15

Nur zwei der sieben Myazedo-Rebellen, die sich um Tansan scharten, saßen. Die restlichen Männer standen, marschierten rastlos auf und ab, gestikulierten und fuhren sich mit den Händen über ihre Haare und verfilzten Bärte.

Alle sieben trugen zerlumpte braune Wämser und zerfetzte, blutbefleckte Hosen, und alle waren sie mit einer wilden Mischung aus Messern, Schwertern und Blasrohren bewaffnet. Sie sahen aus, als hätten sie seit Jahren keine ordentliche Mahlzeit mehr bekommen und ebenso lange nicht gebadet. Dafür waren sie alle ausnahmslos leidenschaftlich, engagiert und weit besser informiert als der durchschnittliche freie Leibeigene.

Ihre Augen glänzten vom Kampf, als sie über die Verteilung der Beute diskutierten, die Bildung einer Volksarmee und die Notwendigkeit von Djobawen, einer Schirmherrschaft über das Volk. Außerdem redeten sie darüber, wer von ihnen eine Escoa besteigen und versuchen sollte, Chinion zu finden, ihren abwesenden Anführer, um ihm die Kunde von der Befreiung von Xxamer Zu zu überbringen.

Dazu hatte ich auch etwas zu sagen, aber ich ließ mir Zeit, wartete auf den richtigen Moment. Beobachtete sie, wägte ab. Ich hockte auf dem Rand eines wundervoll gedrechselten Mahagonitisches und aß eine blaue Pflaume, die ich mir aus dem silbernen Fruchtkorb neben mir genommen hatte.

Tansan verfolgte die Diskussion schweigend von einem der vielen niedrigen Diwane im Raum aus. Sie lehnte nicht darauf, sondern saß dort wie auf einem Thron. Sie war ebenfalls blutverschmiert; ein blutiges Tuch verbarg eine Wunde an ihrem Oberarm. Wie ihre Kameraden trug sie ein Wams und eine Hose. Es war sehr verführerisch, sie in der Kleidung eines Mannes zu sehen. Ihr praller Busen zeichnete sich unter dem engen, blutigen Wams deutlich ab.

Man hatte dem Drachenmeister den Zutritt zu diesem Raum verwehrt, deshalb wartete er draußen vor den bewachten Türen. Schäumend vor Wut.

»Dieser Suwembai-kam«, warf einer der sitzenden Rebellen ein; damit meinte er den Drachenmeister, nannte ihn einen Wahnsinnigen. Er sprach, ohne aufzublicken, und fuhr dabei fort, seine Fingernägel mit einem Messer von Schmutz und getrocknetem Blut zu reinigen. »Er versteht es, mit Drachen umzugehen. Haben wir genug Vertrauen zu ihm, um ihn auf die Suche nach Chinion zu schicken?«

»Nein«, antwortete ein Rebell mit zwei dicken, verfilzten Zöpfen. »Dafür nehmen wir besser diesen betrunkenen Boten, den wir als Geisel genommen haben.«

»Wir müssen mehr als nur einen Drachenflieger aussenden. Chinion könnte in jedem unserer Lager sein; wir würden Tage verschwenden, bis wir ihn gefunden haben.«

Einer von den Rebellen, die unruhig auf und ab gingen, fuhr heftig mit der Hand durch die Luft. Sein Gesicht verschwand fast hinter seinem dichten schwarzen Bart, und seine Hakennase war von alten Pockennarben übersät. »Nur eine Escoa sollte losfliegen. Wir haben nicht genug erfahrene Drachenflieger, und diesem Suwembai-kam traue ich nicht.«

Ich räusperte mich. Wie scharfe Klingen zuckten die Blicke aller Anwesenden in meine Richtung.

