18
Der von den Bris herbeigerufene Heiler sagte, der Dra chenmeister läge in einem Koma, aus dem er nicht mehr erwachen würde.
Jotan nickte grimmig. Blass und schweißüberströmt wegen der nachlassenden Wirkung des Giftes, stand sie neben dem Bett, in das man den Drachenmeister gelegt hatte. Sie hatte ein sauberes Kleid angezogen und sich hastig ihr Haar zu einem Zopf geflochten. In der Abgeschiedenheit meines Gemachs hatten zwei schweigende Mägde mich gewaschen und ebenfalls umgekleidet, so dass ich jetzt einigermaßen vorzeigbar aussah, trotz meiner Prellungen, der geschwollenen Lippen und der späten Stunde.
Aber auch saubere Kleidung und große Mengen von Rosenöl konnten den Duft von Gift und Sex nicht überdecken, der um Jotan und mich schwebte. Ebenso wenig wie den Geruch von Erbrochenem, den ich ausstrahlte. Mir war speiübel geworden, nachdem ich mich zusammen mit Jotan dem Gift hingegeben hatte. Ich war bestürzt darüber, dass ich dem Verlangen nach diesem Gift erneut nachgegeben hatte, und noch dazu so bereitwillig. Schließlich war ich nach Lireh gekommen, um eine Revolution anzuzetteln, einen Krieg zu beginnen. Ich besaß Wissen, das eine jahrhundertelange Unterdrückung beenden konnte, und hatte darüber hinaus geschworen, mich nie wieder dem Gift hinzugeben. Keine Halbheiten! Das war mein Mantra, mein Motto, das Prinzip, das meine kühne Zuversicht stützte, seit ich aus Ghepps Verlies entkommen war.
Und doch war ich beim ersten Anblick, beim ersten Duft von Gift schwach geworden und hatte mich ihm ergeben. Großer Drache, wie sehr ich mich dafür verachtete!
»Ich hatte das Bedürfnis, jemandem einen derartigen Hieb gegen den Schädel zu versetzen, seit man mir das angetan hatte.« Jotans Stimme klang heiser und leise. Ich erinnerte mich daran, wie sie im Gefängnis bewusstlos geschlagen worden war, unmittelbar vor unserer Rettung. Allerdings war ihr Schädel dabei nicht eingebeult worden wie die Schale eines hohlen Kürbisses. »Ich nehme an, ich sollte dankbar sein, dass ich das überlebt habe.«
»Du nimmst es an?«
Jotan deutete mit einem gleichgültigen Ruck ihres Kinns auf den Drachenmeister. »Er konnte das Gift an mir wahrnehmen. Deshalb hat er mich angegriffen.«
»Der Drachenmeister mag keine Frauen«, murmelte ich. »Er hat den Kampf um seine geistige Klarheit schon vor langer Zeit verloren. Nur deshalb ist er wild geworden, aus keinem anderen Grund.«
Aber noch während ich das sagte, wurde mir klar, dass Jotan recht hatte. Der Geruch des Giftes, der Jotan wie das Aroma von überirdischem Moschus umgab, hatte den Anfall des Komikon ausgelöst. Wie würde ich sein, wenn ich erst so alt war wie er?
Ich sah zu dem Heiler hinüber, musterte sein langes, schmales Gesicht. Mit großer Konzentration packte er Gegenstände aus den Schubladen des Rollwagens, den er in das Gemach des Drachenmeisters geschoben hatte. Er wirkte kein bisschen irritiert, dass man ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte, damit er sich um einen Fremden kümmerte, der von zwei Frauen angegriffen worden war. Aus Jotans gelassener Miene schloss ich, dass dieser Kenner der umfassenden Heilkünste auch von ihrer ungesetzlichen Sucht wusste. Wie hatte sie sich wohl sein Schweigen und seine Loyalität erkauft?
Schließlich richtete ich meinen Blick wieder auf die wächserne Hülle des Drachenmeisters. Das Kissen unter seinem Kopf war von der bernsteingelben Flüssigkeit durchtränkt, die aus dem Riss in seinem Schädel sickerte. Seine Augen sahen aus, als hätte jemand mit der geballten Faust darauf geschlagen, und sein Gesicht war merkwürdig schief, als wäre eine Hälfte nach unten verrutscht. Er wirkte grotesk und fremd auf mich. Unwillkürlich dachte ich an meine Mutter, daran, wie sie in den letzten Tagen ihres Lebens ausgesehen hatte, nachdem jemand ihr mit dem Stiefelabsatz den Kiefer zertrümmert und die Nase gebrochen hatte.
Was empfand ich? Überlegene Gleichgültigkeit? Furcht? Erleichterung? Entsetzen?
Nein. Es war ein weit vertrauteres Gefühl: Zorn.
Ich war ärgerlich, weil der Drachenmeister Jotan angegriffen hatte, wütend, weil diese Attacke ein so primitives Gefühl von Gewaltbereitschaft in mir ausgelöst hatte. Wütend, dass er sich geweigert hatte, sich unseren Fäusten und Zähnen zu ergeben, und zornig, weil er im Koma lag und wahrscheinlich nicht überleben würde. Ich war ergrimmt, weil ich jetzt keinen Drachenmeister hatte, der meine jungen Bullen ausbilden konnte … falls aus diesen Kokons überhaupt Bullen schlüpften. Und am meisten erzürnte mich, dass ich Gift genommen hatte.
Ich hatte rasende Kopfschmerzen und sehnte mich nach Wasser, Dunkelheit und Schlaf.
Der Heiler verband die Wunde über Jotans linker Brust, in die der Drachenmeister seine faulen Zähne gegraben hatte. Jotan saß dabei steif auf dem Rand des vornehmen Bettes, in dem der Komikon lag, hatte die Augen geschlossen und atmete scharf ein, als der Mann eine Nadel durch ihre Haut stach und den Katzendarm festzog, um die Wunde zu schließen. Ich ließ mich in einen Sessel am Kamin fallen.
Und schlief ein.
Als Jotan mich weckte, war der Heiler verschwunden. Ich hatte einen steifen Hals, und mein Mund war staubtrocken. Das Feuer im Kamin war schon lange erloschen. Jotan trug einen prachtvollen, rostroten Bitoo, dessen üppige Falten bis zu den Bodenfliesen reichten und dessen Kapuze weich gefüttert war.
»Wir reisen inkognito«, erklärte Jotan. Ihre Stimme war noch immer rauchig vom Gift und unserem Sex. Sie warf mir einen Bitoo aus taubengrauer Muschelseide zu, der schwer in meinem Schoß landete und dabei auseinanderglitt. »Der ist für dich.«
»Wie spät ist es?«, krächzte ich und stand auf.
»Später Vormittag.«
»Du hättest mich wecken sollen!«
»Der Bote Domsti ist bereits unterwegs zu Brutstätte Swensi, um Malaban zu holen. Nein, nicht«, unterbrach sie mich mit einem hochmütigen Lächeln, als ich Anstalten machte, aus meinem Gewand zu schlüpfen. »Diesen Bitoo trägst du über dem Kleid, um dich vor rauem Wetter zu schützen.«
Ich errötete über meine Unwissenheit und zog mir gereizt den glatten Stoff über den Kopf. Er glitt an meinem Körper hinunter und fiel bis zu meinen Füßen. An meinen nackten Armen fühlte er sich weich und kühl an, wie Schlangenhaut.
