6
Ich schrak aus dem Schlaf hoch. Das Blut rauschte durch meine Adern. Orientierungslos vor Panik wähnte ich mich in den Stallungen des Drachenmeisters von Brut Re, an dem Morgen, an dem ich zur Arena aufbrechen sollte. Mit aufgerissenen Augen starrte ich auf das kleine, dickbäuchige DjimbiMädchen, das grinsend neben mir hockte.
»Du bist zurückgekommen«, sagte es. »Ist Mama mit dir zurückgekehrt?«
Jetzt erinnerte ich mich, wo ich mich befand und wo ich die Nacht zuvor gewesen war. Ich warf einen Blick auf mein Fußund mein Handgelenk. Die Lederbänder, mit denen Tansan uns aneinandergebunden hatte, waren verschwunden. »Wir sind zusammen gekommen.«
»Dann ist sie Wasser holen. Fwipi-Oma hat das zwar schon gesagt, aber ich wollte nur sichergehen.«
Savga half mir, mich aufzusetzen. Das Frauenhaus war leer bis auf uns beide, und durch die geflochtenen Schilfrohrwände drangen die Geräusche der frühmorgendlichen Aktivitäten. Mühsam stand ich auf. Meine Gliedmaßen waren steif. Savga rollte unsere Schlafmatte zusammen und schob sich unter meinen Arm.
»Ist mein Gebieter schon wach?«, fragte ich heiser.
Savga zuckte mit den Schultern. Sie mochte den Drachenmeister noch weniger als die anderen Angehörigen des Arbiyesku. »Komm, ich helfe dir hinaus.«
Die Sonne ergoss sich wie zerlaufener Eidotter über das Gelände und vergoldete die grüngefleckten Menschen wie auch die ockerfarbene Erde. Babys krochen überall auf dem Boden herum. Frauen kratzten mit Stöcken rußige Kadoob-Knollen aus der noch glimmenden Glut und stopften Löcher in den Jutesäcken, die der Clan für die Ernte benutzte. Männer inspizierten verbogene Hacken, schärften Sensen oder kehrten von den Latrinen zurück.
Der Drachenmeister war nirgendwo zu sehen. Dafür entdeckte ich Piah und Alliak. Die beiden drückten sich am Fuß der Treppe des Frauenhauses herum und beobachteten mich.
Fwipi saß auf dem Boden, und Agawan spielte mit einem toten Vogel, der neben ihr lag. Während Savga neben mir unaufhörlich plapperte, stieg ich steif die Treppe hinunter, ignorierte die beiden Männer an ihrem Fuß und näherte mich Fwipi.
Die sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. Ein halb gerupfter Pyumar lag wie ein nacktes, runzliges Kind auf ihrem Schoß. Der Boden um sie herum, ihre Knie und selbst Agawan waren mit Federn bedeckt. Der Säugling starrte mich an, während seine kleinen Finger den Fuß des toten Vogels, mit dem er spielte, umklammerten.
»Setz dich und rupf den Pyumar«, befahl Fwipi. »Savga, hol einen Sack und sammle die Federn auf.«
Ich ließ mich auf dem stinkenden Boden nieder. Fwipi rupfte derweil fast wütend die Federn aus der großporigen Haut ihres Vogels.
»Also, was glaubst du? Ist mein Memeslu-Mädchen sehr verrückt?«, fragte mich Fwipi.
Ich wusste nicht, was Memeslu bedeutete, vermutete jedoch, dass es wohl so etwas wie aufsässig hieß, denn mir war klar, dass sie von Tansan sprach.
Ich leckte mir über die spröden Lippen. Ich konnte den Pfeifenrauch von der Versammlung gestern Nacht noch an mir riechen. »Du weißt also, wohin Tansan gegangen ist und dass ich ihr gefolgt bin.«
»Tansan geht ein hohes Risiko mit ihren gefährlichen Reden ein. Ich habe schon gesehen, wie Menschen aus geringerem Grund umgebracht wurden. Sie ist jung, hat nicht gesehen, was ich gesehen habe, hat weder Verlust noch Trauer gefühlt noch die Klinge eines Para-Schwertes.«
»Dafür hat sie andere Dinge empfunden.« Ich zog behutsam die Vogelkralle aus Agawans entschlossenem Griff und hob den toten Pyumar auf meinen Schoß, um ihn zu rupfen.
