dem Boden befanden sich in einer Schale eine Kadoob-Knolle, eine Scheibe Paak und eine winzige Zitronenscheibe.

Gen spähte über meine Schulter in den Raum. »Sie brauchen mehr zu essen als das, Blut-Blut! Für das, was ich zahle, könnt Ihr es ihnen besorgen. Dies und zehnmal mehr!«

Das Weib presste die Kiefer zusammen und nickte brüsk.

»Lasst die Kerze hier«, befahl Gen. »Wir brauchen sie noch eine Weile. Bringt das Essen später hoch, heho!«

Die Alte hielt mir die Talgkerze hin. Heißes Wachs tropfte auf mein Handgelenk. Ich hielt die Kerze von Savga weg und betrat den winzigen Raum. Gen drückte sich auf dem schmalen Treppenabsatz an dem Weib vorbei und folgte mir. Dann zog er die Borkenstreifen hinter sich zu.

Wir warteten, reglos und stumm, während wir hörten, wie die Frau die Treppe hinabstieg.

Dann nahm mir Gen die Kerze aus der Hand, hockte sich hin und stellte sie auf den Boden. Er verschränkte die Finger vor seinem Bart, der wie nasses Zinn in dem dämmrigen Licht glänzte.

Ich setzte Savga ab und ließ mich dann langsam auf den Boden herab, Gen gegenüber. Meine Beine zitterten vor Erschöpfung. Gen umhüllte der weiche, pralle Geruch von Wohlstand: gewaschene Kleidung, milchige Hautcreme, gebratenes Fleisch und steifes, neues Leder.

Savga stahl sich auf meinen Schoß. Sie blieb angespannt und ruhig sitzen, das Gesicht an meine Brust gepresst, und erschauerte dann einmal kurz. Mir schoss das Bild eines Blattes durch den Kopf, das erzittert, nachdem ein Regentropfen es getroffen hat.

»Du brauchst einige Dinge, Babu, wenn du hier eine Weile leben willst«, sagte Gen. »Kleidung, vielleicht Cremes …?«

Ich dachte einen Moment nach. »Schriftrollen«, antwortete ich dann ruhig. »Aus der Bibliothek der Drachenjünger. Über die Geschichte von Xxamer Zu.«

Auf Gens Miene zeichneten sich rasch nacheinander Überraschung, Zögern und dann Besorgnis ab.

»Ich werde sie verstecken. Keiner wird davon erfahren.«

Er nickte bedächtig.

»Und Ihr sucht nach ihnen, ja? Ihr lasst die Straßen kontrollieren, die von Xxamer Zu wegführen?« Ich sprach von Tansan, ihrem Gebieter, ihrem kleinen Sohn und ihrer Mutter Fwipi.

»Das ist zwar sinnlos, aber ich werde es tun. Es ist vergebliche Mühe, als wollte man versuchen, den Wind zu fangen.«

Mir war klar, dass er vermutlich recht hatte. Savgas Familie waren Djimbi. Sie würden keinerlei Spuren in Steppe und Dschungel hinterlassen.

»Wir könnten noch eine Schlafmatte gebrauchen«, fuhr ich dann fort, »sowie Nadel und Faden, damit ich Savgas Yungshmi flicken kann.«

»Ich besorge ihr einen neuen.«

»Nein. Ich will nicht, dass sie sich von den anderen Kindern hier unterscheidet.«

Er akzeptierte meine Klugheit mit einem Nicken.

Wir betrachteten einander eine Weile, während aus unseren Gesichtern im Kerzenlicht tiefe Schatten flackerten.

»Erzählt mir von Ghepp«, sagte ich schließlich.

Er seufzte und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Das hatte er heute sehr häufig getan, so als würden die Sorgen seine silberbärtigen Wangen in schweren Schichten bedecken und ihn zu zerquetschen drohen. Im Licht der Kerze flackerten die Altersflecken auf seinem geschorenen Schädel.

»Ghepp muss mit großer Vorsicht behandelt werden«, murmelte er zwischen seinen dicken Fingern. »Wie Glas, heho.«

»Was soll das heißen?«

Er ließ die Hände sinken und sah mich finster an. »Das bedeutet, er will von dir das Geheimnis erfahren, wie man Bullen in Gefangenschaft züchtet. Deshalb ist er bereit, uns zu dulden. Bis zu einem gewissen Punkt. Aber er zweifelt an deiner Fähigkeit, tatsächlich etwas von einem Drachen erfahren zu können. Er hat Zweifel, viele Zweifel, die wie Fledermäuse, Schwalben und Tauben in ihm herumflattern.«

»Das hat er Euch erzählt?«

»Nicht mit so vielen Worten.« Gen runzelte die Stirn. »Sieh ihn dir an, Babu, sieh, wer er ist, nicht mit den Augen, nein, sondern mit deinem Verstand! Er hat sein Leben in Kratts Schatten verbracht, in dem Wissen, dass aus einer Laune seines Vaters heraus ein erstgeborener Bankert Brut Re erben würde und nicht er. Er hat mit dieser Schande leben müssen, während Kratt sein Leben mit der Vorbereitung auf Amt und Würden verbrachte. Mentoren, Schriftrollen und Balladen waren Ghepps Lehrer im Frauenflügel von Roshu-Lupini Res Anwesen. Kratt dagegen … Ha! Als Junge wurde er von Schwertmeistern unterwiesen, von Kanzlern, Drachenmeistern! Diese Leute waren aus anderem Holz geschnitzt. Man muss sehr vorsichtig vorgehen, wenn man mit einem Mann wie Ghepp zu tun hat, einem Mann, der Furcht vor Größe hat, aber dennoch davon träumt.«

»Kennt er Eure Pläne für eine Rebellion?«

Gen nickte. »Es sind nicht nur meine Pläne. Dahinter stehen noch andere. Ausländische Immigranten, Handelsbarone, Roshus, die aufs Altenteil geschoben wurden, Paras, die unehrenhaft aus der Armee des Imperators entlassen wurden … Sie alle planen die Entkolonialisierung und träumen davon. Glaubst du, ich hätte Ghepp erfolgreich dazu bringen können, eine solch riskante Wette einzugehen, wenn ich allein gehandelt hätte? Ebenso gut hätte ich versuchen können, einen Wurm dazu zu bringen, einen Vogel anzugreifen! Die Rebellion reicht viel weiter, als du ahnst.«

Doch in diesem Moment verblasste das Ausmaß von Gens aufrührerischem Netzwerk vor der bitteren Wahrheit, die mir unaufhaltsam dämmerte.

»Das hier ist nicht meine Brutstätte, habe ich recht?«, fragte ich gelassen.