»Wie viele erfahrene Drachenflieger haben wir denn?« Ich hob eine Hand und zählte an den Fingern ab. »Den Mann, den ihr den Suwembai-kam nennt, der die Escoas und Tansans kleine Tochter zu eurem Lager im Dschungel geflogen hat. Den Jungen Ryn, der mit ihm flog. Und diese Geisel, von der ihr gesprochen habt, diesen Trunkenbold von einem Boten. Der, wenn ich mich nicht irre, Kaban heißt.«

Aus den bemüht ausdruckslosen Mienen der Rebellen schloss ich, dass ich recht hatte. Ein Punkt für mich. »Gibt es noch andere Drachenflieger? Nein? Den Rest habt ihr bei dem Angriff getötet, heho? Sehr gut. Dann schlage ich Folgendes vor: Wir benutzen sie alle, senden alle aus.«

Pockennase schnaubte verächtlich. »Und wenn etwas schiefgeht und keiner von ihnen zurückkehrt? Dann haben wir niemanden mehr, der einen Drachen fliegen kann.«

»Vielleicht hättet ihr das vor dem Massaker letzte Nacht bedenken sollen.«

Er spie aus und machte einen Schritt auf mich zu. Seine Augen glühten. »Hast du Blut an deinen Händen? Hast du gestern Nacht um dein Leben und deine Freiheit gekämpft? Wer bist du, dass du hier sitzt und unseren Sieg kritisierst?«

»Ich bin eine Danku Rishi Via, geboren in Brutstätte Re.« Ich sprach leise und gelassen und hielt seinen Blick fest. »Der Name meines Vaters war Darquel, der meiner Mutter Kavarria. Sie wurde hier geboren, in Xxamer Zu. Sie nannte mich Zarq. Einige nennen mich auch Zarq, die Ausgeburt. Wieder andere schimpfen mich die Drachenhure von Re. Du hast vielleicht von mir gehört.«

Schlagartig kehrte Ruhe ein, als hätte ich die Eier jedes anwesenden Mannes mit der einen Hand gequetscht, während ich in der anderen einen scharfen Dolch hielt. Pockennase sah aus, als müsste er gegen den Impuls ankämpfen, einen Schritt zurückzuweichen.

Zu erfahren, dass die Geschichten von der berüchtigten Drachenhure von Re selbst bis zu dem verborgenen Lager der Rebellen gedrungen waren, das weitgehend isoliert tief im Dschungel lag, befriedigte mich irgendwie. Sie hatten also von dieser Frau Zarq gehört, die es gewagt hatte, sich dem Tempel zu widersetzen, indem sie bei einem Drachenmeister in die Lehre ging; von einer Frau, die möglicherweise von Dämonen besessen war und bestialische Riten mit Drachen beging.

Ich sah Tansan an. »Ich habe dich nicht angelogen. Ich bin Kazonvia, die zweite Tochter aus dem Bauch meiner Mutter. Aber jetzt kennst auch du mich als Zarq.«

»Und warum bist du zu den Myazedo gekommen … Zarq?« Pockennases Stimme klang feindselig.

»Um Bullenschwingen für die Rishi zu züchten.«

Das folgende Schweigen glich fast einem Dröhnen.

»Du weißt, wie das zu bewerkstelligen ist?«, erkundigte sich der Rebell, der immer noch das Blut unter seinen Fingernägeln herauskratzte. Falls er mich zwischendurch angesehen hatte, war es mir jedenfalls nicht aufgefallen.

»Ich weiß es. Ich kann euch Drachenbullen versprechen – und zwar nicht nur einen oder zwei, sondern mehrere Klauenvoll. Und zwar in nur acht Wochen, vielleicht sogar schon früher.«

»Wie?« Das war der mit den zwei Zöpfen.

Ich biss von der Pflaume ab, die ich in der Hand gewärmt hatte, und kaute sie. Alle Rebellen bis auf den mit dem Messer beobachteten mich.

»Hört mich erst zu Ende an«, erwiderte ich und wischte mir den Fruchtsaft vom Kinn. »Soweit ich verstanden habe, ist Chinion euer Anführer. Er befehligt mehrere Myazedo-Lager und plant, mit seinen Rebellentruppen irgendwann mehrere kleine Brutstätten zu befreien, die unbedeutend und von ihrer Lage her isoliert sind. Das ist gut.«

Ich durchbohrte Pockennase mit meinem Blick. »Aber nicht gut genug. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese befreiten Brutstätten wieder unter der Knute des Tempels stehen. Der Tempel wurde vom Imperator eingesetzt, und der hat Legionen von Soldaten unter seinem Befehl. Im Archipel liegen sieben bewohnte Inseln, die er alle regiert. Ihm werden niemals die Soldaten ausgehen. Uns schon.