Fwipis Miene verfinsterte sich. »Viele denken wie sie, aber sie haben Angst, ihre Meinung auszusprechen. Wir waren zu lange furchtsam, aber wie denn auch nicht? Wenn man sich verbirgt und schweigt, kann einen das vor dem Schwert eines Paras schützen. Es entspricht nicht der Art der Djimbi, zu kämpfen, sich mit Gewalt etwas zu erobern. Aber vielleicht hat Tansan recht, heho. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir unsere Denkweise ändern. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise führt das nur zu noch mehr Toten.«
Erneut sah ich mich auf dem Hof um. Wo war der verfluchte Drachenmeister? Ich musste ihm von dem Myazedo-Treffen erzählen, damit er sich ins Zentrum der Brutstätte schleichen und Drachenjünger Gen warnen konnte. Ich wollte auf gar keinen Fall, dass alle Escoas meiner Brut von einer aufgebrachten Gruppe meiner eigenen Leute verkrüppelt wurden. Und zusammen mit der Warnung würde der Komikon mein Ersuchen, nein, meine Forderung überbringen, dass dieser Treibjagd auf Menschen ein Ende bereitet würde. Und auch diesem Netzeauswerfen. Das musste ebenfalls aufhören.
Piah und Alliak schlenderten heran und beobachteten mich. Sie taten es ganz ungeniert. Ich würde niemals selbst das Gelände verlassen und Drachenjünger Gen informieren können.
In dem Moment kamen die Kinder, die auf den Kadoob-Feldern arbeiteten, auf den Hof gerannt, Augen und Münder vor Angst weit aufgerissen.
»Drachenjünger! Paras!«, schrien sie.
Heilige Hüter? Soldaten? Sie kamen hierher, zum Arbiyesku?
Schlagartig ließen die Mütter ihre Arbeit fallen, wo immer sie gerade standen, sammelten die auf dem Gelände umherkrabbelnden Kinder ein und trieben die größeren in das Frauenhaus. Denen, die in Hörweite waren, schrien sie zu, sie sollten sich beeilen. Die alten Männer, die noch Augenblicke zuvor bedächtig Sensen und Macheten geschärft hatten, strafften sich, spien in ihre Handflächen und befeuchteten damit ihre Oberarme, damit sie glatt und kräftig aussahen. Fwipi stand ebenfalls auf. Die Federn flogen von ihrem Schoß wie aufgeschreckte Motten.
»Nein. Nicht jetzt, nicht das!« Fwipi war kreidebleich geworden, was die Flecken in ihrem Gesicht noch betonte. »Savga. Savga! Wo ist das Kind?«
»Was ist denn los?« Ich stand ebenfalls auf. Mein Puls raste. Ich sah zu Piah und Alliak hinüber, die miteinander stritten. Piah hatte einem der Alten eine Machete aus der Hand gerissen und fuchtelte damit in der Luft herum. Alliak versuchte sie ihm abzunehmen.
»Ins Frauenhaus, rasch!«, zischte Fwipi mir zu, bückte sich und riss Agawan vom Boden hoch. »Nimm auch meinen Pyumar mit! Schnell, mach schnell!«
Mein Herz hämmerte, da ich die gerupften Vögel an ihren gummiartigen Beinen packte und Fwipi die Treppe zum Frauenhaus hinauf folgte. Ich warf einen Blick über die Schulter, suchte den Drachenmeister. Er stand unter dem Türsturz einer der bienenkorbförmigen Männerhütten. Unsere Blicke trafen sich kurz.