Gen betrachtete mich mit Augen, die schimmerten wie poliertes Teakholz. Dann legte er sanft seine große Hand auf meine. Sie war warm und schwer.

»Als du deine Idee ausgesprochen hast, diese Brutstätte Ghepp in die Hände zu spielen, hat sich ein dichter Nebel gelichtet, der mir vor Augen schwebte. Ich sah, dass diese Brutstätte der Schlüssel für die Rebellion wäre. Wenn wir dir eine Drachenkuh besorgen, deren Giftdrüsen noch intakt sind, wenn du während des bestialischen Ritus die Geheimnisse der Bullen erfährst, dann wird auch alles andere an seinen Platz rücken, heho!«

Ich dachte an Tansan. »Habt Ihr von den Myazedo gehört?«

Er zog seine Hand zurück. »Halt dich davon fern, Babu.«

»Warum?«

»Es sind Banditen, die Krieg führen. Menschen, die Aristokraten ausplündern und sie vergewaltigen. So etwas trägt niemals zum Erfolg einer Rebellion bei, Blut-Blut.«

Ich dachte an all die leidenschaftlichen Djimbi, die sich auf dem Hof des Gerberclans versammelt hatten. Sie hatten davon gesprochen, Armut und Hunger zu beenden, nicht davon, zu plündern und zu vergewaltigen. Durch seine Beziehungen zu den politischen Machthabern und zur Elite war Gens Blick verzerrt.

Vielleicht jedoch auch nicht.

Was wusste ich denn schon?

Jetzt überfiel mich das ganze Gewicht der Ereignisse dieses Tages, und mir wurde deutlich, wie erschöpft ich war. »Ich werde mich von ihnen fernhalten.« Ich sprach diese Lüge ohne Schwierigkeiten aus, wenngleich auch leise, denn ich glaubte in meiner Mattigkeit selbst daran.

Gen hob die Talgkerze hoch und spielte damit, drückte seine Daumen in das weiche Wachs und hinterließ halbmondförmige Eindrücke. »Du hast Ghepp mit deiner Forderung, den Sklavenhandel zu unterbinden, keinen Gefallen getan, weißt du. Die Rishi werden misstrauisch sein, und wenn dieses Misstrauen endet, werden sie Forderungen stellen. Und was die Bayen von Xxamer Zu angeht, sie werden von dieser bizarren Entscheidung verwirrt sein. Beunruhigt. Die Sache stinkt zum Himmel.«

Er stellte die Kerze mit finsterer Miene wieder hin, und wir sahen uns schweigend an. Ich deutete auf Gens Haut, die verblüffend fa-pim war. »Wie macht Ihr das?«

Er stieß gereizt die Luft aus. »Die Wolke fragt den Regen, wie ein Monsun gemacht wird! Ich benutze dieselbe Djimbi-Kosmetik wie du, heho!«

Ich runzelte die Stirn. »Ich verstehe Euch nicht …«

Er starrte mich an, und ein Ausdruck des Staunens überzog seine scharfen, falkenartigen Gesichtszüge. »Kann es sein, dass sie es nicht weiß? Weiß der Pundar nicht, wann sich die Pigmente auf seiner Haut verändern, damit er mit seiner Umgebung verschmilzt?«

»Sprecht nicht so. Ihr klingt dann so verwirrt.«

Gen hob die Brauen und griff nach meiner rechten Hand. Savga zuckte vor ihm zurück und drückte sich an mich. Gen ignorierte ihre Furcht und drehte meine Hand langsam in die eine, dann in die andere Richtung.

»Sag mir, Babu«, murmelte er. »Sag mir, welche Farbe deine Haut hat.«

»Aosogi«, antwortete ich. Ich fühlte mich beklommen und benutzte absichtlich den beleidigenden Ausdruck des Archipels für schlecht gegerbte Haut. »Braun.«

Er streichelte mit seinem großen Daumen meine Hand. »Aosogi«, murmelte er. »Braun.«

Die Kerze schwelte, und ein schwarzer Rußfaden stieg empor.

Mein Pulsschlag beschleunigte sich, als ich in seine Augen starrte, dunkle Becken, in deren schlammigen Tiefen sich verstecktes Leben zu regen schien.

»Sag mir, Babu«, fuhr er leise fort, »wie die wahre Farbe deiner Haut aussieht. Du hast gesagt, du vertraust mir. Wenn das stimmt, dann sag jetzt die Wahrheit.«

Ich entzog ihm meine Hand. »Redet nicht so dotterhirnig. Ihr seht doch selbst, welche Farbe sie hat. Aosogi.«

Er schüttelte verneinend den Kopf.

Mein Mund wurde trocken. »Doch.«

»Nein, Babu. Deine Haut ist gefleckt. Fleckbäuchig. So gefleckt wie das Blut, das in deinen Adern fließt.«

Mein Herz blieb stehen. Schlug abrupt weiter. Ich schüttelte den Kopf, versuchte zu sprechen. Wollte Wasser trinken.

Dann erinnerte ich mich. Ich erinnerte mich an die Hautfarbe meiner Mutter, die in meiner ganzen Kindheit ebenso aosogi gewesen war wie meine. Erinnerte mich an meine Halbschwester, Waivia, die genauso aussah. Erinnerte mich daran, wie ich die Beleidigungen abgetan hatte, die ich lauschend einige Erwachsene meines Geburtsclans hatte äußern hören und die meiner hochmütigen, lasziven Schwester gegolten hatten. Ich wusste noch, wie ich sie als die typischen, grundlosen Beleidigungen abgetan hatte, mit denen man seine Widersacher beschimpfte: Fleckbauch, Dschungel-Ausgeburt, Drachenhure.

Dann fiel mir wieder ein, wie sich meine Mutter, als ich neun Jahre alt war, darüber aufgeregt hatte, dass ich durch die Schuld des Komikons von Brut Re dem Drachengift ausgesetzt worden war. In einem Wutanfall hatte sie verraten, dass sie von derselben Art wie der Drachenmeister war: eine Djimbi. Ihre Worte zogen mir einen Schleier von den Augen fort, von dessen Existenz ich nichts geahnt hatte, und ich hatte meine Mutter auf einmal als das gesehen, was sie war: ein Fleckbauch. Eine Djimbi Sha.

Nur wenige Monate später hatte ein ähnlicher Wutanfall Waivias mir einen anderen Zauber entrissen, der mir seit meiner Geburt vor den Augen gelegen hatte, und ich hatte auch sie gesehen, wie sie wirklich war. Djimbi Sha. Ein Fleckbauch.

Nur ich war keiner.

Hatte ich gedacht.

