14
I m dämmrigen Zwielicht überflogen der Drachenmeister und ich den Dschungel. Es herrschte dichter Nieselregen, einer von der Art, der für gewöhnlich einen prasselnden Wolkenbruch ankündigt. Der dicht verwobene Blätterwald tief unter uns glänzte in der Dämmerung, als wären Farnwedel und Schlingpflanzen aus Wassertropfen gemacht, die sich mit dem Regen und dem Zwielicht vermischten.
Wir flogen gleichmäßig dahin, und als uns die tintenschwarze Finsternis umhüllte, ließen wir den nach Lehm und zerquetschten Blättern riechenden Dschungel hinter uns. Allmählich stiegen die Düfte der vielen Meilen Steppe, die sich vor uns erstreckten, durch die stockdunkle Nacht zu uns hoch: der Geruch von trockener Erde, sonnengebleichtem Gras, Termitenhügeln, in der Hitze gesprungenem Gestein. Auch den Regen ließen wir zurück. Auf der Ebene verhöhnten Wind und schwarze leere Wolken das dürstende Land unter sich. Hier gab es keinen Donner, und die Wolkendecke verbarg das funkelnde Licht der Sterne.
Der Flug kam mir zugleich lang und irgendwie verdichtet vor, wie eine gewaltige Schlange, die sich eng um sich selbst gerollt hat. Jeder Nerv in meinem Körper summte vor Anspannung. Wir mussten die Myazedo erreichen, bevor sie die Brutstätte angriffen. Aber unsere Esocas schienen einfach nicht weiter zu kommen; wir hingen in der Finsternis, wurden vom Wind auf der Stelle festgehalten. Ich umklammerte die Holzgriffe des Sattels und mahlte beunruhigt mit den Backenzähnen.
Dann tauchte vor uns ein grauer Fleck in der Dunkelheit auf, der sich zu bewegen schien: Xxamer Zus Tempelkuppeln.
»Die Brutstätte!«, schrie ich.
»Ich bin nicht blind«, knurrte der Komikon mir ins Ohr. Wir ritten beide auf Krötenjägerin, während uns Schweinsnase folgte. Wir hatten beide nicht riskieren wollen, dass ich mit ihr allein fertig werden musste, falls sie ihren Strick zerriss und direkt zu den Botenstallungen flog.
Einige Augenblicke später landeten wir auf einem grasigen Hügel, mehrere Meilen vom Zentrum der Brutstätte entfernt. Die Myazedo sammelten sich auf der windabgewandten Seite des Hügels, dunkle Schatten auf trockenem Gras, die Anstalten machten, den Hügel zu überqueren und weiter durch die Steppe zu ihrem Ziel vorzustoßen, das wie ein schwarzer Flickenteppich in der Nähe zu erkennen war. Die Tempelkuppeln von Xxamer Zu schienen uns im Dunkeln zu verhöhnen.
Die Escoas waren bei den Myazedo, vier dunkle Schatten, die nach Bestie stanken, schnaubten und ungeduldig die Erde mit den Krallen aufwühlten. In der Dunkelheit wirkten ihre gefalteten und mit Bolzen gesicherten Schwingen wie stachelbewehrte Parasiten, die zitternd auf ihren Rücken hockten.
Noch während ich von Krötenjägerins Rücken glitt, kam ein kleiner Schatten auf mich zugerannt.
Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen, als ich Savga vom Boden aufhob und an mich drückte. Sie roch gut, nach Vertrauen und kleinen, schmutzigen Händen. Ich hätte sie am liebsten für immer festgehalten, aber ich ließ sie wieder hinunter. Ich hatte keine Zeit zu verschenken.
»Wo ist deine Mutter, Savga? Ich muss sofort mit ihr sprechen. Es ist sehr, sehr wichtig.«
Sie drehte sich um und streckte die Hand aus. Tansan kam auf uns zu, eine kurvige Silhouette, die einen Speer in der Hand hielt. Ein paar Schritte vor mir blieb sie stehen, gelassen und ruhig. Ihre geraden, kräftigen Schultern harmonisierten perfekt mit den Maßen ihrer Hüften. Die grauenvolle Narbe an ihrem Kinn schimmerte im Dunkeln.