»Savga!«, schrie Fwipi, als das kleine Mädchen mit ängstlich aufgerissenen Augen über den Hof stolperte. »Schnell!«
»Wir sollten fliehen!«, stieß ich keuchend hervor, während die toten Vögel schwer gegen meinen Schenkel schlugen. »Uns in den Feldern verstecken!«
»Die Paras würden zurückkommen, heute, morgen, übermorgen. Dann würden sie uns verprügeln, weil wir ihnen so viel Arbeit gemacht haben, und zwar schlimm verprügeln. Ich habe mit angesehen, wie sie einen Mann zum Krüppel schlugen, einem Kind den Arm brachen, als wäre es ein trockener Zweig. Eine Frau ist vor meinen Augen nach einer solchen Tracht Prügel gestorben … Nein, wir laufen nicht weg!«
Ich warf einen letzten Blick auf den Drachenmeister. Er verschwand in der Hütte.
Drachenjünger marschierten im Gänsemarsch auf unseren Hof. Ihre blaugrünen Gewänder hoben sich leuchtend von dem trübseligen Umfeld ab.
Oh, Re!
Ich duckte mich in das Frauenhaus.
Die Kinder um mich herum verhielten sich mucksmäuschenstill. Einige drängten sich auf dem Schoß ihrer Mütter, andere umklammerten ihre Geschwister. Ich dachte sofort an Pundar, an die Technik der Tarnung, die die Schüler des Drachenmeisters in der Arena anwandten, dort, wo nur absolute Regungslosigkeit und ein Umhang in der Farbe der Arenaerde einen davor bewahrte, von einem aufgebrachten Bullen zerfleischt zu werden.
Wenn man sich verbirgt und schweigt, kann einen das vor dem Schwert eines Paras schützen, hatte Fwipi gesagt.
Wie passend, dass die Gewänder der Drachenjünger dem Grünblau eines Drachenbullen entsprachen.
Savga hockte mit Oblan und Runami neben Oblans Mutter, die ihr Baby stillte, damit es nicht schrie. Savgas Augen glänzten wie Murmeln aus blankem Obsidian, während sie sich nervös umsah.
Wir zogen uns rasch in die Mitte der Baracke zurück, wo sich die anderen Frauen und Kinder zusammendrängten, als würde diese Traube aus Menschen irgendwie jeden Einzelnen vor Schaden bewahren. Fwipi stützte sich schwer mit einem Arm auf mich, hielt Agawan in ihrem anderen und setzte sich neben Savga. Dann schlang sie ihren knochigen Arm um die Schultern ihrer Enkelin und legte Agawan auf ihren Schoß. Savga vergrub ihr Gesicht zwischen den langen, schlaffen Brüsten ihrer Großmutter.
»Wir fürchten so etwas nach jedem Abbassin Shinchiwouk.« Fwipis Stimme klang vollkommen tonlos. »In manchen Jahren bleibt unser Ku verschont, und ein anderer Clan verliert dafür eine Klauevoll Angehörige. Es passiert nur selten, dass niemand nach dem Shinchiwouk von den Treibern heimgesucht wird, dass der Vorsteher keine Wetten in der Arena verloren hat und keine Schulden bezahlen muss.«
»Es gibt einen neuen Vorsteher«, wandte ich schwach ein. »Er hat keine Schulden.«
Fwipi starrte mich mit Augen an, die wie tot wirkten.
Was hatte Ghepp vor?
Ich konnte nicht einfach hier sitzenbleiben, blind allem gegenüber, während über unser Schicksal bestimmt wurde. Ich stand auf und ging zur Tür, während in meinem Inneren ein panikartiger Tumult tobte.
Ich spähte hinaus. Der Älteste des Arbiyesku, Yobif, lag gerade vor einem der drei Drachenjünger in einem unterwürfigen Kotau im Staub des Hofes.
Erinnerungen zuckten durch mein Hirn, Schatten meiner Jugend. Ich roch heißes Metall, Kupfer, Eisen, Bronze, Blut, und sah wieder die herausgerissene Zunge meines Vaters, die staubig und gruselig auf dem Boden lag.
Steif und ungelenk vom Alter, erhob sich Yobif, wobei er wiederholt die Stirn auf den Boden vor den Sandalen der Drachenjünger senkte. Er redete schnell, mit gefalteten Händen, die Schultern unterwürfig gebeugt, ein schmales, verzweifeltes Lächeln auf den Lippen, während sein Kopf bei jedem zweiten Wort nickte. Der Drachenjünger, zu dem er sprach, scheuchte ihn mit einer kurzen Bewegung seines perlengeschmückten Handgelenks zur Seite.