Haben wir jedoch Drachenbullen, beenden wir damit das Monopol des Imperators auf die Drachen, und statt die Myazedo dem Imperator in den Rachen zu werfen, werden wir ihm klarmachen, dass er sich nicht in Malacar wird halten können, ganz gleich wie viele Soldaten er zur Verfügung hat. Wir werden dafür sorgen, dass Malacar für ihn uninteressant wird. Wir vertreiben ihn. Wir beenden die Armut und den Hunger in sämtlichen Brutstätten im ganzen Land.«

Ich aß meine Pflaume auf und wischte mir die Hände an meinem schmutzigen, zerrissenen Bitoo ab.

»Eine sehr wohlüberlegte Rede«, murmelte der Mann mit dem Messer, ohne aufzublicken.

»Ich bin noch nicht fertig.« Ich ließ das Schweigen noch einige Herzschläge andauern, bevor ich fortfuhr. Jetzt rührte sich keiner der Männer mehr. »Ich habe Zugang zu einem Netzwerk von Männern, die diesen Aufstand bereits seit einiger Zeit planen. Sie können uns mit Waffen versorgen, mit vielen Waffen. Sie können die Schiffe des Imperators im Hafen von Lireh versenken und uns mit Drachen zu Orten fliegen, die wir sonst niemals erreichen könnten, und das in nur einer einzigen Nacht. Sie können die Drachenbullen stehlen und die Tempelanlagen in einigen auserwählten Brutstätten überfallen. Diese Leute können uns helfen, das alles noch vor Ende dieses Monats zu bewerkstelligen, so dass die Armee des Imperators über das ganze Land auseinandergezogen wird und der Tempel einen konzentrierten Angriff auf diese Brutstätte nicht als vorrangig ansehen wird. Und wenn wir durch unseren Vorsteher mit den Brutstätten Cuhan und Re verhandeln, die übrigens jetzt von dem Halbbruder unseres abgesetzten Vorstehers geleitet werden, können wir uns auch diese beiden Brutstätten vom Hals halten, während wir Drachenbullen züchten.«

Ich drehte mich zu der Fruchtschale um, nahm einen Granatapfel heraus und grub meine Daumennägel in die dicke, narbige Schale. »Deshalb schlage ich vor, drei Escoas auszuschicken. Eine, um so schnell wie möglich Chinion zu finden, eine zu meiner Kontaktperson in Liru und eine mit einem Unterhändler von Ghepp, unserem abgesetzten Vorsteher, zu Brut Re. Außerdem rate ich zu größter Eile, denn wenn wir nicht schnellstens reagieren, werden Kratt und der Tempel noch vor dem nächsten Vollmond über uns herfallen und uns zerschmettern.«

Einen Moment herrschte Schweigen. Schließlich beugte sich Tansan vor. »Wer ist dein Kontaktmann?«

»Ein Handelsbaron mit einer Flotte von Schiffen und etlichen eigenen Escoas. Er hat geholfen, meine Flucht aus der Arena zu arrangieren. Er ist vertrauenswürdig.«

Hoffte ich jedenfalls.

»Und dieses Netzwerk von Männern, denen wir blindlings vertrauen sollen?«, erkundigte sich Pockennase. Seine Stimme klang fast höhnisch. Es gefiel ihm nicht, dass in meinem Bitoo eine Frau steckte, die dem Tempel in einer weit großartigeren Weise getrotzt hatte als er während seiner mehrjährigen Ausbildung für diese Rebellion in einem geheimen Dschungellager.