»Warum ist dein Dämon gestern Nacht nicht gekommen, um den Drachenmeister zu unterwerfen?«, wollte Jotan wissen.
Mit einem Ruck blickte ich zu ihr hoch. Ich hatte vollkommen vergessen, dass Jotan während unserer Gefangenschaft einmal Zeuge der brutalen Macht geworden war, mit der sich der Geist meiner Mutter durch mich manifestiert hatte.
»Er ist verschwunden«, erwiderte ich brüsk. »Der Geist hat mich verlassen.«
»Warum?«
Ich zupfte die Ärmel meines Bitoo zurecht, um sie nicht ansehen zu müssen. »Das weiß ich nicht.«
»Ah.« Sie durchschaute meine armselige Lüge, hatte jedoch keine Vorstellung, inwieweit meine Enthüllung die zukünftigen Ereignisse beeinflussen könnte.
Ihre Frage führte mich zu einer eigenen Frage an sie. »Ein Mann, der Wai Vaneshor von Xxamer Zu, hat euch vor noch nicht allzu langer Zeit einen Besuch …«
»Der Rebell Genrabi, ja. Ein ehemaliger Drachenjünger.«
»Du kennst ihn?«
»Ich sagte es dir doch schon: Seit meiner Flucht aus dem Kerker habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, alles zu wissen. Ich habe gewisse Diener dazu ausgebildet, mir bei der … Beschaffung von Informationen zu helfen.«
Ich nickte bedächtig. »Gen kam also her …«
»… mit der Bitte an Malaban, einem Adligen, der aus Xxamer Zu vertrieben werden sollte, einen einflussreichen Posten zu beschaffen. Damit die Einrichtung und die Steine des Hauses dieses Bayen als Tauschobjekt für den Erwerb eines Reittiers aus Brutstätte Diri verwendet werden konnten. Ein sehr dummer Plan, wenn ich das hinzufügen darf, da ja der Verkauf von ein paar Sklaven genügt hätte.«
Entweder waren ihre Spione sehr gründlich, oder aber Malaban hatte wirklich keine Geheimnisse vor ihr. Ich vermutete Ersteres. Ein Handelsbaron, der an einem Aufstand beteiligt war, würde wohl kaum bereitwillig sein gesamtes Wissen mit einer Süchtigen teilen, die vom Tempel drachengiftabhängig gemacht worden war und jetzt von ihm gesucht wurde.
»Weißt du, wohin Gen von hier aus gegangen ist?«, fragte ich Jotan. Ich bemühte mich um eine ausdruckslose Miene, während ich ihr Gesicht scharf beobachtete. Wer Geheimnisse sammelt, hat selbst auch welche. »Er ist nie nach Xxamer Zu zurückgekehrt.«
»Er wollte auch nicht nach Xxamer Zu.« Ihre Miene verriet ihr Vergnügen daran, dass sie mehr wusste als ich. »Er ist direkt nach Cuhan geflogen.«
»Nach Cuhan?« Ich griff nach dem Wasserkrug auf dem Tisch neben mir. »Zur Brutstätte Cuhan?«
»Es gibt nur diese eine.«
Ich schenkte Wasser in meinen Becher, während meine Hände sichtbar zitterten. »Hat Gen dir den Grund verraten?«
»Nein. Möchtest du meine wohlbegründete Vermutung hören?«
Ich war über ihren entzückten Ton nicht einmal verstimmt. Ich nickte nur und trank einen Schluck von dem mit Minze versetzten Wasser.
Jotans Augen funkelten. »An dem Tag, an dem Genrabi abflog, brodelte die Stadt von Gerüchten, dass Lupini Re seine Djimbi Wai-Ebani aus Sicherheitsgründen nach Liru gebracht hätte. Im Anschluss daran soll er sich die Herrschaft über Brutstätte Cuhan gesichert haben, angeblich, weil diese Brutstätte dir, der Drachenhure, Unterschlupf auf dem Drachensitz gewährte. Die Leute lieben es, dich zu hassen, Zarq. In diesem einen Punkt sind sich die Bayen, die Ikap-fen und der Tempel einig: Sie alle schreien nach deinem Tod.«
Ich trank noch mehr Wasser und zwang meine Hände zur Ruhe. Vor allem ein Satz, den Jotan soeben geäußert hatte, machte es mir schwer, mich weiterhin auf ihre Worte zu konzentrieren. Lupini Re hat seine Djimbi Wai-Ebani aus Sicherheitsgründen nach Liru gebracht. Meine Schwester, Waivia, war erst kürzlich in Liru gewesen, konnte immer noch hier sein. Jotan bemerkte meine Zerstreutheit nicht. »Während die Berichte«, fuhr sie fort, »die von Brutstätte Cuhan durch Botenflieger hereinkamen, zwar nicht eindeutig bestätigten, dass man dich gefangen genommen hatte, war in allen von dem Auftauchen eines Himmelswächters die Rede. Ein Himmelswächter. Man sagte, dass Lupini Re ihn für seine heilige Mission nach Cuhan beschworen hätte. Genrabi ist nach Cuhan geflogen, um sich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen. In vielen Gesprächen mit Malaban hat er behauptet, du wärest die Tochter dieses Fabelwesens. Ich glaube, es beunruhigte ihn, dass diese mächtige Kreatur Lupini Re nun angeblich dabei half, dich zu finden, um dich zu töten.«
Wie viel erriet Jotan, und wie viel wusste sie?
»Und seitdem wurde Gen weder gesehen, noch hat man etwas von ihm gehört«, erwiderte ich mit belegter Stimme.
Sie nickte. Der Blick ihrer vom Gift gezeichneten Augen verzehrte mich förmlich.
»Hat Kratt …«, meine Kehle war so trocken, dass ich kaum sprechen konnte. Ich trank noch einen Schluck Wasser. »Hat Kratt ihn eingekerkert?«
»Nach dem wenigen, was ich über Genrabi weiß, vermute ich, dass er viel zu gerissen war, um Kratt über seine Anwesenheit in Cuhan zu informieren. Ich habe gehört, dass in der Brutstätte das blanke Chaos herrschte. Überall flogen Boten, die Leute des Tempels und Kratts Soldaten auf ihren Escoas und Kampfdrachen herum. Vielleicht konnte Genrabi in dieser allgemeinen Verwirrung unbemerkt hineingelangen. Er scheint geschickt in der Kunst der Verkleidung zu sein.«
Allerdings. Sehr geschickt.