»Es ist einer der wirksamsten Zauber, die über dir liegen. Wie ein Schutzschild, Babu! Er ist so mächtig, dass er dich daran hindert, wirklich du selbst zu sein. Dein Mondblut fließt nicht, stimmt’s? Verdammt, es stimmt. So mächtig ist dieser Zauber. Du wirst niemals Kinder gebären, solange er über dir liegt. Und du wusstest es nicht einmal, Mädchen, stimmt’s?«

Ich konnte das ›nein‹ einfach nicht aussprechen, das in meiner Kehle festzustecken schien.

»Die Person, die dich mit diesem Zauber belegt hat, musste ihn üben und perfektionieren, bevor sie ein so ausgezeichnetes Ergebnis erzielen konnte. Schließlich ist das nicht so einfach, wie einen Topf Farbe anzumischen, heho! Vor Jahren habe ich die Haut dreier Makmakis von Brut Re verdorben, als ich versuchte, eben diesen Farbton zu erzielen. Es ist nur dem Geld zu verdanken, mit dem ich sie entschädigt habe, und den Gewändern, die diese Diener der Toten tragen, dass sie ihr Leben weiterführen konnten, ohne wegen der unmöglichen Färbung ihrer Haut ausgestoßen zu werden, die ich verursacht hatte.«

»Ich bin keine Dj…«

Gen reagierte blitzschnell und drückte mir seine große Hand auf den Mund. Savga presste sich mit einem leisen Schrei noch dichter an mich.

»Sprich das Wort nicht aus!«, befahl Gen. »Es wird die Fasern des magischen Netzes schwächen, das sich um dich schlingt.«

Ich klammerte mich ebenso an Savga, wie das Mädchen mich umklammerte. Sie hechelte an meiner Brust wie ein verängstigtes Kätzchen.

Langsam ließ Gen die Hand von meinem Mund sinken und hockte sich wieder hin. Ich konnte auf meinen Lippen das bittere Weihrauchöl schmecken, an der Stelle, wo er mich berührt hatte.

Schließlich bemerkte ich, wie fest ich Savga hielt; meine Fingernägel gruben sich in die weiche Haut ihrer Oberarme. Ich ließ sie los. Schluckte. »Aber … wie? Wie könnt Ihr sehen, was ich nicht sehe?«

»Ich habe meine Mittel und Wege.«

»Und andere?«

Er tat diese Möglichkeit mit einem verächtlichen Schnauben ab. »Du brauchst dir deshalb keine Sorgen zu machen, heho! Das Netz, das um dich geknüpft wurde, ist sehr stark. Es reicht weit über deine Hautfarbe hinaus. Dein Wesen selbst wurde mit dem Zauber verwoben. Dein Geruch, die Flecken, die Fältchen und der Geschmack deiner Haut, all das wurde verborgen. Selbst jemand, der sich mit den Djimbi-Gebräuchen gut auskennt, hätte Schwierigkeiten, dich als das zu enttarnen, was du bist. Wenn ich nicht mein halbes Leben nach dir gesucht hätte, hätte selbst ich dich nicht als das erkannt, was du bist!«

Ich starrte auf meine Hände, die mir so vertraut und dennoch auf einmal so fremd vorkamen. »Und was bin ich?«

»Die Dirwalan Babu«, antwortete Gen. »Die Tochter des Himmelswächters. Und dazu eine Saroon

Ich hob den Kopf.

Erneut hatte er die Finger unter der perfekt geformten Spitze seines gestutzten Bartes verschränkt. »Du bist das Ergebnis der Paarung zwischen einer Munano, einer halbblütigen Djimbi, mit einem Fa-pim-Mann.«

»Mein Vater war kein Fa-pim!«

»Kein Ludo Fa-Pim, das nicht, nein. Kein Grundbesitzer von drachengesegnetem reinem Blut. Aber was die Vererbung angeht, betrachtet der Imperator jeden, der von den Bewohnern des Archipels abstammt und nicht von Djimbiblut verseucht ist, als Fa-pim. Das ist die Wahrheit. Nur die Fleckbäuche sind Clachio.«

Clachio. Abschaum, der ausradiert werden muss. Eine heilige Frau hatte vor einem Jahrzehnt diesen Ausdruck benutzt, bevor sie meine Weiblichkeit weggeschnitten hatte.

Seine Worte glitten in meinem Inneren herum wie die Rückenflosse eines Haifischs, glatt, schnell und verheerend. »Munano. Saroon. Ich verstehe das alles nicht.«

»Es gab nur sehr wenige Djimbi in Brut Re. Du hast solche Worte noch nicht gehört.«

»Nein«, stimmte ich ihm müde zu.

»In Brut Re dominiert das Blut des Archipels. Es trägt all die vielen Farbschattierungen der zahllosen Inselvölker mit sich, welche der Imperator im Lauf der Jahrhunderte erobert hat. Aosogi sind das Ergebnis von Paarungen zwischen den Ureinwohnern von Mes und seinen Fa-Pim-Eroberern.«

»Mes …?«, fragte ich benommen.

»Die zweitkleinste Insel des Archipels, in der Sprache des Imperators bekannt als Lud y Auk.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Kopf fühlte sich so geschwollen und aufgeladen an wie die Regenwolken, die sich draußen türmten.

Gen wiegte sich hin und her. »Ich sollte dich jetzt verlassen, Babu. Ich werde Ghepp eine Menge erklären müssen. Das hier ist ein verdammtes, stinkendes Durcheinander, das ist es.«

Er stand auf, ein Turm aus roter Wildseide. Der rauschende Windzug seiner Gewänder ließ die Kerzenflamme tanzen. Einen Moment hatte ich das Gefühl, ich wäre in eine blutrote Zisterne gestürzt.

Gen legte seine breite Hand sanft und doch fest auf meinen Kopf. Dann verflog die Illusion.

»Friede, Babu. Saroon, Munano, das sind nur Worte.«

Das stimmte jedoch nicht. Es waren Instrumente, Mittel der Kontrolle, der Unterwerfung.

Man weiß nie, was Freiheit bedeutet, bis man sie verliert.

 

In dieser Nacht träumte ich.

Es war ein Traum mit nur wenigen Bildern, die undeutlich und verschwommen waren, so dicht wie Lehm und so kalt wie Schlamm. Raben kreischten in meinen Träumen, und aus einem weißen Himmelsmeer explodierte Donner. Waivia stand vor mir. Der schwarze Saft zerstoßener Shii-Kerne lief ihr über die Haare bis auf die Arme hinab. Sie selbst hatte die Hautfarbe eines Aaswolfs: teerschwarz.

Neben ihr stand Mutter. Ihre Augenhöhlen waren leer. Ihr Mund stand klaffend offen, und ich wusste, auch ohne dass ich es hörte, dass sie nach Waivia schrie, ohne zu merken, dass meine Schwester neben ihr stand.