»Nicht blindlings!«, fuhr ich ihn an. »Niemals blindlings. Ich habe in der Arena gekämpft und zweimal den Angriff eines Bullendrachen überlebt. Ich tue nichts blindlings.«

Ich wandte den Blick ab und signalisierte ihm mit meiner Körpersprache, dass er einer weiteren Debatte nicht würdig war. Stattdessen sprach ich zu Tansan und dem Rebellen, der dagesessen und beim Reinigen seiner Fingernägel jedem meiner Worte gelauscht hatte, und zu den anderen, hageren Rebellen, die mir ebenfalls aufmerksam zugehört und mich scharf beobachtet hatten.

»Dieses Netzwerk, von dem ich gesprochen habe, besteht aus ausländischen Immigranten und Handelsbaronen«, sagte ich. »Aus Roshus, die sich zur Ruhe gesetzt haben. Aus Paras, die aus der Armee des Imperators desertiert sind. Ich halte es für klug, wenn euer Chinion einen oder zwei von ihnen trifft. Hier, in dieser Brutstätte, zu seinen Bedingungen und so schnell wie möglich. Wir müssen rasch vorgehen.«

»Sagen wir, Chinion wird aufgespürt und kommt in diese Brutstätte«, erwiderte der mit dem Messer, immer noch ohne hochzublicken. »Sagen wir, du bringst einige ausgewählte Männer her, die mit ihm reden.«

Ich zögerte und wagte dann eine Vermutung, als mir die Gerüchte von dem Aufstand einiger Weiler der Verlorenen einfielen, damals, als ich noch Schülerin in den Stallungen des Drachenmeisters war. »Chinion fliegt mit seinem eigenen Drachen her, richtig? Mit einem der Drachen, die er letztes Jahr von Brut Maht gestohlen hat.«

Der mit dem Messer grinste so abscheulich, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. »Wir ziehen das Wort ›befreien‹ dem Wort ›stehlen‹ vor.«

»Wie viele Weiler der Verlorenen in Malacar sind mit Chinion verbunden?«, erkundigte ich mich.

Der Messermann antwortete nicht. Dafür sprach jedoch Tansan.

»Die meisten Weiler sind einfache Ackerbaugemeinschaften. Einige wenige versorgen Chinions Lager mit Getreide und Nahrung, aber nach Chinions Angriff auf Brut Maht hat der Tempel etliche Weiler dem Erdboden gleichgemacht und alle Bewohner ermordet. Selbst die Alten wurden nicht verschont. Frauen und Kinder wurden vorher vergewaltigt. Chinion erbittet jetzt nichts mehr von den Weilern, und sie würden ihm auch nichts geben.«

»Getrennte Einheiten«, meinte ich.

»Um die Verlorenen zu schützen.«

»Die Verlorenen sollten über das, was in Malacar passieren wird, informiert werden. Sie sind für Vergeltungsaktionen des Tempels die einfachsten Ziele, ganz gleich, ob sie in die Geschehnisse verwickelt sind oder nicht.«

»Wir müssen dem Tempel so zusetzen, dass er die Weiler als unwichtig einstuft«, warf der mit den zwei Zöpfen ein.

»Die Weiler sollten trotzdem gewarnt werden«, entgegnete ich. »Wir wollen eine Zukunft für die Kinder dieser Nation schaffen und sollten das Blutvergießen so weit einschränken, wie es geht.«

»Dir gefallen unsere Methoden nicht«, warf der mit dem Messer ein.

Ich überlegte mir meine Antwort sehr genau. »Die Kinder der Bayen leiden ebenso unter Alpträumen und Trauer wie die der Rishi. Ich bin nicht sicher, ob das Massaker letzte Nacht notwendig war. Aber ich kann auch nicht beurteilen, ob es machbar gewesen wäre, jeden Bayen als Geisel gefangen zu nehmen. Was geschehen ist, ist geschehen. Wenn wir das Blutvergießen in Zukunft einschränken können, sollten wir das tun.«

»Schiffe zu versenken und die Stallungen von Brutstätten zu überfallen geht nicht ohne Blutvergießen«, erklärte der mit den zwei Zöpfen. »Eine Revolution schafft ebenso Leichen wie eine neue Zukunft.«

Ich verzog das Gesicht. Meine Hände waren von dem Saft des Granatapfels rot gefleckt. »Ich weiß.«

Pockennarbe spürte den Moment von Schwäche in mir und setzte nach. »Wirst du dich herablassen, uns Blutverschmierten zu erklären, wie du Bullendrachen aus dem Nichts züchten willst, heho? Oder sollen wir einfach darauf vertrauen, dass du es kannst, wie wir auch allem anderen glauben müssen, was aus deinem Mund sprudelt?«

Hätte ich eine Peitsche in der Hand gehabt, hätte ich ihm seine narbige Nase weit aufgerissen.