Ich trank noch mehr Wasser, bevor ich meine nächste Frage stellte. »Diese Djimbi Wai-Ebani, die Kratt nach Liru geflogen hat … weißt du zufällig, ob sie schwanger ist?«
»Seit zwei Tagen ist sie es nicht mehr. Sie hat einen gesunden Jungen zur Welt gebracht. Und zwar, wenn ich das hinzufügen darf, mit Hilfe derselben Hebamme, deren Dienste eine meiner Schwestern in Anspruch nimmt.«
Fast hätte ich mein Glas fallen lassen. »Kratts Ebani ist noch in Liru?«
Jotans Augen verengten sich fast unmerklich. »Ja, warum?«
»Ich … Weißt du, wo sie ist?«
»Ich habe dir bereits mehrmals gesagt, dass ich es mir zur Aufgabe gemacht habe, gut informiert zu sein.«
»Kannst du …« Mein Herz hämmerte so heftig, dass ich kaum reden konnte. »Kannst du ein Treffen zwischen ihr und mir arrangieren?«
Jetzt riss Jotan die Augen auf. »Mir ist absolut nicht klar, warum du deine Anwesenheit hier ausgerechnet der Wai-Ebani des Mannes offenbaren willst, der wie ein Verrückter darauf erpicht ist, dich umzubringen.«
Ich ging das Risiko ein. »Wir sind Halbschwestern.«
Jotan öffnete vor Verblüffung den Mund. Dann jedoch wurde ihr Gesicht hart vor boshafter Freude. »Wie interessant das Leben doch sein kann. Wissen noch andere davon?«
»Kratt weiß es mittlerweile vielleicht. Ich bitte dich um dein Vertrauen und deine Diskretion. Niemand anders darf es erfahren.«
»Verstehe. Das ist wirklich außerordentlich interessant.« Ihre Augen funkelten. »Und du vertraust darauf, dass deine Halbschwester dich nicht sofort an Kratt ausliefert?«
»Das wird sie nicht.« Ich sagte das ohne jedes Zögern oder irgendwelchen Zweifel. Hätte Waivia mich an Kratt verraten wollen, hätte sie das mit der Macht des Geistes tun können, und zwar schon vor langer Zeit.
»Es geht also nur um den kurzen Besuch einer Tante, die ihren neugeborenen Neffen sehen will?«
»Etwas von der Art«, erwiderte ich ausweichend. »Kannst du das arrangieren oder nicht?«, fuhr ich dann angespannt fort. »Spiel nicht mit mir, Jotan.«
Sie grinste und zwinkerte. Ihre Augen waren schwarz wie Basilisken. »Betrachte die Angelegenheit als erledigt. Wäre dir morgen für den Besuch genehm? Du hast es ja recht eilig, nach Xxamer Zu zurückzukehren.«
Ich nickte kurz und bedankte mich so freundlich, wie ich es vermochte.
Jotan musterte mich einen Augenblick, legte dann den Kopf auf die Seite und trat einen Schritt auf mich zu. »Zarq, dir ist klar, dass ich ein Problem habe.«
Sie sprach offenkundig nicht von ihrer Sucht nach dem Gift.
»Du platzt hier herein, eine Frau, die gesucht und von allen gehasst wird. Dann sagst du mir, du wüsstest, wie Drachenbullen in Gefangenschaft gezüchtet werden könnten. Du erklärst, du und eine Gruppe von Rishi hätten die Kontrolle über Xxamer Zu erlangt, eine vollkommen unbedeutende Brutstätte am Rande des Nichts, über die der langweilige Halbbruder von Lupini Re kürzlich die Herrschaft gewonnen hat durch eine Wette in der Arena, für die mein Bruder gebürgt hat.«
Ich stellte das Glas sehr, sehr behutsam auf den Tisch.
»Du bittest mich um Geld«, fuhr Jotan fort. »Um Waffen. Schutz. Du willst, dass wir die Schiffe des Imperators versenken und helfen, Angriffe gegen andere Brutstätten zu koordinieren, damit du ihre Bullen stehlen kannst. Du schleppst einen verrückten alten Mann mit, der mich angreift. Du sagst mir, dein Dämon hätte dich verlassen, aus Gründen, die weiterhin unklar sind. Aber eines, eine einzige Sache, sagst du mir nicht. Du sagst mir nicht, wie du es anstellen willst, Drachenbullen zu züchten.«
Ich dachte an die Briefe, die sie letzte Nacht verfasst hatte, fragte mich, was genau sie darin geschrieben und ob sie sie überhaupt wirklich losgeschickt hatte.
Ich sah sie an. »Bin ich hier Gast oder Gefangene?«
Sie blähte die Nasenflügel. »Gast natürlich.«
»Bis Malaban eintrifft und entscheidet, wie mit mir verfahren wird.«
»Ich brauche keine Hilfe von meinem Bruder, um Entscheidungen zu treffen!«, erwiderte sie bissig.
»Was willst du dann von mir? Ich kann keine Drachenbullen als Beweis für meine Behauptung aus dem Ärmel ziehen. Dafür brauche ich Zeit, ein bisschen Zeit, nicht viel, und außerdem benötige ich deine und die Hilfe der Leute, die du kennst, damit sie mir diese Zeit verschaffen.«
»Ich will nicht zum Narren gehalten werden, Zarq. Verstehst du das? Ich will nicht als Idiotin dastehen.«
Schlagartig wurde mir alles klar.
Jotan wusste, was das Drachengift aus einem Menschen machen konnte. Der Drachenmeister war die Verkörperung der geistigen Verwirrung, die alle vom Gift Abhängigen am Ende erwartete. Und Jotan war abhängig davon. Sah sie den Drachenmeister an, dann hatte sie ihre eigene Zukunft vor Augen, und gegen die kämpfte sie, nicht gegen mich. Deshalb klammerte sie sich so sehr an die Überlegenheit ihrer gesellschaftlichen Position, an ihre Intelligenz und ihren Verstand; sie, die einst an der Ondali Wapar Liru gelehrt hatte. Weil sie Angst hatte, ihren Verstand zu verlieren und damit ihren Status, den Respekt der anderen Menschen. Seit ihrer Rettung aus dem Tempelverlies fand ihr Leben nur noch hinter den Mauern der Bri-Villa statt. Ihr war nur ihr Kreis aus Spionen geblieben, ihre Suche nach Wissen, Informationen, ihr Gefühl der Überlegenheit. Wurde sie als eine schwachsinnige Süchtige abgetan, würde sie auch das verlieren. Drachengift war das Einzige, was ihr dann noch blieb.
»Ich erzähle dir die Wahrheit«, erwiderte ich entschieden. »Ich besitze eine Brutstätte, und ich kenne das Geheimnis, wie man Bullen züchtet.«
Beide Behauptungen entsprachen der Wahrheit. Aber nur zur Hälfte.
»Ich werde nicht noch einmal in einem Verlies des Tempels landen«, stieß sie heftig hervor. »Und ich werde auch nie wieder in einem von Kratts Lustzimmern Gast sein.«
Also hatte Kratt mit Jotan die Felder der perversen Grausamkeit erkundet, nachdem er sie und mich aus dem Verlies des Tempels entführt hatte. Ich war davon überzeugt gewesen, dass seine Intelligenz seinen brutalen Drang, aus Lust zu quälen, überwunden hätte. Offenbar hatte ich mich geirrt.