Die Paras trugen die landesweit bekannten Lederharnische und Brustplatten der Soldaten; die düsteren Narben auf ihren Gesichtern waren blau gefärbt und ihr Haar zu Doppelknoten gebunden, die wie die Geweihansätze eines jungen Dschungelhirsches zu beiden Seiten über ihre Stirn ragten.
Alliak schien Piah weggezogen zu haben, denn die beiden waren nirgendwo zu sehen, ebenso wenig wie Myamyo.
Ein Drachenjünger schüttelte eine Schriftrolle aus einem vergoldeten elfenbeinernen Behältnis an seiner Taille. Gleichzeitig zückten die Paras ihre Schwerter. Mit einem kratzenden Geräusch fuhren sie aus den Scheiden, und die Klingen sangen voller Vorfreude metallisch, fast blutrünstig.
»Die hier Genannten treten jetzt vor, wie es Lupini Xxamer Zu befiehlt!«, dröhnte die Stimme des Drachenjüngers über den Hof bis ins Frauenhaus. Ich hörte, wie die Frauen die Luft anhielten, spürte förmlich, wie sich Fingernägel in Handflächen bohrten. »Arbiyesku Xxamer Zus Korshans Yenvia, gemeinhin genannt Runami!«
Auf seine Worte antworteten Schreie und Wehklagen im Frauenhaus. Der Drachenjünger fuhr derweil ungerührt mit seiner Verlesung der Namen fort.
»Arbiyesku Xxamer Zus Rudiks Rutvia, gemeinhin genannt Oblan; Arbiyesku Xxamer Zus Keaus Waivia, gemeinhin genannt Savga …«
Ich drehte mich so langsam um, als wäre ich von zäher Melasse umhüllt. Die sechsjährige Savga mit ihren mandelförmigen Augen, ihrer Stupsnase und dem zarten Muttermal neben ihrem linken Nasenflügel warf sich auf ihre Großmutter. Ich sah, wie Agawan von Fwipis Schoß auf den Boden rollte. Savga klammerte sich weinend an Fwipis Hals fest.
»… sowie der Hatagin Komikon und seine Wai Roidan Yin«, fuhr der Drachenjünger fort. Ich brauchte eine Weile, bis die Bedeutung seiner Worte zu mir durchdrang.
Ich stand ebenfalls auf dieser Liste. Auch ich sollte in die Sklaverei verkauft werden.
»Tretet augenblicklich vor, dann wird kein Blut fließen!«, erklärte der Drachenjünger. »Für jede Person, die sich uns widersetzt, werden acht von euch bestraft.«
Fwipis Blick aus schneckenfarbenen Augen und meiner trafen sich. Sie stand mühevoll auf, während die Frauen um sie herum wehklagten und ihre Arme voller Trauer in die Luft warfen, sich auf den Knien wiegten und sich bäuchlings auf den Boden warfen. Die aufgerufenen Mädchen waren von einer Traube von Tanten, Cousinen und Nichten umringt. Auch Savga war hinter einer wogenden Gruppe von Leid geschüttelter Frauen verschwunden.
Fwipi blieb vor mir stehen und sah mich ausdruckslos an.
»Du musst bei ihnen bleiben, heho! Du bist jetzt ihre Mutter. Du allein kannst ihnen Liebe und Schutz spenden, sie vor Übel bewahren. Denk daran, Kazonvia!«
Savgas Tiwana-Tante watschelte auf mich zu. Sie blähte die Nasenflügel, und ihre von Slii-Kernen geschwärzten Lippen bildeten einen schmalen Strich in ihrem Gesicht. Savga klammerte sich an sie, kreischend und jammernd.
Ich würde ohnmächtig werden, davon war ich fest überzeugt. Das konnte doch nicht wirklich geschehen, nicht jetzt, nicht hier, nicht nach allem, was ich durchgemacht hatte.