»Savga hat mir erzählt, wie du den Wai Vaneshor dazu gebracht hast, alle freizulassen, die er hatte einfangen lassen, um sie in die Sklaverei zu verkaufen.« Ihr Tonfall war neutral.
Ich wartete. Ihre Augen waren unergründlich, ihr Gesicht verschlossen.
»Du bist mehr, als du zu sein scheinst, Zweite Tochter!«
»Der Felsbrocken schimpft den Kieselstein hart«, stieß der Drachenmeister neben mir bissig hervor.
Tansans Blick zuckte zu ihm, und ihre Lippen wurden schmal. Aber sie antwortete ihm nicht, sondern sah mich an. »Wer bist du, Kazonvia?«
»Das ist eine lange Geschichte, und dies ist weder der rechte Ort noch der rechte Zeitpunkt dafür. Aber ich stehe auf deiner Seite, das musst du wissen. Ich halte zu euch!«
Sie betrachtete mich prüfend. Ich erwiderte ihren Blick und unterdrückte den Impuls, ungeduldig mit den Kiefern zu mahlen. Sie musste selbst entscheiden, ob man mir trauen konnte. Sonst spielte nichts von dem, was ich zu sagen hatte, eine Rolle.
Nach einer langen Pause nickte sie einmal brüsk. »Ich glaube es. Du bist auf unserer Seite.«
Ich stieß den Atem aus, den ich die ganze Zeit angehalten hatte, und wollte etwas sagen, aber sie kam mir zuvor.
»Wir sind bereit, loszuschlagen. Die beiden Boten, die wir vorausgeschickt haben, haben das Zentrum der Brutstätte gestern Nacht erreicht und unsere Myazedo dort informiert. Die Boten sind heute nach Einbruch der Dämmerung zu uns zurückgekehrt. Die Myazedo im Herzen der Brutstätte sind bereit. Von einem Gebäude werden bald zwei brennende Fackeln geschwenkt werden. Das ist das Zeichen für den Angriff.
Wir haben mehrere Gruppen gebildet, die alle eine Aufgabe zu erledigen haben. Einige werden die Wohnbereiche der Drachenjünger umzingeln, alle Ein-und Ausgänge blockieren und die Bewohner töten. Wir wissen, wo die Soldaten postiert sind, wie viele es gibt, kennen ihre Bewaffnung und wissen, wer von ihnen diszipliniert und kampferprobt ist. Einige werden sich vermutlich loyal zu dem neuen Vorsteher verhalten und die Waffen nicht niederlegen. Die werden wir ebenfalls töten.
Andere Myazedo werden durch die Hauptstraße der Bayen gehen. Wir werden alle Waffen einsammeln, die Berater und sämtliche Bayen-Männer töten. Frauen und Kinder dagegen verschonen wir …«
»Warte!«, unterbrach ich sie. »Der Brut-Vorsteher darf nicht getötet werden! Wir brauchen ihn lebend!«
Sie sah mich fragend an.
»Er heißt Rutgar Re Ghepp und ist der Halbbruder von Waikar Re Kratt, dem Lupini von Brut Re«, erklärte ich, während ich das Zentrum von Xxamer Zu im Auge behielt, für den Fall, dass diese Fackeln geschwenkt würden, bevor ich Tansan alles erklären konnte. Wenn ich nicht verhindern konnte, dass ihre Krieger in das Herz Xxamer Zus eindrangen und Ghepp ermordeten, wäre alles umsonst, was ich bei Langbeins Ritus in Erfahrung gebracht hatte.