»Das wird nicht wieder geschehen«, versicherte ich Jotan. Sie deutete auf den Drachenmeister. »Ich werde nicht zögern, dasselbe mit dir zu tun, wenn es zum Äußersten kommt. Hast du das kapiert?«
Ich nickte. Natürlich verstand ich sie. Ich hatte keinen Drachenmeister, keine Verbündeten bis auf einen zerlumpten Haufen wilder Rebellen und keine Ahnung, welches entscheidende Detail ich während des schwarzen Ritus übersehen hatte, dem mich Langbeins Stamm unterworfen hatte. Drachenjünger Gen, mein einstiger tapferer Beschützer, hatte mittlerweile korrekt gefolgert, dass ich nicht die Tochter des Himmelswächters war. Und zu allem Überfluss hatte die Frau, unter deren Dach ich mich geflüchtet hatte, mir soeben gedroht, mich zu töten, wenn sie dazu provoziert würde.
Oh ja, ich verstand meine Lage vollkommen.
Jotan stellte mich ihrer Mutter nicht vor. Dieser Vorschlag war nur eine List gewesen, um mich vom Drachenmeister wegzulotsen, damit sie und ich ihren Gifthändler in der Ondali Wapar Liru, dem akademischen Quell von Malacars Hauptstadt, aufsuchen konnten. Natürlich war dieser Trick hinfällig geworden, nachdem Jotan den Drachenmeister bewusstlos geschlagen hatte.
»Mein Händler ist ein ehrwürdiger Akademiker an der Wapar«, erklärte Jotan, wobei sie einen der Vorhänge der Sänfte zurückschob und auf die Straße spähte. Ich benutzte zum ersten Mal eine solche Sänfte, und diese Erfahrung gefiel mir überhaupt nicht. Die schaukelnden Bewegungen des Transportmittels, das von Sklaven auf den Schultern getragen wurde, bereiteten mir Übelkeit. Zudem fand ich den gepolsterten Innenraum erdrückend. Ich versuchte mein Unwohlsein zu überspielen, indem ich mich auf Jotans Worte konzentrierte.
»Er ist einer von Malacars führenden Autoritäten, was Drachen und Gift angeht, aber seine Standesgenossen mögen ihn nicht sonderlich, weil er weder den Imperator noch Politik schätzt. Ihn interessieren nur seine Studien; er nennt es Drachenwissenschaft.«
»Dennoch darf er lehren«, meinte ich. »Und wurde nicht verhaftet.«
»Er ist fa-pim, und er ist ein Mann.«
»Was gibst du ihm im Austausch für das Gift?«
Sie blickte weiter aus dem Fenster. »Das siehst du noch früh genug.«
Danach verfielen wir in Schweigen. Um mich von dem Schwanken dieser Kiste, in die wir eingeschlossen waren, abzulenken, hob ich eine Ecke des Vorhangs und betrachtete den gewaltigen menschlichen Bienenstock dahinter.
Vogelhändler, Musiker, Astrologen und Schwarzmagier bevölkerten die gepflasterten Straßen. Ihre verschiedenen Berufe wurden von den Vögeln oder Messinginstrumenten angezeigt, die sie bei sich trugen, oder ihren prachtvollen Gewändern. Bäcker, Konditoren und Metzger arbeiteten in Geschäften mit steinernen Fassaden, aus denen Wohlgerüche drangen. Vor den Läden von Putzmacherinnen und Schmuckhändlern standen Sänften, neben denen regendurchnässte, halb nackte Träger herumlungerten. Fa-pim-Frauen mit unglaublichen Turmfrisuren bewegten sich hinter den Fenstern von Stoffgeschäften, und als wir wegen des dichten Verkehrs an einer Ecke stehen bleiben mussten, beobachtete ich eine Frau, die sich in einem Spiegel betrachtete und ihr Urteil über eine lange Brokatrobe abgab, die mit einem schwarz-weiß gefleckten Fell von irgendeinem in nördlichen Gefilden lebenden Tier besetzt war.
Wir schaukelten durch das Haupttor der Wapar und wurden durch einen Garten getragen, in dem Sträucher blühten und Springbrunnen plätscherten. Der Hof war riesig, fast so groß wie eine kleine Obstplantage. Eine Klauevoll Djimbigärtner pflegte ihn. Sie arbeiteten mit großen Scheren und Schaufeln und schoben Handkarren umher. Dann marschierten unsere Träger eine lange Treppe mit niedrigen Stufen hinauf, vorbei an einem Museum und einer Bibliothek. Jedes Gebäude auf der langen Promenade hatte ein Säulenportal und war mit Reliefs verziert, die geometrische Figuren, Blumen und Hieroglyphen zeigten, welche dem Eingeweihten verrieten, was dahinter lag.
Jotan flüsterte den Namen jedes Gebäudes, an dem wir vorbeikamen, in einer Mischung aus Ehrfurcht und Verbitterung. »Der Pavillon der Hieroglyphenkunst. Die Imperiale Kammer der Musik. Die Halle der Wapar-Schätze. Der Hof der Ärzte und verwandter Heilkünste. Der Sitz der Cinai-Theologen.«
Vor diesem letzten Gebäude entstiegen wir der Sänfte und gingen, durch unsere Kapuzen verhüllt, durch eine schattige Arkade, vorbei an Fa-pim-Gelehrten, die debattierten oder müßig plauderten. Schließlich bogen wir in einen hohen Gang mit marmornen Tafeln ein. Wir passierten eine Gruppe von Frauen. Einige waren von brauner Hautfarbe, andere aosogi, wieder andere fa-pim, aber alle waren gekleidet wie wir. Einige, die Jüngsten, das sah ich auf den ersten Blick, hatten kühn ihre Kapuzen zurückgeschlagen. Sie hielten einen Moment in ihrer leisen Unterhaltung inne und folgten uns mit ihren Blicken, als wir eine wundervoll geschnitzte Treppe hinabstiegen.
Frauen sind in der Wapar nicht sonderlich willkommen. Ich hatte das Gefühl, dass die Schatten, die dunklen Räume, ja die Architektur selbst die Menschen klein machten. Das empfand ich beim Anblick der großen, strengen Innenhöfe, die ich hinter Fenstern erblickte, die kaum Licht durch ihre steinernen Rankenverzierungen ließen. Ich merkte es daran, wie leise die Frauen miteinander sprachen und wie dicht sie beieinanderstanden, mit zusammengezogenen Schultern, wie Blüten, die sich vor dem Regen schlossen.
Gleichzeitig bewunderte ich die Kühnheit dieser Frauen, die es wagten, in diesen kalten Hallen zu wandeln und der beeindruckenden Männlichkeit der Wapar zu trotzen, und das nur, um Wissen zu erlangen. Dass einige Frauen sogar als Dozentinnen tätig waren, beeindruckte mich noch viel mehr. Mit Leichtigkeit konnte ich mir ausmalen, wie Tempelsoldaten durch die steinernen Flure marschierten und eine Frau unter irgendeinem Vorwand in Haft nahmen.
Wie die Rishi sahen sich auch Bayen-Frauen erheblichen Repressalien ausgesetzt, sollten sie versuchen, aus dem starren Reglement des patriarchalischen Tempelregimes auszubrechen.