Als ich erwachte, hatte ich mein Gesicht auf Savgas Scheitel gepresst und ihr Haar in meinem Mund.

Ich würgte, stieß mich von ihr ab und setzte mich auf. In meinem Kopf rauschte das Blut, und ich fühlte mich wie eine zerquetschte Melone. Zitternd strich ich mir über das Gesicht.

Draußen schien der dunkle Himmel unter dem Gewicht der gereizten Wolken zu ächzen.

Ich starrte auf die groben Wände, die Unebenheiten, die Maserung und die Splitter, die in der Dämmerung verschmolzen. Mein Herz schlug unregelmäßig. In der Luft hing der Geruch von Schweiß und ungewaschener Kleidung, fauligen Zähnen und gärendem Getreide.

Ich dachte an meinen Traum und wusste, warum der Geist meiner Mutter mich seit ihrem Tod verfolgt und mich bedrängt hatte, Waivia aufzuspüren.

Dein Wesen selbst wurde mit dem Zauber verwoben. Dein Geruch, die Flecken, die Fältchen und der Geschmack deiner Haut, all das wurde verborgen, hatte Gen über den Zauber gesagt, der mich verschleierte. Und jetzt wusste ich es: Waivia hatte sich vor unserer Mutter versteckt mittels desselben Pigmentierungszaubers, der meine wahre Identität vor Fremden verbarg. Mutter hatte den Zauber selbst um mich gelegt und mich deshalb aufspüren können, als sie ein Geist geworden war. Waivia hatte den ihren selbst gewirkt, nachdem sie an die Glasspinner verkauft worden war, wovon Mutter nichts gewusst hatte.

Es donnerte, und die Ziegel auf dem Dach klapperten.

Ich erinnerte mich sehr lebhaft daran, wie Waivia ausgesehen hatte, als ich sie in meiner Kindheit das letzte Mal gesehen hatte: größer und schlanker, als wäre sie gestreckt worden und könnte sich nur aufrecht halten, indem sie ihre Schultern straffte und sehr vorsichtig und exakt einen Fuß vor den anderen setzte. Ihre Arme waren von blauen Flecken übersät. Ihre Oberlippe war aufgeplatzt und blutig, beide Augen zugeschwollen und dunkelblau verquollen. Sie war mehrmals als Sexsklavin missbraucht worden.

Das hat mir gerade noch gefehlt, als Bastard einer Djimbi-Hure verschrien zu werden!, hatte sie gebrüllt, bevor sie Mutter und ihre eigenen Djimbi-Wurzeln aus ihrem Leben entfernte, um sich, so gut sie konnte, vor der harten Realität ihrer Zukunft zu schützen. Danach musste Waivia Mutters Djimbi-Künste benutzt haben, um sich zu verbergen. Um sicherzustellen, dass Mutter sie nicht finden konnte und andere in ihr eine Fa-Pim sahen, damit sie ihr den Respekt entgegenbrachten, den eine Kiyu normalerweise nicht erhielt.

Das war durchaus machbar. Waivia war ein außerordentlich kluges Kind gewesen, hatte schnell gelernt und bei allem, was sie anpackte, einzigartige Geschicklichkeit an den Tag gelegt. Angesichts ihrer Isoliertheit im Danku und der Feindseligkeit, mit der man ihr, diesem viel zu klugen fleckbäuchigen Bastard von Xxamer Zu, begegnet war, zweifelte ich nicht im Geringsten daran, dass Mutter Waivia in ihrer Kindheit alles beigebracht hatte, was sie über DjimbiMagie wusste. Das hatte ein enges Band zwischen ihnen geknüpft und Waivia eine Waffe in die Hand gegeben, die sie für ihr Überleben einsetzen konnte. Eine Waffe, die sie am Ende gegen Mutter gerichtet hatte, in ihrem Verlangen, ihre Djimbi-Herkunft abzuschütteln.

Ich war aufgestanden, aufgeregt von dieser Offenbarung.

Mutter hatte mich in der Arena meinem Schicksal überlassen, wohingegen sie zuvor immer zu meiner Rettung herbeigeeilt war, in Gestalt eines Himmelswächters, damit ich einen weiteren Tag lebte, um Waivia zu suchen. In der Arena hatte ich Waivia selbst gesehen, und mir war klar geworden, dass Mutter mir nicht länger zu Hilfe kommen würde, denn sie hatte meine so lange verschollene Halbschwester gefunden und brauchte mich jetzt nicht mehr.

Wai-Ebani Bayen, hatte Waivia zu mir gesagt, als ich neun Jahre alt gewesen war. Die berühmteste Lustspenderin eines Ersten Bürgers. Das werde ich sein.

Sie hatte immer geglaubt, dass sie eines Tages Kratts Lustspenderin sein würde. Mit ihrer bezaubernden Schönheit und ihrer magiegewirkten Fa-pim-Haut hatte sie ihr ehrgeiziges Ziel erreicht. Und gab es eine bessere Möglichkeit für eine Wai-Ebani, ihre prominente Stellung zu behalten, als einen Sohn zu gebären?

Waivia trug Kratts Kind unter dem Herzen.

Ich hörte Gens Stimme: Dein Mondblut fließt nicht, stimmt’s? So mächtig ist dieser Zauber. Du wirst niemals Kinder gebären, solange er über dir liegt.

Waivia hatte den Bann, den sie um sich gelegt hatte, selbst aufgehoben, um empfangen zu können; so hatte Mutter sie endlich finden können. Was kümmerte Waivia ihre Djimbi-Herkunft noch, jetzt, wo sie Kratts Sohn im Bauch hatte und einen Geist in Gestalt eines Himmelswächters, der auf ihren Befehl hörte? Was kümmerte Kratt Waivias wahre Hautfarbe, angesichts dieser beiden Dinge?

Der Donner rollte erneut, trocken, wütend, grollend in seiner Ohnmacht. Ich zitterte am ganzen Körper und presste eine Faust gegen meine Brust. Der schwache Donner meines eigenen Herzens wirkte dagegen fast wahnsinnig tollkühn.

Ich öffnete den Riegel des Fensterladens. Sofort packte eine Windbö den Laden, riss ihn auf und knallte ihn gegen die Außenwand. Ich beugte mich vor, um den Laden zu ergreifen und schrammte dabei mit meinen Rippen über den Fenstersims. Der Wind peitschte mein Haar gegen meine Wangen und in meine Augen. Er war so warm wie sonnenüberströmtes Gras in der Dämmerung. Ein Wind, der über Tausende von Meilen hinweggefegt war.