»Ich sage es denen«, ich beschied mich mit bissigen Worten, »die es wert sind, das Geheimnis zu erfahren.«

Tansan erhob sich von dem Diwan. »Auf uns wartet Arbeit. Sollten Drachenflieger aus anderen Brutstätten oder woher auch immer hier ankommen, sollen sie lebendig und unverletzt hierhergebracht werden. Zarq, du bleibst hier. Wir müssen uns unterhalten, du und ich.«

Pockennarbe warf mir einen giftigen Blick zu, als er hinausging.

 

Der Rebell mit dem Messer blieb am Tisch sitzen.

Ich nahm eine reife Durian-Frucht aus dem silbernen Korb, stand auf und legte sie vor ihn hin. »Sie verdirbt, wenn sie nicht bald gegessen wird.«

Jetzt endlich blickte er langsam hoch. Seine Augen waren so dunkel wie feuchter Lehm, und aus ihrem funkelnden Blick sprach Intelligenz. Wie die anderen Rebellen war auch er unterernährt und abgemagert, und sein Bart und sein Haar waren lang und ungepflegt. Von seiner Stirn blätterte in linsengroßen Fetzen getrocknetes Blut ab. Offenbar war das Blut eines seiner Opfer gestern Nacht über ihn gespritzt.

Er nahm die Durian-Frucht. Das pfeffrige, leicht nach Urin duftende Aroma der Frucht erfüllte den Raum, als er die Schale mit seinem Messer ritzte.

»Sag uns, wer du bist, Zarq«, meinte Tansan ruhig. »Sag uns, woher du den Wai Vaneshor kennst.«

Ich kam ihrer Aufforderung nach. Ich sagte ihr, wer der Mann, den sie den Suwembai-kam nannten, wirklich war und wie ich den Roshu von Xxamer Zu in einer Arena-Wette, die von Malaban Bri, dem einflussreichen Handelsbaron, gedeckt worden war, entthront und an seiner Stelle Ghepp als Vorsteher eingesetzt hatte. Ich sprach von Drachenjünger Gen, der jetzt der verschwundene Wai Vaneshor Ghepps war, und von der uralten Prophezeiung, von der Gen wusste und die von meiner Bestimmung als Tochter des Himmelswächters kündete.

Meine Kehle wurde trocken. Ich trank ein wenig mit Wasser und Orangensaft verdünnten Wein aus einem kristallenen Krug. Mit dem süßen Geschmack des Weins auf den Lippen, der mich leicht schwindeln machte, sprach ich von Waikar Re Kratt, der nicht nur als Lupini Re bekannt war, sondern jetzt auch Lupini Re-Cuhan genannt wurde, weil er diese Brutstätte ebenfalls in seinen Besitz gebracht hatte. Ich erzählte von dem Himmelswächter, den Kratt durch meine Schwester Waivia beherrschte, und erklärte, dass es der Geist meiner Mutter war, ein wahnsinniges Geschöpf, erschaffen durch die wahnsinnige Besessenheit meiner Mutter, ihre DjimbiMagie und indirekt durch Kratts perverse Grausamkeit. Ich trank noch mehr Wein.

Ich berichtete von meiner Einkerkerung in dem geheimen Verlies des Tempels, von den Dingen, die mir dort widerfahren waren, sowie von meiner Rolle bei meiner Rettung und der Jotan Bris, der Schwester des Handelsbarons Malaban Bri. Ich sprach von Gift und Drachenliedern, von Langbein und dem Ritus, den wir in finsterer Nacht unter dem Blätterdach des Dschungels vollzogen hatten. Plötzlich war der Wein nicht mehr süß genug – oder auch zu süß, mag sein -, und ich schob ihn weg.