»Er erwartet mich«, murmelte Jotan, als wir vor zwei großen Holztüren stehen blieben, die doppelt so hoch waren wie wir. Jetzt befanden wir uns tief im Innern der Wapar. Wasser rieselte über die Wände, und das Flüstern von Menschen huschte wie Ratten durch den dämmrigen Flur. »Er hat heute keine Studenten bei sich und empfängt keinen Besuch außer mir. Trotzdem solltest du deine Kapuze aufgesetzt lassen, falls doch jemand da ist. Sag in diesem Fall kein Wort, und folge mir sofort hinaus.«
Die Kammer hinter der Tür war dunkel und roch nach Seifenlauge, Alkohol und Schwefel. Durch die kleinen, mit einem Steingitter geschützten Fenster dicht unter der Decke fiel wässriges Licht. Staub tanzte in der Luft. Unsere Füße in den eleganten Sandalen schabten leise über den gefliesten Boden. Das Echo dieses Geräuschs hallte durch die riesige Kammer. Die Türen quietschten, als Jotan sie hinter sich schloss.
Merkwürdige Gläser standen auf Tischen neben tropfenden Destillierkolben. Schriftrollen lagen dort und massive Folianten, deren aufgeschlagene Seiten von Steinen auf den vier Ecken des jeweiligen Buches gehalten wurden. Auf Schiefertafeln standen mit Kreide notiert Zahlen, Symbole und Formeln; diese Tafeln bedeckten die Wände zwischen sechseckigen, mit Schriftrollen vollgestopften Regalen und offenen Schränken, in denen rätselhafte Instrumente lagen.
»Wen hast du mitgebracht?«, blaffte eine Stimme hinter uns. Ich fuhr herum und stand einem rotgesichtigen Mann gegenüber, dessen Augen in seinem Gesicht zu schwimmen schienen. Sein dunkles, öliges Haar war weiß gefleckt, und ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass dieses Weiß Schuppen waren. Der Mann trug mehrere Hemden und Hosen übereinander; unter den Rissen und schlecht gestopften Löchern jeder Schicht war die nächste, andersfarbige sichtbar. In eine Tasche hatte er einen verwelkten Strauß Blüten gestopft.
Jotan streifte ihre Kapuze zurück. Trotz des dämmrigen Lichts sah ich, dass ihre Wangen gerötet waren. »Das ist Zarq, die Ausgeburt. Zarq, ich möchte dir Komikon Sak Chidil vorstellen.«
Sak Chidil wirkte weder überrascht, noch schien es ihn zu irritieren, die berüchtigte Drachenhure von Brut Re in seinem Laboratorium zu empfangen. Mein Herz dagegen pochte vor Aufregung, weil meine Identität so beiläufig enthüllt worden war. Jotan schlug meine Kapuze zurück, damit er mich sehen konnte, und ich stieß ihre Hand weg. Sak Chidil drehte sich jedoch nach einem flüchtigen Blick auf mich zu ihr um und sagte nur: »Nimmt sie es ebenfalls? Ich kann dir nicht mehr als die übliche Menge geben!«
»Sie wird keine Entschädigung dafür leisten wollen«, murmelte Jotan.
»Dann kommt.« Sak Chidil verbarrikadierte mit einem Holzbalken die Türen, durch die wir eingetreten waren, und ging dann zum anderen Ende des Laboratoriums, wobei er gelegentlich stehen blieb und den Stopfen eines Destillierkolbens oder einen Gummischlauch zurechtrückte oder etwas mit einer Pipette umrührte.
Jotan folgte ihm. Ich ging hinter ihnen her, nachdem ich mich von dem Schock, enttarnt worden zu sein, erholt hatte.
»Die berüchtigte Drachenhure, heho?«, sagte Sak Chidil. »Wie oft hast du den bestialischen Ritus denn vollzogen, hm?«
Als ich nicht antwortete, unterbrach er seine Arbeit an einem Reagenzglas und sah mich an.
»Antworte ihm ruhig, Zarq«, sagte Jotan leise. »Er interessiert sich nur aus wissenschaftlichen Gründen dafür. Du hast nichts zu befürchten.«
»Jedenfalls ebenso wenig wie alle anderen«, blaffte Sak Chidil. »Unfälle, Krankheit, Politik …. Irgendwas erwischt uns am Ende alle. Also, zehn Mal? Oder häufiger?«
»Ich habe nicht mitgezählt«, erwiderte ich frostig.
Er fuchtelte mit der Pipette in seiner Hand vor meinem Gesicht herum. »Deinen Augen nach zu urteilen, würde ich sagen, mindestens fünf Mal. Richtig?«
Ich nickte. Offenkundig erfreut über seine korrekte Schätzung, legte er die Pipette hin, nahm einen Folianten, ein Tintenfass und eine Schreibfeder und ging zu einer kleinen verschlossenen Tür. Dort reichte er Jotan den Folianten und die Schreibutensilien, zog einen Schlüssel unter seinem Wams hervor, der an einer langen, schmutzigen Schnur hing, und schob ihn in das Schloss.
»Also rein mit euch«, murmelte er und stieß die Tür auf. Dann hob er einen schweren Lederkoffer hoch, der wie ein Wachposten neben der Tür stand, und wartete darauf, dass wir eintraten.
In dem Raum befand sich ein Drache mit intakten Giftdrüsen.
Ich erkannte das sofort an dem Duft nach Gift, Maht, Dung und Haut, noch bevor ich den kleinen, gemauerten Stall betrat. Sak Chidil verschloss und verriegelte die Tür hinter uns und murmelte der im Schatten liegenden Gestalt des Drachen etwas zu. Dann durchquerte er den Raum zu einer zweiten Tür. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass auch sie verschlossen war, ging er zu einem dreifüßigen Tischchen, das in einer Ecke stand. Er stellte es in den Lichtkegel, der durch das einzige Fenster hoch oben an der Wand fiel. Jotan legte den Folianten, das Tintenfass und die Schreibfeder auf den Tisch und begann sich auszuziehen.
Sak Chidil stellte den schweren Lederkoffer zu Boden, hockte sich davor und öffnete die Schnallen. In dem Koffer befanden sich mehrere metallene Instrumente und Glasröhren.
»Die Drachenkuh ist friedfertig«, erklärte Jotan heiser und ein wenig atemlos. »Sie ist Haustier und Studienobjekt der Theologen der Wapar. Komikon Sak Chidil hat sie im Ritus ausgebildet. Er hat Huren dafür benutzt, bevor ich kam. Er ist der einzige Theologe der Wapar, der durch seine Studien von dem Ritus erfahren hat.«
Ihr Bitoo fiel zu Boden. Übergewand? Ha! Darunter war sie splitternackt.
Der Drache, ein friedliches, flügelamputiertes Weibchen mit milchigen Augen, schlurfte vor und liebkoste Jotan mit seiner Schnauze, als suchte er einen Happen; eine knusprige Schnecke vielleicht oder eine Klauevoll süßer Orchideen. Mit seiner ledrigen Schnauze stieß er gegen eine von Jotans vollen, schweren Brüsten. Jotan stieß ihn weg, während sich auf ihrem Gesicht eine Mischung von Ungeduld, Ekel und Erwartung abzeichnete. Ihre Brustwarzen waren hart.