Tiwana-Tante stand mit geröteten Augen vor mir, flankiert von Frauen, die sich voller Trauer wiegten und schwankten. Blut von ihren zerkratzten Armen verschmierte ihre Wangen, und Strähnen ihres ausgerauften Haars hingen unter ihren Fingernägeln wie schwarze Seidenfäden. Ihr Blick bohrte sich in meine Augen und schien meine Seele zu verzehren, mein Herz zu versengen.
Langsam löste sie Savgas Arme von ihrem Hals.
»Nein! Nein! Lass nicht zu, dass sie mich mitnehmen! Fwipi-Oma, nein!«
Dann spürte ich Savgas Gewicht in meinen Armen. Schwer, verschwitzt und unerwünscht. Ihre dünnen Arme und Beine waren starr vor Furcht.
»Mama!«
Ihr gellender Schrei machte mich schwindeln.
Fwipi legte Savga eine Hand auf den Kopf, dann kehrte sie ihrem Enkelkind den Rücken. Sie stolperte einige Schritte von uns weg und fiel auf die Knie, als hätte man sie niedergeschlagen. Mit blutverschmierten Händen fing sie ihren Sturz ab.
»Du bist jetzt ihre einzige Mutter, Kazonvia«, krächzte Tiwana-Tante. »Denk immer daran.«
Savga war schwer. Weit konnte ich sie nicht tragen. Also setzte ich sie auf dem Boden ab. Sie ging neben mir und rang krampfhaft nach Luft, während die Kette, welche ihre Handschellen mit den meinen verband, bei jedem Schritt klirrte und ihr Gewicht uns hinabzog. Durch das Rucken des blanken Metalls der Fesseln fühlte ich Savgas stolpernde Schritte auf meiner zarten Haut, direkt über den schmalen, zierlichen Knochen meines Unterarms, spürte Savgas Furcht und ihre Verletzlichkeit. Diese kalte, gleichgültige Kette verband uns wie eine Nabelschnur aus Metall.
Neben mir gingen die beiden anderen kleinen Mädchen, die für immer aus dem Arbiyesku gerissen worden waren: Oblan und Runami. Sie drängten sich an mich, zitternd und weinend, Kinder, mit Metall an eine Realität gefesselt, der sich kein Kind stellen sollte. Es waren auch zwei Jungen aus dem Arbiyesku geraubt worden. Sie gingen steif und zaudernd neben uns, bemüht, ihre Furcht nicht zu zeigen, ohne sie jedoch verbergen zu können.
Der lehmige Pfad unter unseren nackten Füßen war glatt und schlüpfrig von feuchtem Gras. Neben uns explodierten Samenkapseln, wenn wir sie streiften, und die Samen segelten ein kurzes Stück durch die Luft, bevor sie sich wie winzige Pfeilköpfe in Kleidung, Erde oder Haar bohrten.
Die Sonne brannte auf uns herab und trocknete die Haut aus. Mein Kopf war schweißnass und glühend heiß. Die Paras neben uns stanken nach schwarzem Leder und ungewaschenen Leibern. An der Spitze marschierten die drei Drachenjünger; ab und zu waberte der erstickende Geruch von Weihrauch aus ihren Roben und verpestete die Luft, wenn sie sich geziert mit seidenen Tüchern den Schweiß von der Stirn tupften.
Mit meiner rechten Hand umklammerte ich, so fest wie ein rettendes Seil, den kleinen Gegenstand, den mir einer der Paras in die Hand gedrückt hatte, als er mich fesselte. Sein Blick hatte meinen kurz gestreift, bevor ich auf den Gegenstand hinabsah. Es war eine kleine, verrostete Klammer von der Art, mit welcher man ein Gewand zusammenhielt, und an beiden Enden befand sich ein winziger Fetzen Stoff von genau derselben Farbe wie die rotbraune Erde der Arena.
Erst als er mir die schweren, kühlen Handschellen über die Gelenke schob, wurde mir klar, worum es sich handelte: Es war der Verschluss des Vebalu-Umhangs, den ich in der Arena getragen hatte. Ich erinnerte mich daran, wie ich den blutigen Umhang stöhnend und fluchend in der Futterscheune der Botenstallungen abgestreift hatte.