Während ich vor dem Tisch hin und her ging, an dem der mit dem Messer saß, erklärte ich ihnen, warum noch nie ein Drachenbulle aus einem Ei in einer Brutstätte geschlüpft war und das auch niemals tun würde. Ich erläuterte, dass Drachenbullen nicht aus Eiern schlüpften, sondern dass sie in Yamdalar Cinaigours entstanden, den Kokons, die sterbende Drachenkühe um sich bildeten. Acht Wochen dauert eine Verwandlung von einer sterbenden Drachenkuh in einen Drachenbullen, erklärte ich. Acht Wochen. Und jahrzehntelang, oder genauer, seit Jahrhunderten hatten die Angehörigen der Arbiyeskus in ganz Malacar diese Drachenkokons pflichtbewusst jeden Monat zerstört, und zwar vier Wochen, bevor die Drachen ihre Verwandlung vollendet hatten. Als ich fertig war, hatte der mit dem Messer seine Durian-Frucht verspeist, und gedämpftes Sonnenlicht drang durch die zahlreichen Öffnungen der wunderschönen, aus gegipsten Gittern bestehenden Fenster. Sie warfen Schatten auf die Ranken-und Blattmotive des gefliesten Bodens. Es war weit nach Mittag.

Der Drachenmeister hämmerte an die Tür und verlangte, eingelassen zu werden. Wir hörten das Scharren von Füßen, als er mit den Wachen kämpfte und Flüche schrie.

»Wir lassen den Suwembai-kam am Leben«, erklärte der Messerträger. »Wir benötigen seine Fähigkeiten als ehemaliger Drachenmeister von Re, wenn die Bullen schlüpfen.«

»Aber hüte dich vor ihm, Tansan«, warnte ich sie. »Er benimmt sich oft unberechenbar, ist grausam und stets ungeduldig. Er hat keinerlei Respekt vor dem Leben, gar keinen.«

Ich wusste nicht, was zwischen ihnen beiden in dem Dschungellager vorgefallen war, aber Tansans Miene war hart, als sie zur Tür blickte.

»Wir machen uns seine Fähigkeiten zu Nutze und töten ihn, wenn er nicht länger gebraucht wird«, erwiderte sie und verzog verächtlich die Lippen.

Einen Moment herrschte Schweigen. Wir alle vermieden es, über den entscheidenden Punkt in meiner Erzählung zu sprechen. Der mit dem Messer musterte mich unter seinem dichten Haar, das ihm tief in die Stirn hing.

»Der Calcarifer-Fisch tut das auch, er verwandelt sich von einem Weibchen in ein Männchen«, sagte er ruhig.

»Auch Motten und Schmetterlinge verwandeln sich«, stimmte Tansan zu. »Sie alle werden von Würmern zu geflügelten Insekten in ihren Kokons. Dennoch hege ich Zweifel an dem, was du uns erzählt hast, Zarq. Es gab Zeiten, in denen Krankheiten und Nachlässigkeiten den Arbiyesku daran gehindert haben, die Kokons im Lagerhaus jeden Monat zu zerkleinern. Sicher wäre irgendwo in einem Lagerhaus einmal ein Bulle ausgeschlüpft. Es ist zu unwahrscheinlich, dass in all den Jahrhunderten noch nie jemand über dieses Geheimnis gestolpert ist.«

Ich schüttelte den Kopf, nahm mir eine Handvoll Nüsse aus einem Gefäß mit Kupfer-und Goldintarsien. Ich wollte den Geschmack des Weins von meiner Zunge bekommen, die unangenehme Erinnerung daran, was für ein armseliger Giftersatz er war. »Drachen sind von Natur aus Geschöpfe der Luft. Stellt euch das Gebiet der Dschungelkrone vor, dort wo die wilden Drachen leben. Denkt an die Kokons in den Astgabeln, die dort fester kleben als Schlingpflanzen. Stellt euch vor, wie diese Hüllen, die an den Stämmen kleben, Tag für Tag dem glühenden Sonnenlicht ausgesetzt sind.«

Erneut fühlte ich die Hitze des Scheiterhaufens, die während des Ritus zwischen Langbein und mir die Härchen auf meinen Armen hatte schmelzen und die Haut meiner Wangen hatte austrocknen lassen. »Diese Kokons müssen Hitze ausgesetzt sein, wenn die Verwandlung erfolgreich sein soll.«

»Wie Eier, die unter dem Bauch eines Brutdrachen ausgebrütet werden«, warf der Messerrebell ruhig ein.