»Du kannst dich nach mir zu ihr legen, Zarq. Sak Chidil ist nur aus wissenschaftlichen Gründen daran interessiert. Verstehst du?«
Ich war entsetzt. Angewidert. Und neidisch. Sie würde das Lied der Drachen hören.
Jotan legte sich auf den Boden und spreizte ihre Beine. Sak Chidil kauerte sich zwischen sie, schob behutsam ein Metallinstrument in sie hinein und kratzte dann das, was er abgestrichen hatte, in eine Glasröhre. Mit einem kleinen Metallspachtel kratzte er ihren Mund aus und schob den Speichel in ein kleines Fläschchen. Er untersuchte ihre Augen, roch an ihrem Atem, machte sich Notizen. Jotan lag gefügig da mit weit gespreizten Knien und starrte mit glasigen Augen an die hohe Decke.
Ich hatte keine Ahnung, was Sak Chidil da tat, was er mit Jotans Säften machte, die er in Glasröhren und Flaschen sammelte. Sein bizarres Verhalten beunruhigte mich in höchstem Maße. Es erinnerte mich vage an die methodische Art, mit der Töpfer herausfinden, wie man am besten neue Glasuren und Formen aus Lehm anfertigen kann. Aber was, bei der Liebe des Drachen, konnte Sak Chidil aus den Flüssigkeiten zu gewinnen hoffen, die er aus Jotans Körper zusammentrug?
Der Drache schlurfte zu ihr und machte sich ohne weitere Umstände zwischen Jotans Beinen zu schaffen, wie ein gut dressierter, aber von seiner Aufgabe gelangweilter Hund. Währenddessen hielt Sak Chidil Jotans Handgelenk fest, zählte leise ihre Pulsschläge und schrieb gelegentlich kratzend etwas in den Folianten.
Ich wandte mich schwer atmend der Tür zu. Meine Beine waren so weich wie nasser Lehm, und ich stopfte mir die Finger in die Ohren, um Jotans ekstatische Schreie und das feuchte Schnauben der Drachenkuh nicht hören zu müssen.
Anschließend belohnte Sak Chidil die Drachenkuh mit verwelkten Hoontip-Blüten, die er aus der Tasche zog. Die Drachenkuh kaute heiter darauf herum, während Sak Chidil noch mehr Proben aus Jotans Schoß nahm, sie umsichtig in verschiedene Glasröhren gab und jede einzelne von ihnen beschriftete. Er überprüfte die Farbe der Lederhaut ihrer Augen, entnahm Blut aus einem ihrer Handgelenke, das er vorsichtig in eine andere Röhre füllte. Dann notierte er fleißig irgendwelche Ergebnisse in seinem Folianten. Das Kratzen der Schreibfeder und das Kauen des Drachen vermischte sich mit Jotans weinerlichem und ekstatischem Geplapper.
»Jetzt bist du dran«, sagte Sak Chidil und sah zu mir hin. Ich stand immer noch an der Tür, zitternd, erregt und entsetzt.
Würde ich es tun?
Großer Drache, wie gern ich das Lied der Drachen hören wollte. Mit jeder Faser meines Körpers sehnte ich mich danach.
Ich trat auf ihn zu.
Blieb stehen.
»Nein«, sagte ich heiser.
»Sicher nicht?«
Ich schwankte … Es kostete mich ungeheure Mühe, zu nicken.
»Zu schade. Frische Probanden liefern immer neue interessante Informationen. Warum willst du nicht?«
»Ich …« Mir fiel keine Antwort ein.
Er zuckte etwas verärgert und vielleicht auch enttäuscht mit den Schultern, aber er war nicht wütend. »Dann war das für dich nur Zeitverschwendung, herzukommen, richtig? Hier, trag das für mich. Sie braucht noch ein bisschen, bis sie sich erholt hat.«
Ich trug seinen Folianten und das Schreibzeug zurück ins Laboratorium. Hinter uns im Stall wand sich Jotan weiter ekstatisch auf dem Boden.
»Gute Proben«, murmelte Sak Chidil zufrieden, als er vorsichtig die Röhren mit Jotans Blut und sonstige Körperflüssigkeiten in ein Gestell auf dem Tisch schob. »Die Proben der Huren sind verunreinigt durch ihre Krankheiten. Jotan dagegen ist ein hervorragender Symbiont.«
»Ein Symbiont?«, hauchte ich. Ich fühlte mich schwach und setzte mich auf einen Stuhl, am ganzen Körper in Schweiß gebadet.
Sak Chidil sah mich mit seinen wässrigen Augen an. Er selbst konnte höchstens ein-oder zweimal Gift genommen haben. Die Lederhaut seiner Augen war hell und rein wie gekochtes Eiweiß.
»Ein Symbiont, ja. Ein Organismus, der in enger körperlicher Verbindung mit einem anderen lebt, hm? Hier, roll die zwischen deinen Handflächen. Das Blut soll noch nicht gerinnen.« Er reichte mir zwei verkorkte Phiolen mit Blut. Ich gehorchte, benommen und überwältigt. Die Wärme des Blutes konnte ich durch das Glas in meinen Hände spüren. Ich hielt ein kleines Stück von Jotan zwischen meinen Handflächen.
»Eine symbiotische Beziehung ist gewöhnlich für beide beteiligten Spezies von Vorteil«, fuhr er fort. »Nimm zum Beispiel den Gillivogel und die Buckelechse. Oder den Schildfisch und den Hai. Genauso funktioniert es auch bei Mensch und Drache.«
Er legte die restlichen Röhren mit Blut in ein kleines rundes Gefäß, klappte dessen Deckel zu und begann mit einem Fuß ein Pedal zu bedienen. Das Gefäß drehte sich um sich selbst, schneller als eine Töpferscheibe. Der Geruch des Mannes nach ungewaschenem Haar, schmutziger Kleidung und Schwefel waberte durch die Luft.
»Betrachten wir den Gillivogel und die Buckelechse. Die Echse kann nicht gut sehen, bewegt sich nur langsam und ernährt sich von Tausendfüßlern und Termiten. Sie scheidet über die Haut Gift aus und gräbt sich zum Schlafen Erdlöcher. Sie braucht Wärme, um zu überleben. Der Gillivogel nistet in den Erdlöchern der Echse, und das Gift der Echse hält alle Eierräuber von dem Nest fern. Dafür hält der Gillivogel die Echse in der kühlen Regenzeit warm, und seine ausgezeichnete Sehkraft und sein Pfeifen alarmieren die Echse, wenn Gefahr droht. Als Körnerfresser ist der Vogel außerdem für die Echse kein Nahrungskonkurrent, und er ist gegen ihr Gift immun. Es mag ab und zu vorkommen, dass eine Echse das ein oder andere Ei eines Gillivogels zerdrückt, ebenso wie der Gillivogel gelegentlich mit seinem Lärm unabsichtlich einen Mungo zum Bau der Echse lockt, der die Echse frisst. Aber meistens ist ihre Symbiose einfach ideal.«
Sak Chidil hörte auf, das Pedal zu treten. Das Gefäß kam langsam zur Ruhe. Dann öffnete er den Deckel und nahm die beiden Glasröhren mit dem Blut heraus. Der Schleuderprozess hatte klares Serum von dem dicken roten Blut abgesondert.