Ob Waivia vielleicht wegen des Gewichts des Kindes in ihrem Leib nicht schlafen konnte und dem Rauschen dieses Windes lauschte, seinen salzigen Ärger spürte? Ich fragte mich, ob das Baby in ihr bei jedem Donnerschlag erschrak.

Und ich überlegte, ob dieses Kind als zweiter Sohn des Lupini einer Brutstätte wohl eine Chance hatte, einen Drachensitz zu erben, ungeachtet seiner Hautfarbe.

Ich Dummkopf.

Waivia würde ihre DjimbiMagie an diesem Kind wirken. Das Baby würde fa-pim sein, würde eine Haut haben, die so makellos und elfenbeinfarben sein würde wie die des Imperators, weil Waivia natürlich wollte, dass ihr Sohn der Vorsteher eines Eier produzierenden Drachensitzes würde. Allerdings bezweifelte ich, dass sie sich mit einer Brutstätte zufriedengeben würde. Waivia war sehr ehrgeizig.

Sie war jemand, das wurde mir in diesem Moment klar, den ich fast ebenso fürchtete wie Kratt.

 

Savga stöhnte oft erbärmlich in den letzten Stunden dieser Nacht. Es waren lange Seufzer, die sie im Schlaf ausstieß. Ich streichelte ihre dünnen Ärmchen, hielt ihre schlanken Handgelenke und drückte meine Lippen auf ihre verschwitzte Stirn, während der Donner draußen den endlosen Himmel erschütterte.

Schließlich dämmerte der Morgen, und mit ihm kamen die Geräusche von nackten Füßen, die die Stufen hinuntertrampelten. Unten herrschte geschäftiges Treiben. Türangeln knarrten. Dann war wieder alles still. Ich schlang beschützend einen Arm um Savgas Taille und döste wieder ein.

Das Rumpeln von Karrenrädern und das Quietschen einer rostigen Achse weckte mich eine Weile später. In unserem Raum war es fast unerträglich stickig. Benommen vor Erschöpfung trank ich einen Schluck Wasser aus der Urne, erhob mich mühsam von der Matte und versuchte ungeschickt, die Fensterläden zu öffnen. Schließlich stieß ich sie auf. Am Himmel hingen dicke Wolken wie aus geronnener Milch. Es war feucht.

Schräg gegenüber von unserem Haus stand auf der anderen Straßenseite eine Rikscha vor einer Hütte. Der fleckbäuchige Jugendliche, der sie gezogen hatte, setzte sie ab, stützte die Hände auf die Knie und hustete sich beinah die Lunge aus dem Leib.

Zwei Bayen-Damen in bunten Bitoos stiegen aus der Rikscha. Sie hatten beide Sonnenschirme in der Hand, die sie bis zu den Schultern verdeckten. Einer hatte die grüne Farbe eines wütenden Chamäleons, der andere das dunkle Orange eines reifen Kürbisses. Die Bitoos der Frauen waren mit seidenen Fäden in passenden Farben durchwirkt, die sich vom Saum her die Bitoos emporwanden und unter den Sonnenschirmen verschwanden wie Baumranken. Die beiden Frauen gingen in die Hütte, ohne ihre Sonnenschirme zuzuklappen.

Ich wandte mich vom Fenster ab und sah zu Savga hinüber. Ihre schweißnassen Locken klebten an ihrer Stirn, ihre Wangen waren gerötet. Ihre eingefallenen Augen wirkten entzündet, selbst im Schlaf. Der Knoten ihres schmutzigen Yungshmis hatte sich im Schlaf gelöst, und das Gewand schlang sich um ihren Oberkörper wie eine Schlange, die versuchte, eine viel zu große Mahlzeit zu verschlingen.

Während wir geschlafen hatten, hatte jemand einen kleinen Berg pflaumenfarbenen Tuchs in unseren Raum geschoben. Ich bückte mich, hob den verschlissenen Stoff auf und schüttelte ihn aus. Es waren zwei Yungshmis, zerknittert und durchdrungen von dem unverkennbaren, an Muskat und Zedern erinnernden Duft von Yanew-Borke.

Ich streifte meinen schmutzigen Bitoo ab, befeuchtete die sauberste Ecke mit etwas Wasser aus der Urne und wusch mich. Dann schlang ich einen der Yungshmis um meinen Oberköper und zwischen meinen Beinen hindurch und knotete ihn auf dem Rücken fest, wie ich es bei den Frauen im Arbiyesku beobachtet hatte. Mit meinen entblößten Armen und Beinen kam ich mir halb nackt vor. Aber sauber.

Savga schreckte mit einem Ruck hoch und schlug um sich, als würde sie gegen einen unsichtbaren Angreifer kämpfen.

»Savga, schhh, leise. Ich bin ja da!« Sie starrte mich an, keuchend und zitternd. »Ich bin hier«, wiederholte ich und streckte langsam meine Arme aus. Ebenso langsam kroch sie hinein.

Sie lehnte sich an mich, ihre kleinen Rippen hoben und senkten sich angestrengt, und ich legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ich glättete ihr Haar, das noch vom Schlaf am Hinterkopf klebte, und wiegte sie sacht. Dann wappnete ich mich gegen ihr Schluchzen.

Aber sie weinte nicht.

Es war bestürzend. Wie das Schweigen, das einem Schrei folgt, der die Luft zerrissen hat.

Voller Unbehagen sprach ich in die weiche Muschel ihres Ohrs. »Du bist hungrig, nicht wahr? Wir waschen uns ein bisschen und gehen dann nach unten, etwas essen. Hmm?«

Ich bekam keine Antwort.

Ich schob sie ein Stück von mir weg. Ihre Augen schienen wie die einer alten, kranken Frau. Ich konnte sie kaum ansehen. Vorsichtig und ein bisschen verlegen entkleidete ich sie, wusch sie und half ihr in den zweiten, mottenzerfressenen Yungshmi. Die ganze Zeit verfolgte sie mich mit ihrem Blick, betrachtete mein Gesicht mit beunruhigender Ausdauer. Aber sie sagte kein einziges Wort.

Als wir fertig waren, lächelte ich sie unsicher an. »Jetzt fühlst du dich schon etwas besser, oder?«

Wieder bekam ich keine Antwort, nicht einmal ein Achselzucken.

Ich packte ihre Schultern. »Ich habe meine Mutter auch verloren, als ich ein kleines Mädchen war. Ich weiß, wie du dich fühlst, Savga, wirklich. Und es ist auch in Ordnung, wenn du wütend auf sie bist, verstehst du? Dein Ärger wird die Liebe nicht verschwinden lassen, die du für sie empfindest. Davor brauchst du keine Angst zu haben. Diese Liebe wird dir bleiben, immer.«

Sie sah mich an. Ihr Gesicht war schlaff, die Augen aufmerksam, als würde sie auf etwas warten. Auf das Unmögliche: die Rückkehr ihrer Mutter.