»Vor einigen Tagen«, fuhr ich hastig fort, »hat Kratt Brutstätte Cuhan mit Billigung des Tempels in Besitz genommen. Als Grund führte er an, dass der dortige Vorsteher mich versteckt hätte. Kratt wusste genau, dass ich nicht in Cuhan war, sondern hat nur seine Muskeln spielen lassen und diesen Vorwand benutzt, um sich zum Vorsteher einer der größten Brutstätten Malacars aufzuschwingen. Die nächste Brutstätte, die er angreift, wird diese sein, wo ich tatsächlich bin … es sei denn, sein Bruder kann ihn durch Verhandlungen hinhalten. Wir brauchen Ghepp lebend, um Kratts Angriff wenigstens noch acht Wochen lang hinauszögern zu können.«
Tansan erstarrte. »Du bist wahrhaftig eine wichtige Person. Aber ich verstehe nicht, welchen Nutzen uns diese acht Wochen bringen sollen.«
»Wenn Ghepp uns seinen Bruder und den Tempel noch acht Wochen vom Hals halten kann, dann garantiere ich dir Macht, Wohlstand und Verbündete. Ich schaffe das, Tansan. Aber ich brauche acht Wochen Zeit.«
Der Drachenmeister neben mir zischte scharf. »Du weißt es! Du weißt es!«
Ich löste meinen Blick nicht von Tansans schwarzen Augen. »Ja, ich weiß es. Ich kenne das Geheimnis, wie man Bullen in Gefangenschaft züchtet. Und ich brauche acht Wochen, um es zu beweisen.«
Als Tansans Blick jetzt über mich glitt, waren ihre Augen nicht mehr schwarz, sondern funkelten und strahlten. Es waren die Augen eines gereizten Drachen.
»Der Vorsteher muss als Geisel genommen und am Leben gelassen werden«, wiederholte ich hartnäckig. »Und es gibt Kinder in den Gebäuden der Drachenjünger, Jungen, die als Sklaven für den Tempel gedacht sind. Die darfst du nicht töten!«
»Alle unterhalb eines bestimmten Alters werden verschont; wer Rishi-Eltern hat, wird befreit. Wir sind keine Barbaren, Kazonvia.«
Die dunklen Silhouetten der Myazedo auf dem Hügel warteten mit sichtbarer Anspannung auf die Feuerzeichen ihrer Mitverschwörer. Der Wind strich seufzend über das Gras. Irgendwo im Zentrum der Brutstätte kläffte ein Hund. Etliche andere stimmten in das Bellen ein.
In diesem Moment züngelten in der Ferne dünne Flammen in die Luft, und die schwarzen Silhouetten auf dem Hügel setzten sich in Bewegung, strömten in Richtung des Tempels von Xxamer Zu.
»Bring meine Kinder und meine Mutter in den Arbiyesku«, befahl Tansan und wandte sich ab. »Bewache die Escoas. Wir werden Lupini Xxamer Zu unverletzt gefangen nehmen.«
»Warte!«, rief ich ihr nach, als sie den Hügel hinabgehen wollte. »Wo ist Ryn?«
»Hier!«, rief ein dünnes Stimmchen. Ich sah drei Schatten etwas weiter unten am Hang stehen bleiben. Sie rangen miteinander.
»Lass den Jungen frei!«, befahl ich Tansan. »Wir brauchen aber einen Führer in den Mauern der Drachenjünger …«
»Er hat dir alles gesagt, was er weiß. Ich habe ihm versprochen, dass ihm nichts geschieht. Lass ihn gehen. Er ist nur ein Kind.«
Tansan spitzte die Lippen, drehte sich um und gab den kämpfenden Schatten ein Zeichen. Überall um uns herum strömten Schatten den Hügel hinab über die Steppe, verschmolzen mit der Dunkelheit, angezogen von dem Leuchtfeuer in der Ferne.
Dann war auch Tansan nur noch ein dunkler Umriss, der mit leichten Schritten auf diese lodernden Zeichen zulief und in der Finsternis verschwand, und Ryn stand vor mir, am ganzen Leib zitternd. Savgas kleine Hand öffnete hartnäckig die Finger einer meiner geballten Fäuste und schob ihre kleine Hand in den Schutz meiner Handfläche, wie sich ein kleines, verängstigtes Tier in seine Höhle flüchtet.