Ich umklammerte den Verschluss, so fest ich konnte. Es handelte sich um ein Zeichen von Gen. Ganz bestimmt.
Ich versuchte den Blick des Paras zu erhaschen, der mir Gens Unterpfand heimlich zugesteckt hatte, aber er wich mir aus.
Der Drachenmeister ging vor mir, ebenfalls angekettet. Seine Schultern rollten unter seinem Wams wie eine tosende See. Dann drehte er sich zu mir um.
»Gen hat ein Unterpfand geschickt«, murmelte ich. Meine Lippen waren eiskalt. »Es wird alles gut.«
Er schnaubte und blickte wieder nach vorn.
Savga lehnte sich zitternd an mich. Sie atmete schwer, rasselnd, als bekäme sie kaum Luft. Ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte.
Man führte uns über einen staubigen, zerfurchten Pfad, bis wir bei einem anderen Zunftclan stehen blieben. Erneut las ein Drachenjünger Namen von seiner Schriftrolle ab. Erneut klagten Frauen, und meine Haut brannte, als würde heißes Wachs über sie gegossen, das an ihr riss, zerrte und wunde Striemen hinterließ.
Die Paras legten noch mehr knochigen, kindlichen Handgelenken Eisenfesseln an und ketteten sie aneinander. Ich umklammerte das kleine, rostige Unterpfand in meiner Handfläche, drückte es, zerquetschte es fast.
Das darf nicht sein!, hätte ich gern geschrien. Das hier ist meine Brutstätte. Sie ist ein Ort der Zuflucht, der Familie. Ein Zuhause!
Nur war sie es nicht.
Das hier war vielmehr eine Reihe aneinandergeketteter Menschen, die wie Tiere zum Markt getrieben wurden.
Als eine Frau sich kreischend auf den Drachenjünger stürzte, der aus der Schriftrolle vorlas, trat ein Para vor und schlug ihr den Griff seines Schwertes ins Gesicht. Blut spritzte durch die Luft. Savga schrie.
Mir schwindelte, als ich mich erinnerte, wie ein Stiefelabsatz immer und immer wieder auf den Kiefer meiner Mutter hinabgesaust war.
Aus dem Clan der blutenden Frau wurden willkürlich acht andere Frauen ausgesucht, die für ihr Verhalten bestraft wurden. Die Breitseiten der Schwerter blitzten in der Sonne, während das Geräusch, wie Metall auf Fleisch schlug, immer und immer wieder erklang, bis die Haut der Frauen mit blauen Flecken übersät war. Das Klatschen kam mir lauter vor als die Schreie der Opfer.
Ich verfiel in eine Art Trance, bewegte mich, als wäre ich aus Holz.
Allmählich kamen die blendend hellen Kuppeln und der goldene Turm von Xxamer Zus Tempel näher, flimmernd vor Hitze. Um den Tempel drängten sich Gebäude, wie wilde Hunde sich um einen Knochen drängen.
Wir wurden in den Mittelpunkt der Brutstätte von Xxamer Zu geführt.
Mein Mund war voller Staub, und ich hatte einen säuerlich pelzigen Geschmack auf der Zunge. Ich sehnte mich nach Wasser. Savga schlurfte neben mir her. Ihr Gesicht wirkte wie ein Klumpen geschmolzenen Talgs.
Wir passierten die Werkstatt eines Wagenbauers, die von halb verfallenen, verlassenen Hütten umringt war. Hämmer hörten auf zu schlagen, Sägen unterbrachen ihre Arbeit. Aus schwarzen, wie Teer wirkenden Augen in vollkommen ausdruckslosen Gesichtern folgten uns Blicke. Wir schlurften an einer Karawanserei vorbei, in deren leeren Fensterhöhlen Tauben nisteten, und passierten einige schmale, baufällige Gebäude, aus denen der scharfe Gestank von Zitrone und Yanew-Ringen drang.
Hätte ich das Myazedo-Treffen nicht gestört, hätten sie vielleicht an jenem Abend eine Entscheidung getroffen. Vielleicht hätten sie sich erhoben und verhindert, dass die Sklaventreiber kamen. Von daher war ich, zumindest teilweise, dafür verantwortlich, dass Savga in diese Handschellen gelegt worden war.