Ich nickte. »Ganz genau. Es war schon immer üblich, dass die sterbenden Brutdrachen in ein Lagerhaus gebracht wurden, damit sie nicht im Weg waren, bis sie unwiderruflich tot schienen und ungestraft zerteilt und zu Drachenfutter verarbeitet werden konnten. Der Tempel sorgt für den Schutz unserer göttlichen Drachen auf ihrer Reise über den Klauenpfad in den Tod, indem er sie in ein Lagerhaus einschließt. Aber was der Tempel dadurch unwissentlich erreicht, ist, dass er sie der Möglichkeit der Verwandlung und des Lebens beraubt.«

Tansan deutete nach draußen. »Und während der Regenzeit? Wie schlüpfen Bullen ohne die Sonnenhitze der Zeit des Feuers?«

»Das weiß ich nicht.« Ich streifte die dünnen Häutchen der Nüsse ab, die ich geknackt hatte. »Vielleicht schlüpfen sie ja während der Regenzeit nicht, und ihre Kokons verrotten einfach nur. Vielleicht hält der Eine Drache so die Dinge im Gleichgewicht, sorgt dafür, dass der Dschungel nicht von Bullen überquillt. Ich weiß es einfach nicht.«

»Also müssen wir unsere eigene Hitze erzeugen«, folgerte der mit dem Messer.

»Verbrennt alles Holz, das ihr in die Hände bekommt.« Ich deutete mit einem Nicken auf die wundervoll gedrechselten Tische in dem Raum. »Lasst bewachte Scheiterhaufen Tag und Nacht brennen.«

»Es wird nicht funktionieren«, erwiderte Tansan tonlos. »Rauch wird das Lagerhaus erfüllen und alles Lebendige darin ersticken. Fliegen, Aaskäfer, Feuerwachen und alles, was sich in den Kokons möglicherweise entwickelt. Nichts wird überleben.«

Ich kam mir so unendlich dumm vor. Sie hatte recht. Wir würden ein Räucherhaus schaffen wie jene, in denen Fleisch geräuchert wurde, nur viel größer.

»Wissen wir denn sicher, dass diese Kokons für ihre Verwandlung allein die Hitze benötigen?«, murmelte der Rebell mit dem Messer. Sein Stuhl knarrte, als er sich vorbeugte und eine Handvoll der gleichen Nüsse, die ich gerade aß, aus der Schale nahm. »Vielleicht sind diese Kokons ja wie Pflanzen. Vielleicht verwelken sie nur wegen des Mangels an Sonnenlicht, nicht wegen fehlender Hitze.«

Der Ritus war mitten in der Nacht abgehalten worden, unter dem dunklen Baldachin des Dschungels. Langbein und die Matriarchin hatten kein Sonnenlicht dafür benötigt. Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Es ist die Hitze. Und was den Rauch angeht …«

»Wir reißen die Wände ein und schlagen Löcher in das Dach.« Der Rebell zuckte mit den Schultern. »Ganz einfach.«

»Wissen wir sicher, dass es acht Wochen dauert, bis die Tiere in den Kokons sich in Drachenbullen verwandeln?«, wollte Tansan wissen.

Erneut war ich überrumpelt. Der Gong während des Ritus mit Langbein hatte acht Mal geschlagen. Ich hatte angenommen, dass dies acht Wochen bedeutete. Aber es könnte auch für acht Monate stehen. Ich sprach den Gedanken laut aus.