Wir standen auf dem Hügelkamm und beobachteten die flackernden Flammen in der Ferne. Sie wirkten harmlos. Wie seidene Bänder aus Rot und Orange, die von der Schabracke eines Drachen bei einem Umzug flatterten. Dann erloschen die Flammen.
Auf dem Hügel kehrte Stille ein.
Nur der Wind wehte, das Gras raschelte, die Escoas schnaubten. Sattelleder knarrte.
Es schien unmöglich, dass wir das metallische Scheppern der zinnenen Mondtore der Tempelanlage nicht hören konnten, die von den Myazedo aufgestoßen wurden, oder die Schreie, das Flehen, das Gurgeln der Heiligen Hüter, die in ihren Zellen rasch und systematisch ermordet wurden. Wir hörten kein Grunzen von kämpfenden Männern, keine dumpfen Schläge von Klingen, die sich in Fleisch und Knochen gruben oder Bettlaken zertrennten. Wir hörten kein Jammern von Frauen oder Schluchzen von Kindern, als die Bayen-Anwesen gestürmt und ihre Herren niedergemetzelt wurden.
Vielleicht fand der Angriff ja gar nicht statt.
»Agawan ist entwöhnt worden«, sagte eine Stimme. Zum ersten Mal drehte ich mich um und sah Fwipi, die die ganze Zeit, verborgen von der Dunkelheit, neben mir gestanden hatte. Sie trat näher heran, wirkte jedoch fast körperlos, als wäre sie in den letzten Tagen zu einem schwachen Abklatsch von dem geschrumpft, was sie einst gewesen war. »Damit unter anderem hat sich Tansan auf diese Nacht vorbereitet. Sie hat ihren Sohn von der Brust entwöhnt. Wenn sie stirbt, wird er nicht vor Hunger nach ihrer Milch krank werden.«
»Tansan wird nicht sterben«, erwiderte ich und sah wieder zu den dunklen Umrissen des Tempels der Brutstätte.
»Du hast jetzt auch die Drachensicht, stimmt’s? Also ist es ansteckend wie Keuchhusten.«
Ich blickte auf Savga, die immer noch meine Hand hielt.
»Du glaubst nicht, dass Savga durch die Augen des Einen Drachen sehen kann.« Das war eine Feststellung, keine Frage.
Fwipi blickte auf Agawan herunter, der in der Schlinge schlummerte, die Fwipi sich über Schulter und Brust geschlungen hatte. Ein pummeliges braunes Bein baumelte heraus. Die winzigen, vollkommen geformten Zehen rührten sich nicht und waren in der Dunkelheit fast unsichtbar. Fwipi berührte mit ihren welken Fingern sacht diese Zehen.
»Nachdem ich Tansan empfangen hatte«, sagte sie mit einer Ehrfurcht einflößenden Ruhe, »hat meine Großmutter mich nachts in die Steppe geführt, während alle anderen Frauen noch schliefen. Sie hat … Dinge mit mir gemacht. Alte Dinge. Vor allem daran erinnere ich mich noch, dass ich nicht atmen konnte. Ich konnte nicht atmen, weil ich etwas im Mund hatte und würgte. Der Schmerz in meinem Bauch brannte wie Feuer. Ich stieß das Kind aus meinem Bauch, so dachte ich jedenfalls, und dann starb meine Großmutter. Sie fiel mit einem leisen Rums vor meine blutigen Füße. Ich stolperte zurück in unser Frauenhaus. Ich plapperte sinnloses Zeug. Niemand verstand, was ich sagte, und das Blut erschreckte sie. Schließlich folgte meine Mutter meiner blutigen Spur zurück auf die Felder, allein, mitten in der Nacht. Das war dumm. Sie war wütend auf ihre Mutter, und sie hatte Angst um sie, verstehst du? Bis die anderen schließlich begriffen, dass meine Mutter verschwunden war, hatte der Aaswolf sie und meine Großmutter ausgeweidet. Am nächsten Tag begann mein Bauch zu schwellen. Er schwoll sehr schnell an und blieb elf lange Monate dick, bis meine Augen milchig wurden. Tansan wurde mit einem großen Netz über ihrer Haut geboren, das so dick war wie ein Drachenkokon und das Messer der Hebamme stumpf machte, als sie versuchte, es durchzuschneiden. Und ich war anschließend eine alte Frau.«
Ein kühler Windstoß wirbelte kurz um uns. Er schien nach kaltem Sternenlicht zu riechen. Fwipi blickte von Agawan zu mir hoch, während sie weiter seine kleinen, vollkommenen Zehen streichelte.