Ich wandte mich zur Seite und erbrach mich. Galle spritzte gegen die krummen Holzplanken eines der baufälligen Gebäude, die die schmale Gasse säumten.
Der Zweck dieser hölzernen Schuppen war an ihrem Äußeren nicht zu erkennen, trotz der runzligen alten Frauen, die vor jeder Hütte saßen und in großen Pfannen, die auf qualmenden Feuerkörben balancierten, lilienweiße Flüssigkeit siedeten. Die Alten sahen uns an, als wären wir Pashnor Ki Fa Cinai Ersen, die Handschrift des aufgebrachten Reinen Drachen. So werden in der Sprache des Imperators die Ruinen genannt, die ein Hurrikan hinterlässt.
Als wir vorübergingen, blieb eine Rishi stehen, deren Haut so dunkelbraun wie eine durchnässte Wasserwühlmaus und von schlammgrünen Flecken übersät war. Sie schob einen leeren Handkarren. Eine Gruppe Jugendlicher kam aus einer Seitengasse, große, mit Featonkörnern gefüllte Kiepen auf den Rücken geschnallt. Ihre Haut war wie ein Mosaik aus Braun-und Grüntönen: ockerfarben, braunschwarz, braun wie Beeren, grün wie dem Licht ausgesetzte geschälte Zwiebeln, oliv-und salbeigrün. Die Flecken auf ihrer Haut sahen aus wie Ranken aus Grünspan, und ihre Mienen verrieten bei unserem Anblick in nur wenigen Herzschlägen erst Schock, dann Wut und schließlich bemühte Gleichgültigkeit. Vielleicht hielten sie sogar mehrere Augenblicke lang den Atem an.
Die Paras, die uns geleiteten, marschierten mit den Händen auf den Griffen ihrer Schwerter neben uns her, und ihre wilden Narben verliehen ihren Gesichtern einen finsteren, geierhaften Ausdruck.
Schließlich erreichten wir eine Hauptstraße, eine breite, staubtrockene Landstraße, die von beiden Seiten von Anwesen flankiert wurde. Ein Jugendlicher mit fleckiger Haut zog eine Rikscha über die Straße. Darin saßen zwei Bayen-Frauen, geschützt durch einen riesigen, elfenbeinfarbenen Sonnenschirm, auf dessen Stoff winzige Spiegel und Hunderte von feinen Glasperlen funkelten. Sie würdigten uns nicht einmal eines Blickes.
Die Drachenjünger führten uns über diese Hauptstraße. Mein Blick wurde unwillkürlich von den prachtvollen Anwesen entlang der Straße angezogen.
Die Fassaden dieser Herrenhäuser waren unvorstellbar glatt und weiß, als wären sie aus Knochen geschnitzt. Nur ihre Sockel waren von rotem Staub verkrustet. Aus den Fronten ragten Balkone und Balustraden hervor wie handgeschmiedete Rippen, und darauf standen irdene Gefäße mit blutroten Blumen, deren üppige Pracht bis zum Boden reichte. Der Duft dieser Blumen war kupfern und schwer wie frisch vergossenes Blut.
Es war kurz nach Mittag, und die Sonne pulsierte über uns wie ein eitriger Tumor.
Wir folgten der Hauptstraße eine Weile und bogen dann in eine Seitenstraße ab, deren festgetretener Lehm von vertrockneten, braunen Gemüseabfällen übersät war. Unvermittelt erreichten wir den Rand des Iri Timadu Bayen Gekin, des Marktplatzes von Xxamer Zus Höchst Vornehmen Aristokraten. In seiner Mitte erhob sich der Wai Bayen Tempel.
Neben mir stieß Savga einen Laut aus wie ein kleines Tier, das von einem Wildhund gepackt wird. Sie starrte auf den Tempel mit den weitaufgerissenen Augen eines gefangenen Singvogels.