»Ich trage dich nach unten«, sagte ich und ließ ihre Schultern los. Ich hob sie auf meine Hüfte, drängte mich durch die Borkenstreifen vor unserem Raum und stieg die schwankende Treppe hinab.

Das alte Weib stand an der aufgebockten Tischplatte und zermalmte mit einer hölzernen Schraubpresse die Schalen von Coranüssen. Bernsteinfarbenes Öl tropfte in einen wartenden Krug. Sie blickte zu uns hoch und deutete dann mit einem barschen Nicken auf zwei Näpfe mit kaltem Getreideschleim am anderen Ende des Tisches.

»Ich danke Euch, dass Ihr uns die beiden Yungshmis geliehen habt«, sagte ich, während ich Savga auf einen Hocker setzte. Ihr Blick folgte mir, als ich die Schüssel mit kaltem Brei heranzog.

Die Alte grunzte. »Kann nicht zulassen, dass Ihr dieses Haus verpestet, heho! Ihr stankt schlimmer als Maht, wahrhaftig!«

»Ich wasche unsere Kleidung noch heute«, erwiderte ich etwas steif. Ich schob einen Napf vor Savga. Sie nahm ihn nicht entgegen, sah ihn nicht einmal an. Sie schien ihren Blick nicht von meinem Gesicht lösen zu können.

Ich stellte ihr den Napf auf den Schoß und drückte mich neben sie auf den Hocker. Ich aß mit stoischer Ruhe, ignorierte den fehlenden Geschmack des gekochten, aber mittlerweile erkalteten Featon-Getreides ebenso wie Savgas hartnäckigen Blick.

Während ich aß, beobachtete ich die Alte. Sie hatte ihre Arbeit an der Schraubpresse beendet und stellte den Krug zur Seite. Mit Mörser und Stößel zerrieb sie einen Berg karminroter Blüten zu einer feinen Masse, in die sie dann einige Tropfen von dem gelben Öl goss. Mit einem merkwürdigen gabelförmigen Instrument rührte sie sie gründlich durch und gab den Brei dann auf ein feines rotbraunes Tuch. Mein Blick glitt zu den beiden großen Schränken, die aneinandergelehnt dastanden. Was darin wohl verstaut war?

»Früher, in meiner Jugend, hat man in diesem Haus viel Medizin gemacht, ausgezeichnete Medizin«, sagte die Alte, während sie das Tuch zusammenknotete. »Alle kannten die Geschicklichkeit von Yimtranus Händen.« Dann begann sie das Tuch mit dem öligen Brei zu kneten. Langsam verfärbte sich der Stoff zu einem dunklen Leberbraun, und einige rote Tropfen drangen hindurch, die in eine verbeulte Metallschüssel tropften. Die gekrümmten Finger des Weibes wurden rot, während sie den Beutel knetete. »Wir haben feine Elixiere gemacht und Tränke. Keinen Tand, um die Lippen der Bayen zu färben. Aber mit diesem Tand hier verdienen wir mehr Geld als mit Heiltees und Tinkturen, heho. Rishi können sich solche Medizin nicht mehr leisten, oh nein. Wenn sie krank werden, ist ihre einzige Medizin die Hoffnung. Und Bayen trauen den Heilmitteln der Djimbi nicht. Wenn sie krank werden, essen sie nutzlose kleine Steine, die sie in Liru kaufen. Also macht die alte Yimtranu jetzt Tand.«

Sie sog scharf die Luft ein, und ich erkannte in dem Blick, den sie mir zuwarf, trotz ihres Alters denselben Stolz wie in Tansans.

»Und ich verdiene kein Geld damit, dass ich Ebanis für die Adligen und Drachenjünger aufnehme, damit die mit ihnen spielen können. Ich bin nicht wie die anderen in dieser Gasse. Diese Familie hat Würde, heho. Ehre. Wir kennen die alten Sitten. Wir achten sie.« Ihr Blick wurde scharf. »Der Wai Vaneshor hat mir gesagt, dass Ihr nicht seine Ebani seid.«

»Das bin ich auch nicht«, bestätigte ich.

Schnaubend machte sie sich daran, den Beutel zu walken.

Ich leerte meinen Napf mit Getreideschleim und versuchte Savga dazu zu bringen, etwas von dem ihren zu essen. Sie weigerte sich nicht lautstark, sondern saß einfach mit geschlossenen Lippen da, so unbeweglich wie ein Stein, während sich ihr Blick unbarmherzig in meinen bohrte. Seufzend schob ich den unberührten Brei zur Seite, hob sie auf meine Hüfte und ging mit ihr zum Brunnen, wo wir unsere Kleidung waschen konnten.

Savga hatte ihre letzten Worte im Arbiyesku geäußert, als sie mich bat, sie zu tragen. Ich hatte sie hochgehoben und versucht, sie Tiwana-Tante zu übergeben, und sie hatte geschrien: Trag mich. Darum hatte sie gebeten. Also hatte ich sie getragen. Und ich trug sie auch jetzt zum Brunnen, damit wir unsere Kleidung waschen konnten. Ich trug sie in meinem Herzen, unter meiner Haut, und ihr Schweigen schmerzte in meiner Brust wie eine gebrochene Rippe. Ich trug ihre Lethargie in meinen Knochen und ihre Trauer in den Gebeten, die ich dem Beschwingten Unendlichen zuflüsterte, während ich unsere Kleidung gegen den Waschstein neben dem Brunnen schlug.

Fa Cinai, ish vanras yos via rinu, miir eirmis depin lasif. Reiner Drache, trotz der Stärke der Trauer dieses Kindes möge ihre Schwäche für das Leben obsiegen.

Ich trug sie wieder zum Haus zurück, während über uns die Wolken voller Starrsinn am Himmel hingen und der Donner über die graue Steppe rollte. Ich sehnte mich nach dem Wind der letzten Nacht, danach, dass der gnadenlose Druck dort oben endlich siegte, dass es donnerte, blitzte und der Monsunregen einsetzte. Ich sehnte mich danach, dass Savgas unbarmherziger Blick endlich mein Gesicht losließ. Ich sehnte mich danach, dass sie endlich sprach.

In dem Haus kochte Yimtranu eine lilienweiße Flüssigkeit über einem rußgeschwärzten Feuerkorb.