»Doch welchen Nutzen bringt es einem Drachen, so frage ich mich, mit einer Frau zu verkehren, hm? Also habe ich nach Antworten gesucht. Es ist leicht zu verstehen, warum eine Frau in diese Art von Beziehung gelockt wird. Sie wird sexuell befriedigt und erlebt Machtgefühle durch das Gift des Drachen. Natürlich riskiert sie Verbrennungen, Schwellungen, Blutvergiftung, Hautabschürfungen, Infektionen, unregelmäßigen Herzschlag, gesenkten Blutdruck und möglicherweise auch den Tod, wenn sie nicht allmählich an das Gift gewöhnt wurde. Aber dafür ist es verdünnt ein ausgezeichnetes Halluzinogen und Betäubungsmittel, und man kann damit eine Frau an unverdünntes Drachengift gewöhnen.«
Er schlang sich ein merkwürdiges Lederband um den Kopf, in das er über seinem Auge eine Glaslinse in einen runden, fensterartigen, in das Leder eingenähten Rahmen schob. Vorsichtig senkte er die dicke Linse über sein Auge, das dadurch mehrfach vergrößert wurde. Ich starrte ihn an.
»Roll diese Phiolen weiter zwischen den Händen. Ja, genau so.« Er goss behutsam etwas von dem Serum auf eine kleine Glasscheibe und verteilte es dünn auf der Oberfläche. »Gut. So. Sagen wir, eine Frau wird in eine Beziehung zu einem Drachen gelockt, obwohl sie nur wenig davon hat und das Risiko sehr hoch ist. Es ist keine vorteilhafte Beziehung für den Menschen, aber sie ist höchst verlockend. Vielleicht ist also der Drache ein Parasit, ja? Aber warum? Welchen Vorteil zieht ein Drache aus all dem?«
Er bückte sich und untersuchte mit seiner Lupe die Probe auf dem Glas. »Betrachten wir jetzt diese Halluzinationen etwas genauer, welche die Frau unter dem Einfluss des Giftes erlebt. Sie ist erfüllt von Mitgefühl mit dem Drachen. Sie erlebt sich als Jungdrache, der von Männern gejagt wird. Sie durchlebt mütterliche Ängste für den Drachen. Jetzt endlich kommen wir an einen interessanten Punkt! Wer ist der größte Jäger der Drachen, hm? Die Menschen. Welch bessere Möglichkeit gibt es, einen Feind auszuschalten, als eben diesen Feind zu seinem Anwalt zu machen, zu seinem Beschützer! Also. Irgendwie sind vor Jahrtausenden die Vorfahren der Djimbi und die Urahnen der Drachen diese besondere symbiotische Beziehung eingegangen, auf die wir heute so missbilligend herabsehen. Faszinierend, stimmt’s?«
Ich stieß ein Keuchen aus, das er als Zustimmung interpretierte.
»Vor einigen Jahren, bevor ich von dem Ritus erfuhr, habe ich Jungdrachen studiert«, fuhr er fort, noch während er seine Untersuchungsergebnisse mit kratzender Feder in den Folianten eintrug. »Ich war fasziniert von dem instinktiven Drang der Jungdrachen, ein menschliches Gesicht sofort anzugreifen. Ich habe Experimente durchgeführt, Messungen, und eine Entdeckung gemacht. Es ist nicht das menschliche Gesicht, auf das der Jungdrache mit seiner noch nicht mit Gift überzogenen Zunge zielt. Es ist der menschliche Mund. Ein nasses, klaffendes rotes Loch. Es ähnelt der Schnauze des Mutterdrachen, gewiss, nur viel kleiner. Eine Futterquelle! Maht kommt aus einem solchem Maul, und ein Jungdrache ernährt sich von Maht. Also. Als ich von dem bestialischen Ritus erfuhr, begriff ich, wie leicht die Instinkte eines Jungdrachen dazu benutzt werden können, einen Drachen darauf zu trainieren, seine Zunge in eine Frau zu stecken. Hast du noch eine Frage?«
Sak Chidil hatte sein Leben darauf verwandt, Dinge zu untersuchen, seine Umgebung genau zu betrachten und selbst die kleinsten Veränderungen wahrzunehmen. Also musste er aus meiner Miene die Frage geschlossen haben, die sich in meinem Kopf formte.
»Ihr haltet Drachen nicht für göttlich«, sagte ich leise.
Er schnaubte. »Ganz bestimmt nicht. Das ist Unsinn, der von Gifthalluzinationen inspiriert wurde, weitergetragen von den Sagen der Primitiven, im Eigeninteresse zum Dogma erhoben von der Regierung und den Theologen. Göttlichkeit, pah! In einem Drachen steckt nicht mehr Göttlichkeit als Boshaftigkeit in einer Kwano-Schlange. Es sind einfache Tiere, ohne Intelligenz gezeugte Tiere, Ergebnisse von Veränderung und Zeit.«
»Und die Menschheit?«, erkundigte ich mich.
Er sah mich an. Das Auge hinter der Linse wirkte riesig im Vergleich zu dem anderen. »Wir sind ebenfalls nur Tiere. Dumme Tiere, mit dem Potenzial zur Größe, gewiss, aber wir sind unfähig, diese Größe zu erlangen, und werden immer unfähig dazu sein. Weil wir von primitiven Trieben gesteuert werden.«
Er warf einen vielsagenden Blick auf den kleinen Stall, in dem immer noch Jotans lüsternes Stöhnen zu hören war. »Wir sind nicht besser als bucklige Schlangen. Und das werden wir auch niemals sein, Drachenhure. Niemals.«
Noch lange nachdem Jotan in dieser Nacht in ihr Gemach zurückgekehrt war, wund, nackt und nach Sex duftend, und mich auf meinem Bett zurückgelassen hatte, dachte ich über das Gespräch mit Sak Chidil nach. Seine Theorien verwirrten mich, raubten mir den Schlaf. Ich wollte nicht glauben, dass Drachen so wenig heilig waren wie wir Menschen, wollte nicht glauben, dass das Lied der Drachen eine vorübergehende Halluzination war, dass der Giftritus sich entwickelt hatte als eine Möglichkeit für die Drachen, ihre Überlebenschancen zu verbessern.
Wenn das Lied der Drachen nur eine Halluzination war, die eine vom Gift berauschte Frau erlebte, wie hatte ich, die ich vor meinem Auftritt in der Arena niemals einen Shinchiwouk miterlebt hatte, mich dann schon im Tempelgefängnis an spezifische Einzelheiten des Shinchiwouk erinnern können, nachdem ich unverdünntes Gift direkt in meinen Schoß verabreicht bekommen hatte? Was war mit der Magie, die meine Mutter in meiner Kindheit gewirkt hatte und derer ich Zeugin geworden war, was mit dem dunklen Ritus, den Langbeins Stamm praktiziert hatte? Wie konnte Sak Chidil die Anwesenheit des Geistes erklären, seine Fähigkeit, als Himmelswächter zu erscheinen? Ganz sicher waren anderweltliche Kräfte in unserem Leben am Werk, und wenn es so war, warum sollten sie dann nicht auch die Drachen einschließen?