»Vielleicht irrt meine Erinnerung ja, oder vielleicht wurde ich, wie manche behaupten, zwei Monate, nachdem ich den ersten Fötus verloren hatte, erneut vergewaltigt. Die Wahrheit ist wie der Wind. Er weht hierhin und dorthin. Er steht nie still, aber er berührt dennoch alles. Vielleicht also besitzt Savga die Drachensicht, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wird Tansan heute Nacht sterben, vielleicht auch nicht. Frag mich nicht mehr, was ich glaube, Kazonvia. Es gibt nur Tod und Hoffnung und Ungewissheit.«
Der Drachenmeister hatte Fwipi aufmerksam zugehört. Dann stieß er ein kehliges Brummen aus und stampfte vor sich hin murmelnd zu den Drachen. Dort bückte er sich und löste ihre Fußfesseln.
Ich drehte mich um und winkte brüsk Ryn zu mir, der jetzt ein einfaches Wams trug. »Geh und hilf ihm. Wir fliegen weg.«
Ich kniete mich neben Savga, den Rücken Fwipi zugekehrt. Savga starrte eindringlich in die Finsternis. Ihre kleinen Nasenflügel bebten.
»Komm, geschäftige Ameise«, sagte ich zärtlich. »Wir fliegen nach Hause.« Keau kam im Morgengrauen, um mich zu holen; er brachte die Kunde, dass die Tempelgebäude erobert wären, Tansan lebte und Lupini Xxamer Zu unverletzt als Geisel gehalten wurde.
Um eine Hand Keaus war ein edler, weißer, blutdurchtränkter Stoff gewickelt. Keau hob die verwundete Hand und verzog die blutigen Lippen zu einem Grinsen. Dabei entblößte er zerbrochene und ausgeschlagene Zähne. »Ich habe einen Finger verloren, heho, aber eine Klinge erbeutet.«
Mein Blick glitt zu seiner Hüfte. Irgendwie schien die vergoldete Säbelscheide mit den Türkisen nicht so richtig zu seinem einfachen Lendenschurz zu passen. Ich erkannte die Scheide sofort. Sie hatte dem Bayen gehört, der in meiner zweiten Nacht im Arbiyesku gekommen war und Tansan mitgeschleppt hatte.
»Mir war nicht klar, dass du verstehst, einen Mann zu töten«, sagte ich zu Keau. Ich hasste das Grinsen auf seinem Gesicht und den Funken von befriedigter Rachsucht, der in meinem Inneren glomm, weil der Vergewaltiger tot war.
Keau zuckte mit den Schultern, ohne dass sich sein Grinsen verändert hätte. »Wir haben ihn zu zweit erledigt.«
Sobald sie wusste, dass ihre Mutter am Leben war, willigte Savga ein, auf dem Hof des Arbiyesku zu bleiben und mich nicht zu begleiten. Immerhin hatte sie Oblan und Runami einiges über ihren Flug auf dem Rücken eines Drachen und ihre Abenteuer im Dschungel zu berichten. Die Unschuld und Zähigkeit dieses Kindes überraschten mich.
Der Drachenmeister dagegen bestand darauf, mich zu begleiten.
Der Wind aus Südwesten wehte den schlammigen Geruch des Brut-Flusses und den rußigen Aschegeruch eines erloschenen Feuers heran. Der Himmel über uns wirkte wie ein Meer aus warmem Stahl. Im Südosten wurden die undeutlichen Spitzen der Dschungelberge von einer schwarzen Wolke verdeckt. Wir liefen zum Zentrum der Brutstätte, während wir Keau mit Fragen überhäuften.
»Wie viele sind getötet worden?«, fragte ich.