»Das hier ist ein Schwanzstärker«, knurrte sie verbittert. »Für Bayen-Männer.«

Sie deutete mit dem Kinn auf das stickige Innere des Hauses. »Da ist etwas für Euch gekommen. Ein kahlköpfiger Djimbi hat es vor einer Weile gebracht, vermutlich ein Geschenk von Eurem Sissu.«

Sissu: ein lohnender Freier. Sie meinte den Wai Vaneshor, Gen.

»Der Wai Vaneshor ist nicht mein Freier«, erwiderte ich scharf. Sie sah mich listig an. Sie hatte mich testen wollen, überprüfen wollen, ob das, was ich ihr erzählt hatte, nämlich dass ich keine Ebani war, stimmte.

»Ihr werdet nicht lange hier bleiben, wenn er es ist, Aosogi Via.« Sie lachte keckernd. »In diesem Haus gibt es kein Ficki-Ficki, oh nein. Wai Vaneshor oder nicht.«

Ihr Stolz ärgerte mich und war doch auch bewundernswert.

Mit Savga auf der Hüfte ging ich um sie herum und stieg die Treppe zu unserer winzigen, stickigen Kammer hinauf. Meine Rippen schmerzten, und mein Rücken drohte fast unter Savgas Gewicht zu brechen. Ich setzte das stumme Kind auf den Boden. Seine geschwollenen Augen bohrten sich in meine. Ich bemerkte, dass Savgas Lippen spröde und gerissen waren.

»Trink etwas, Savga«, befahl ich. »Du hast den ganzen Tag noch kein Wasser getrunken!«

Sie rührte sich nicht und schwieg, ohne dass ihr Blick auch nur eine Sekunde von mir gewichen wäre. Ich hockte mich hin und hob die Urne an ihre Lippen.

»Du kannst dich nicht einfach zu Tode hungern. Das bringt dir deine Mutter nicht zurück. Trink.« Ich neigte den Krug. Sie sah mich starr an, während das Wasser ihr nutzlos über die geschlossenen Lippen, das Kinn und den Hals lief.

Wut und Frustration brannten in meinen Eingeweiden. Am liebsten hätte ich sie geschüttelt und geschrien: Das Leben ist nicht dazu verpflichtet, uns zu geben, was wir uns wünschen, Mädchen! Also ertrage das Unerträgliche, gib dich ohne das Unverzichtbare zufrieden, und wehre dich! Kämpfe, Savga, kämpfe!

Aber das sagte ich nicht. Sie war zu jung, und die Wahrheit dieser Worte war für sie viel zu hart. Vielleicht kämpfte Savga ja auch auf ihre eigene Art. Sie benutzte die Methode des Twembesai gon-fawen, des sanften Widerstandes, um die Realität ihrer Lage zu leugnen.

Ich wandte mich von ihr ab und rollte die neue Schlafmatte aus, die Gen vorbeigebracht hatte. Darin fanden sich Nadel und Faden sowie ein neuer Yungshmi.

Verdammt sollte Gen sein! Ich hatte ihm doch gesagt, dass ich nicht wollte, dass sich Savga von den gleichaltrigen Kindern hier unterschied. Ich schob den neuen Yungshmi wütend zur Seite.

Das zusammengerollte Kleidungsstück landete mit einem Rums an der Wand.

Ich betrachtete es einen Moment, zog es zu mir und entrollte den Stoff. Darin befand sich eine Bambushülle, die von Alter und Bienenwachs gelblich glänzte. Sie war so hart wie ein Knochen. Ich drehte sie um und las die Hieroglyphen, die in das alte Holz eingeritzt waren. Sut-cha ki Tagu Nayone Xxamer Zu. Sechzigste Ausgabe des Verzeichnisses von Xxamer Zu.

Der Korkstöpsel war bröckelig. Trockene Stückchen fielen zu Boden, als ich die Hülle öffnete. Ein muffiger Geruch nach altem Pergament waberte heraus, versetzt mit einem schwachen Hauch Weihrauch. In der Bambushülle befand sich eine dicke, mehrschichtige Schriftrolle. Es gelang mir nur mit Mühe, sie aus der Hülle herauszuziehen.

Dann schälte ich das oberste Blatt herunter, so wie ich die Außenhaut einer Zwiebel abgeschält hätte. Es war neu und ganz frisch. Die Tinte war schwarz und duftete nach Parfüm. Ich brauchte eine Weile, bis ich die Schriftzeichen entziffern konnte, die auf der oberen rechten Ecke standen. Census-Annalen. Ich blickte auf die drei Reihen von Hieroglyphen, die in einer präzisen, schrägen Handschrift unter dem Titel standen.

Namen. Es waren ausnahmslos Namen.

Ich schälte sorgfältig ein zweites Blatt herunter, das ebenfalls neu, aber nicht ganz so steif war, als wäre es häufiger benutzt worden. Noch mehr Namen.

Siebzehn zusammengerollte Seiten Pergament später, von denen jede einzelne älter war als die vorige, stieß ich auf eine Schriftrolle, auf der nicht nur Namen standen. Ein mit Blumenmotiven verzierter Titel schmückte den oberen rechten Rand des Pergaments. Kanyan-gai ki Hoos a’ri Chan, stand darauf. Der genaue Gesetzestext über Sklaven.

Donner rollte über die Dächer. Die Bretter unter meinen Füßen erzitterten. Trotz der frühen Stunde war es bereits dunkel in unserer Kammer.

Dies sind die Grade von Rassenmischungen, die innerhalb der Grenzen Malacars gefunden wurden, sowie die Benennung für jede.

Wenn ein Mann von Fa-pim-Blut seinen Samen in den Garten einer Djimbi-Frau pflanzt, soll das Ergebnis ein oder eine Munano genannt werden. Ein oder eine Saroon entstammt der Paarung eines Fa-pim-Mannes mit einer Munano. Ein oder eine Ginar entspringt der Verbindung von Munano und Djimbi. Ein oder eine Sesif ist die Frucht einer Paarung zwischen einem Fa-pim und einer Saroon, ein oder eine Farasin die einer Verbindung zwischen Munano und Ginar. Ein oder eine Sasangia entspringt Ginar und Djimbi, ein oder eine Memeslu einem Fa-pim-Mann und einer Sesif, ein oder eine Senemei einem Fa-pim-Mann und einer Memeslu.

Alle Djimbi, die in einer Brutstätte Malacars arbeiten, sind laut Gesetz als freigeborene Leibeigene anzusehen. Aber alle Paarungen zwischen allen Graden von Brutstätten-Djimbi verstoßen gegen die Tempelstatuten, weil solche Paarungen die anormale Blutlinie der Djimbi fortsetzen. Sollten also folglich zwei Djimbi Nachkommen zeugen, werden die Mutter und die Abkömmlinge Eigentum des Vorstehers der Brutstätte, der mit ihnen verfahren kann, wie es ihm gefällt. Die weiteren Nachkommen dieser Sklaven gehören ebenfalls dem Vorsteher und dem Tempel, seien sie von einem Mann von Fa-pim- oder auch von unreinem Blut gezeugt. Es sei hiermit verfügt, dass Djimbi-Sklaven keinerlei Rechte vor einem Beschwerdehof in irgendeiner Brutstätte haben, ebenso wenig wie in irgendeinem anderen Land, das von Imperator Fa regiert wird.