Oder würden der Geist und die primitive Magie meiner Mutter und meine Visionen des Shinchiwouk eines Tages genauso wissenschaftlich erklärt werden können, wie Sak Chidil den Ritus erklärt hatte?
Ich wusste es nicht.
Unruhig lief ich auf und ab.
Ich grübelte verzweifelt.
Als mein Verstand müde wurde, sich unablässig in Sackgassen zu verirren und durch dunkle Gänge zu schleichen, die Sak Chidil ihm aufgezeigt hatte, zerbrach ich mir über andere Dinge den Kopf. Den Verlust des Drachenmeisters, das Verschwinden von Drachenjünger Gen, Kratts fanatischen Feldzug gegen mich, die Macht meiner Schwester über den Himmelswächter. Als langsam die frühen Morgenstunden näher rückten, kreisten meine Gedanken nur noch um die Yamdalar Cinaigours in dem Lagerhaus des Arbiyesku und um den Ritus, den Langbein mit mir vollzogen hatte.
Was hatte ich übersehen? Ich wusste, dass Tansan recht hatte; die Kokons brauchten mehr als nur Hitze und Zeit, damit daraus Drachenbullen schlüpfen konnten, sonst hätte im Lauf der Jahrhunderte der Zufall irgendwann einmal einen Bullen hervorgebracht.
Eingedenk Sak Chidils systematischer Untersuchungsmethode facht ich das Feuer im Kamin an, setzte mich an den Tisch und tauchte die Schreibfeder in die Tinte. Methodisch listete ich jedes Detail von Langbeins Ritus auf, bis hin zu dem Moschusgeruch der Matriarchin und dem rasselnden Geräusch ihrer Goldketten, als sie sich über mich gebeugt hatte. Dann beschrieb ich die gewöhnlichen Tätigkeiten im Arbiyesku, was die Arbeit mit den Kokons anging. Bald war mein Tintenfass leer, mein Arm tat weh, meine Finger waren verkrampft, und ich hatte kein Holz für den Kamin mehr. Ich entzündete alle Kerzen, die ich in meinem Gemach auftreiben konnte, und verzog mich unter die Decken meines Bettes. Die Kokosfasern in der Matratze stöhnten leise unter meinem Gewicht.
Ich las, was ich niedergeschrieben hatte. Immer und immer wieder las ich es auf der Suche nach einem Hinweis. Es musste dort einfach etwas geben, es musste dort stehen …
Die Schriftzeichen verschwammen vor meinen Augen. Der Morgen brach an. Ich war erschöpft, hatte einen dicken Kopf und fror. Ich wollte mich zusammenrollen und schlafen, meine vergebliche Suche aufgeben.
Wir sind ebenfalls nur Tiere. Dumme Tiere, mit dem Potenzial zur Größe, gewiss, aber wir sind unfähig, diese Größe zu erlangen, und werden immer unfähig dazu sein. Weil wir von primitiven Trieben gesteuert werden.
Meine Augen hatten sich geschlossen, und ich schreckte hoch. Ich würde nicht nur ein primitives, dummes Tier sein. Gefickt sei Sak Chidil: Ein Mensch konnte Größe erlangen. Ich würde es ihm beweisen.
Ich starrte auf die Schriftzeichen, die über die Seiten zu gleiten schienen, und erneut fielen mir die Augen zu.
Wir sind nicht besser als bucklige Schlangen.
Erneut riss ich die Augen auf und starrte trübselig auf die Seiten vor mir. Ich kam nirgendwohin. Ich brauchte Schlaf.
Ich war von Frauen mit Schlangenmasken umringt. Ich las die Zeichen, die ich geschrieben hatte, ohne sie wirklich zu sehen. Die Schlangenfrauen umkreisten den gefallenen Drachen, der Langbein war, und zogen den Kreis ganz eng.
Ich tauchte ein wenig aus meinem Dämmerzustand auf, war dann plötzlich hellwach.
Hastig blätterte ich durch meine Seiten. Da. Ja. Der Arbiyesku säubert das Lagerhaus regelmäßig von jeder Kwano-Schlange, die sich zufällig von ihrer normalen Behausung im Dschungel dorthin verirrt hat, angelockt vom Geruch der nach Tod stinkenden Kokons.
Ich starrte auf die beiden geschnitzten Drachenschwanzmembranen, die sich auf dem Fußende meines Bettes trafen, ließ meinen Gedanken freien Lauf und hörte erneut Sak Chidils Worte in seinem Laboratorium.
Ein Symbiont. Ein Organismus, der in enger körperlicher Verbindung mit einem anderen lebt, ja?
Kwano-Schlangen hatten Brutzyklen, die mit den Schlüpfgewohnheiten von Drachen zusammenfielen. Die sogenannten Säuger, frisch geschlüpfte Kwano-Schlangen, lebten wie Parasiten auf einem Drachen, bis die Jungschlangen Zähne und Maul einer erwachsenen Schlange herausgebildet hatten. Dann fielen sie von der Haut des Drachen ab und nahmen ihr Leben im Blätterwald des Dschungels auf. Das war als allgemeines Sagengut allen Malacariten bekannt. Es wurden sogar Lieder über die blutsaugenden Kwano gesungen. Die Drohung mit der bösen Schlange wurde als Erziehungsmittel gegen aufsässige Kinder eingesetzt, damit sie den Launen und Anweisungen der Erwachsenen gehorchten. Kunstwerke zeigten, wie die böse Kwano vom Einen Drachen vernichtet wurde. Passagen, die die Drachenjünger in ganz Malacar im Tempel rezitierten, warnten vor dem angeborenen Bösen der Kwanos.
Die Kwano war ein perfider Parasit. Das wussten alle.
Wenn sie nun aber gar kein Parasit war? Sondern vielmehr ein Symbiont?
Vielleicht benötigten die Yamdalar Cinaigours ja Kwano-Schlangen, um sich in Bullen zu verwandeln, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht verzehrten die Schlangen das tote Fleisch und verhinderten so Fäulnis. Vielleicht strömten sie auch etwas durch ihre Haut aus, so wie die Buckelechse Gift absonderte, um ihre eigenen Feinde zu vertreiben, und damit indirekt den Gillivogel beschützte. Wer konnte das schon sagen? Ich jedenfalls nicht. Vielleicht würde eines Tages jemand wie Sak Chidil die Antwort finden. Aber einstweilen genügte das wenige, was ich wusste.
Kwano-Schlangen. Die maskierten Frauen, die mich während des Ritus umringt hatten, repräsentierten Kwanos. Viele von ihnen hatten Langbein eingekreist, als sie zu Boden gefallen war und ihre Schwingen um sich gefaltet hatte, um einen Kokon zu simulieren. Und die Masken der Frauen hatten Saugrüssel anstelle von Mündern gehabt. Wie hatte ich nur so begriffsstutzig sein können?
Kwano-Schlangen.
Da hatte ich meine Antwort.