Wieder grinste Keau strahlend. »Es war eine gute Nacht; der Beschwingte Unendliche war uns wohlgesonnen. Wir stapeln die Leichen bereits auf Scheiterhaufen.«
»Werft sie in die Stallungen und verfüttert sie an die Brutdrachen«, erwiderte der Drachenmeister. »Die Tiere brauchen reichhaltige Nahrung.«
Das Lächeln auf Keaus Gesicht erlosch. Wie widersprüchlich, dass er zwar einen Mann ohne Gewissensbisse töten konnte, ihn aber der Gedanke entsetzte, den Leichnam an einen Drachen zu verfüttern.
Ich ignorierte den Drachenmeister. »Ich meinte, wie viele der Myazedo getötet wurden.«
»Keiner.« Keau ballte die Hand vor seiner Brust, während er weiter neben uns herlief. Er atmete schwer und schwitzte. Die Blässe seiner Wangen ließ die grünen Flecken auf seiner Haut deutlich hervortreten. Vermutlich wäre es besser gewesen, wenn er nicht gerannt wäre. »Einige wurden schwer verletzt, aber unser Angriff war sehr erfolgreich. Wir haben wie die Wölfe zugeschlagen. Schnell und tödlich. Es war ein guter Angriff.«
Banditen, die Krieg führen. Menschen, die Aristokraten ausplündern und sie vergewaltigen. So etwas trägt niemals zum Erfolg einer Rebellion bei, Blut-Blut.
Danach rannten wir schweigend über das weiche, staubige Gras, bis wir die Hauptstraße der Bayen erreichten. Von dort an gingen wir langsam weiter.
Einige Fenster waren eingeschlagen worden, und ein Haus war ausgebrannt. Die weißen Steine seiner Fassade waren von rußigen Flecken überzogen, während öliger Rauch aus der dachlosen Ruine quoll. Ich erschauerte. Wahrlich, der Eine Drache war uns wohlgesonnen gewesen. Solch ein Feuer hätte, wenn der Wind die Funken weit über die Steppe getragen hätte, leicht die ganze Brutstätte in Flammen setzen können.
»Eine umgestürzte Laterne«, erklärte Keau. »Ein Versehen.«
»Wir haben Glück gehabt«, erwiderte ich grimmig.
»Wir sind vorsichtig.« Keau deutete mit dem Kinn auf etliche rußverschmierte Männer in Lendenschurzen. Sie hatten sich schwarze Tücher vor die Münder gebunden und trugen Bayen-Stiefel an den Füßen, während sie Schaufeln und Hacken in den ebenfalls rußverschmierten Händen hielten.
»Myazedo?«, erkundigte ich mich.
»Leibeigene, die von den Familien und Freunden der Myazedo gerufen wurden.«
In einem der Anwesen sah ich ein Kindergesicht an einem Fenster. Es spähte hinter einem Vorhang auf die Straße hinab. Es war ein Mädchen, schwarzhaarig, mit elfenbeinfarbener Haut, höchstens sieben Jahre alt. Unsere Blicke trafen sich. Das Kind verschwand.
»Die Bayen-Frauen und -Kinder sind immer noch in ihren Häusern?«
»Ja«, erwiderte Keau. »Zum Teil sind ihre Diener bei ihnen geblieben, andere sind allein in ihren Anwesen. Sie haben genug Vorräte in ihren Kellern und Wasser in ihren Zisternen. Jedes dieser Häuser hat eine Zisterne. Bedienstete müssen dafür sorgen, dass sie stets gefüllt ist, wusstest du das?« Er hatte die Augen vor Staunen weit aufgerissen.
Wie lange werden ihre Diener ihnen wohl die Treue halten?, dachte ich.
Am anderen Ende der Hauptstraße arbeitete eine Gruppe Djimbi. Geier und Aasvögel flogen in großen, weiten Kreisen hoch über uns. Der Wind trug den Gestank von Exkrementen, Blut und Tod zu uns. Auf einen grausigen Leichenhaufen wurden weitere Tote geworfen. Man hatte ihnen alle Habseligkeiten abgenommen. Aus dem Durcheinander ragten Arme und Beine starr hervor.