Indem der Tempel alle Djimbi zu Freigeborenen erklärte und gleichzeitig ein Gesetz erließ, dass die Djimbi gar nicht einhalten konnten, weil sie sich natürlich innerhalb ihrer eigenen Rasse fortpflanzten, hatte der Drachentempel den Djimbi selbst die Schuld an ihrer Versklavung zugeschoben. Diese Versklavung wurde dann wie ein Geburtsfehler von Mutter und Vater auf Kind und Kindeskinder übertragen, durch alle folgenden Generationen hindurch.

Ich blickte wieder auf das Pergament.

Diese Vermischung kann all jenen von Fa-pim-Blut verziehen werden, denn wer von uns hat nicht schon einmal mit einer dieser hübschen kleinen Senemeis gespielt, die bei einem Nachbarn als Dienerinnen arbeiteten? Wahrlich, es ist sogar die Pflicht eines jeden Fa-pim-Mannes von Xxamer Zu, diese attraktiven Gärten aufzusuchen, seinen Samen vielfach in sie zu säen und solche Vereinigungen in den Census-Annalen zu vermerken, damit, sollten daraus Früchte entstehen, er für seine Pflichterfüllung belohnt wird, wenn besagte Nachkommen geerntet werden – in späteren Jahren, durch die Vorsteher des Tempels. Die daraus resultierenden Blumen, die aus solchen Vereinigungen erblühen, tragen eine weit erfreulichere Farbe als die stark gefleckten Exemplare, die aus den unreinen Paarungen unter Fleckbäuchigen erwachsen, und so hilft ein Mann also nicht nur, die Schulden seiner Brutstätte zu verringern, sondern er verbessert auch die Qualität des Eigentums seines Brut-Vorstehers.

Ich starrte Savga an.

Ihre Haut hatte die Farbe wilden Honigs, die Flecken darauf waren schwach und klein und nur wenige an der Zahl. Ich erinnerte mich daran, dass sie sich selbst eine Senemei genannt hatte. Ich hatte angenommen, dass sie nur das Djimbi-Wort für Bastard benutzt hatte, aber das stimmte nicht. Oh nein. Sie hatte ein Wort aus der Sprache des Imperators für eine Kategorie von Sklaven benutzt, und zwar für eine der erfreulicheren Kategorien.

Ich erinnerte mich auch an die Schriftrolle, aus der der Drachenjünger vorgelesen hatte, bevor Savga und ich in Ketten gelegt und vom Arbiyesku weggeführt worden waren. Ich rollte noch einmal das erste Blatt Pergament auseinander, das mit der duftenden Tinte. Ich überflog die Namen, diesmal sorgfältiger, rollte ein zweites Blatt auseinander, dann ein drittes.

Schließlich fand ich, was ich suchte: Tansans Namen und daneben die Namen dreier Bayen, die sie neun Monate vor Savgas Geburt vergewaltigt hatten.

Was hätten diese Adligen mit der Belohnung gemacht, hätte ich nicht verhindert, dass Savga in die Sklaverei verkauft wurde? Hätten sie die Beute durch drei geteilt?

Mit anderer Tinte war in einer dritten Spalte neben Tansans Namen noch etwas geschrieben: Arbiyesku Xxamer Zus Keaus Waivia, genannt Savga. Welch eine grausame Ironie, dass sie Savga als Keaus Erstgeborene aufführten, obwohl sie sehr genau wussten, dass sie ein Spross eines der drei Bayen war. Der Archivar hatte sie nur deshalb so aufgelistet, um sie und Tansan identifizieren zu können.

Die Namen von Runami und Oblan standen ebenfalls auf der Liste, wie auch die Namen der beiden Jungen aus dem Arbiyesku, die an jenem Tag mit uns gefangen genommen worden waren.

Siebzehn Bögen Pergament, einschließlich desjenigen, den ich in der Hand hielt, führten Namen von Frauen auf, die von Bayen vergewaltigt worden waren, die damit ihre Pflicht gegenüber dem Vorsteher ihrer Brutstätte erfüllten. Siebzehn Blätter Pergament, die zu einer Rolle gehörten, die als sechzigste einer ganzen Reihe aufgeführt war. Kein Wunder, dass die Jugend von Xxamer Zu sich in den Dschungel flüchtete, in die Stadt, in die Weiler der Verlorenen. Kein Wunder, dass die Bevölkerung von Xxamer Zu auf ein Drittel ihrer einstigen Größe geschrumpft war.

Erneut fragte ich mich, ob eine solche Ernte auch in Brut Re eingeholt worden war. Aber nein: Djimbi-Rishi waren auf diesem riesigen Besitz ungewöhnlich. Meine Mutter hatte zu einer winzigen Minderheit gehört, ebenso wie Waivia.

Dann fiel mir wieder ein, wie Fwipi Tansan genannt hatte: meine Memeslu-Tochter. Ich hatte damals angenommen, dass Memeslu aufsässig bedeutete. Aber nein. Eine Memeslu war die Frucht einer Paarung zwischen einem Fa-pim-Mann und einer Sesif, die wiederum selbst in einem anderen Grade ein Mischling war. Folglich hatte ein Fa-pim-Mann seinen Samen in Fwipis Leib gesät. Tansan war ebenfalls ein Bastard. So wie Fwipi selbst.

Ich hatte gedacht, wenn ich meine eigene Brutstätte besäße, würde ich ein Gefühl der Zugehörigkeit verspüren, eine Welt der Sicherheit schaffen. Ich hatte gedacht, ich würde endlich ein Zuhause finden. Aber so einfach sollte es nicht sein. Ich musste mir ein Zuhause erst erschaffen, uralte Praktiken verändern und noch mehr Tempelgesetzen trotzen. Ich musste Dinge verändern. Kämpfen.

Schon wieder.

Ich schob die Pergamente abrupt zur Seite und stand auf. Ich brauchte nicht zu wissen, wie viele Kinder und Erwachsene in Brut Xxamer Zu noch Bastarde waren, die in Zukunft »geerntet« werden sollten, um die Schulden des Vorstehers zu bezahlen.

Es war schon schlimm genug, zu wissen, dass eine solche »Ernte« überhaupt existierte.

Das Gift der Drachen Drachen3
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