»Acht Monate sind eine lange Zeit für etwas von der Größe eines Kokons, um unbeschädigt im Dschungel zu überdauern«, meinte der Rebell mit dem Messer und grinste erneut auf diese humorlose Weise, die seine bärtigen Wangen teilte und seine Augen so eingesunken wirken ließ. »Der Dschungel zerstört alles, was keine Wurzeln besitzt und zu lange regungslos an einer Stelle bleibt. Ich habe lange genug im Dschungel gelebt, um das zu wissen.«

Tansans Miene war immer noch zweifelnd, und ich fühlte, wie meine Zuversicht schwand.

»Während der Zeit des Feuers habe ich im Lagerhaus des Arbiyesku gearbeitet«, erklärte ich schließlich. »Die Hitze dort ist um die Mittagszeit fast unerträglich. Wenn Kokons nur Hitze und Zeit bräuchten, um Bullen entstehen zu lassen, dann wäre im Lauf der Jahrhunderte längst irgendwo durch Zufall ein Drachenbulle geschlüpft.«

Es herrschte Schweigen, während meine Zuversicht vollkommen schwand und ich verwirrt und unsicher zurückblieb.

»Das Sonnenlicht muss der Schlüssel sein«, sagte Messerträger. »Das ist der größte Unterschied zwischen einem Kokon im Dschungel und einem, der während der Zeit des Feuers in einem Lagerhaus eingeschlossen ist. Das Licht der Sonne.«

Tansan nickte. »So muss es sein. Sonnenlicht, Hitze und Zeit. Dessen haben wir die Kokons beraubt, indem wir sie in die Lagerhäuser sperrten. Das verhinderte, dass die Verwandlung sich vollenden konnte.«

Ich wollte etwas einwenden, schloss meinen Mund jedoch wieder. Sie irrten sich, dessen war ich mir sicher. Langbein hatte den Ritus mit mir nachts vollzogen. Und dennoch hatte Tansan recht: Irgendwo hätte im Lauf der Jahrhunderte wenigstens durch Zufall einmal eine Drachenkuh die Gelegenheit gehabt haben müssen, sich in einen jungen Drachenbullen zu verwandeln, wenn nur Hitze und Zeit dazu nötig waren …

Es musste noch etwas geben. Irgendetwas hatte ich übersehen …

»Wir haben nur wenig Sonnenlicht«, meinte Tansan. »Die Regenzeit hat begonnen.«

»Aber sie hat gerade erst angefangen«, wandte der mit dem Messer ein. »Falls wir ausreichend Hitze erzeugen können, genügt das Licht vielleicht.«

»Wir müssen es versuchen«, sagte Tansan.

Ich nickte, empfand aber keinerlei Zuversicht. Ich übersah etwas, dessen war ich mir jetzt ganz sicher.

»Wirst du allein zu deiner Kontaktperson nach Lireh fliegen?« Tansan wechselte so abrupt das Thema, dass ich einen Moment keine Antwort darauf wusste.

»Während meiner Lehre beim Komikon von Re habe ich nicht gelernt, einen Drachen zu fliegen und Luftkarten zu lesen«, stammelte ich. »Ryn muss mit mir fliegen.«

»Dieser verräterische Akolyth?«, fragte der mit dem Messer. »Er ist nur ein Junge. Er kennt den Weg zur Küste nicht.«

»Er ist ein Botenschüler und kann Karten lesen …«

»Nimm den Suwembai-kam mit, den ehemaligen Drachenmeister von Re.«

Mürrisch willigte ich ein. Im Moment hatte ich nicht den Mumm, zu widersprechen. Nachdem Tansan daran zweifelte, dass die Kokons sich in Drachenbullen verwandeln würden, hatte ich ein unbehagliches Gefühl. Ich übersah etwas.

Der Rebell mit dem Messer stand langsam auf. Er war viel größer, als ich erwartet hatte, mindestens so groß wie Langbein.

»Du fliegst sofort los«, murmelte er und schob das Messer in die lederne Scheide an seiner Hüfte. »Bring von deinem Netzwerk mit, wen du willst. Sollten wir Chinion finden, wird er mit den Leuten sprechen. Und wir beginnen noch heute mit der Arbeit im Lagerhaus des Arbiyesku.«

Das Gift der Drachen Drachen3
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