Ob das Bayen-Kind am Fenster wohl den Leichnam seines Vaters in diesem Haufen hatte erkennen können? Ich hoffte inständig, dass dem nicht so war.
Wir bogen in eine Gasse ein, die uns zum Marktplatz führte. In der Nähe des Haupteingangs der Tempelanlage hatte sich eine Menschenmenge gebildet, die hauptsächlich aus ganz jungen und alten Männern und Frauen bestand. Sie hockten auf dem Boden oder standen in Gruppen zusammen und schienen mit der für Leibeigene typischen Geduld auf etwas zu warten. Sie beobachteten uns, als wir näher kamen. Myazedo-Kämpfer mit Bayen-Waffen um die Hüften bewachten die Tore innerhalb des Geländes.
Als wir uns durch die Menge drängten, schlurften die Menschen zur Seite, schweigend und wachsam. Einer der Myazedo hinter dem Tor nickte Keau zu und öffnete das Eisengitter. Ohne Fragen oder Kommentare wurden wir hereingelassen.
»Was wollen diese Menschen?«, fragte ich Keau. Unwillkürlich hatte ich die Stimme gesenkt, ohne sagen zu können, warum.
Wieder zuckte er beiläufig mit den Schultern. »Sie haben von der Befreiung gehört. Vielleicht warten sie auf die Eier, das Fleisch und das Getreide aus den Vorratskellern der Drachenjünger; oder aber ihre Brüder oder Onkel haben sich freiwillig gemeldet, um die Leichen wegzuschaffen, und sie warten jetzt auf die Gewänder und Stiefel der Toten.«
Noch während er das sagte, überquerte ein alter Djimbi eine der steinernen Brücken über die nicht existierenden Teiche innerhalb der Tempelanlage. Seine dürren Arme waren mit purpurnen und efeugrünen Gewändern beladen. Ich blieb stehen und sah zu.
Er ging zu dem hohen Eisenzaun, der die Anlage umschloss. Einige aus der Menge der Wartenden traten rasch vor. Es gab kein Gerangel oder Geschrei, ja nicht das kleinste Zeichen von Ungeduld, als sich Hände durch das Gitter streckten, um ein Messgewand oder eine Robe oder einen Schulterüberwurf entgegenzunehmen. Die Myazedo-Kämpfer am Zaun brüllten auch niemanden an, er solle zurückweichen. Nein. Diese Verteilung der Beute ging so zivilisiert über die Bühne, wie ich es mir nur vorstellen konnte.
Ich drehte mich wieder zu Keau und dem Drachenmeister um. Letzterer hatte sich nicht die Mühe gemacht, dem Schauspiel zu folgen, sondern führte murmelnd Selbstgespräche und fuhr heftig mit den Händen durch die Luft, als wollte er einen Punkt besonders unterstreichen.
»Ich habe den Schulterüberwurf eines Akolythen unter diesen Kleidungsstücken gesehen«, murmelte ich, als wir Keau eine kühle Steintreppe hinauffolgten. »Die Akolythen sollten doch nicht getötet werden.«
»Vielleicht hat dieser sich gewehrt«, erwiderte Keau und blieb auf dem obersten Treppenabsatz stehen. Er sah mich an, und in seinem Blick lag zum ersten Mal die Trauer über all die Menschenleben, die diese Nacht gekostet hatte. »Es gab viel Lärm, heho! Viel Geschrei, viel Verwirrung. Und wir mussten schnell vorgehen. Einige von uns sind keine ausgebildeten Krieger und hatten vielleicht Angst. Wir mussten so schnell handeln.«
Da verstand ich. Sein Schulterzucken war kein Zeichen von Beiläufigkeit gewesen. Er wollte nicht über die vergangene Nacht reden, wurde von Dingen verfolgt, die er mitangesehen und getan hatte.
Ich trat von der schmierigen, braunen Pfütze aus getrocknetem Blut an der Steinwand dicht neben meinem Kopf weg und folgte Keau zu Tansan.