Über einem ungeheuren Sockel aus Sandstein, der mit geometrischen Mustern übersät war, erhoben sich die drei Kuppeln des Tempels von Xxamer Zu. Die größte Kuppel, die man von jeder Ecke der Brutstätte aus sehen konnte, war golden und von einem Turm gekrönt. Zwischen Pfeilern aus Sandstein lugten drei unterirdisch gelegene, zu den Seiten hin offene Amphitheater wie schwarze Pupillen hervor. Das kühle Innere dieser Amphitheater roch wie nächtliche Weiher, und die gläsernen Mosaike auf den Pfeilern in ihrem Inneren funkelten wie blauweiße Sterne.
An der Westseite des Tempels standen wie ein Regiment gewaltiger, viereckiger Soldaten eine Reihe von Gebäuden. Die Schreib-und Schlafsäle, die Schatz-und Vorratskammern, die Speise-und Gebetsräume der Heiligen Hüter von Brut Xxamer Zu. Dies war die Anlage, in der vor nicht ganz einer Woche eine Schar bewaffneter Inquisitoren versucht hatte, mich zu ermorden.
Die strengen Fassaden dieser Gebäude wurden in regelmäßigen Abständen von düsteren Fensterhöhlen unterbrochen. Am Fuß der Gebäude schwangen sich Steinbrücken über nicht existierende Teiche wie die Höcker einer gigantischen, versteinerten Schlange. Ein gewaltiger Eisenzaun, fünf Meter hoch und von rostigen Eisendornen gekrönt, umgab das gesamte Gelände.
Vor diesem Eisenzaun blieben wir stehen.
Tore öffneten sich in Angeln, die quietschend nach Öl schrien. Die Fensterhöhlen der steinernen Schlafsäle starrten auf uns herab. Wir wurden über eine Steinbrücke geführt, dann durch eine schmale, steinerne Unterführung, die unter eine der Kuppeln führte. Es stank entsetzlich nach Pisse.
Urinierten die Drachenjünger etwa hier, weil sie zu faul oder zu gleichgültig waren, um sich in einer Latrine zu entleeren? Ich stellte mir vor, wie sie verstohlene Blicke nach rechts und links warfen, sich die vielen eleganten Schichten ihrer Gewänder über die Lenden hinaufzogen, mit ihren dicken Schwänzen auf die Wände zielten und ihren Urin wie Köter über ihr Territorium verteilten, in der Gewissheit, als Mitglieder der unantastbaren Elite keine Strafe fürchten zu müssen.
Savga hielt sich mit einer Hand die Nase zu. Die Kette an ihren Handgelenken schlug gegen ihr Kinn.
Wir traten aus der Unterführung in einen Hof.
Wie wir staunten!
Der Hof war mit üppigen Weinranken geschmückt, an denen reife Trauben hingen. Auf dem Boden, der mit winzigen weißen Blumen übersät war, blühten in bunt glasierten Pflanzkübeln samtige, purpurfarbene Blumen. Dicke Bienen summten umher. Riesige, schattenspendende Pflanzen standen überall, mit Blättern, die so lang und breit waren wie ein Kind, das mit ausgebreiteten Armen und Beinen dasteht. Sie drängten sich an die gewaltigen Stacheln von Pflanzen, die dicht mit beerenförmigen Blättern besetzt waren. Diese Blätter verströmten einen scharfen, terpentinartigen Geruch, frisch und ein wenig beißend.
Blumen in Form von großen, goldenen Flöten hingen protzig an schimmernd weißen Stängeln, die mir bis über den Kopf reichten. Springbrunnen ließen ihr Wasser auf purpurfarbene Blätter rieseln, die darunter nickten und zitterten, als litten sie unter Schüttellähmung. Orangefarben schimmernde Karpfen schwammen in Teichen. Sie sahen aus wie nasse Scheiben der untergehenden Sonne, die in einem flüssigen, blauen Himmel gefangen war.
Wir durchquerten diese wundersame Welt aus Feuchtigkeit und Üppigkeit, zu erstaunt, um unseren Durst und Hunger zu bemerken, trotz des Überflusses an Wasser und saftigen Früchten, die uns anlachten.
Danach passierten wir eine weitere Unterführung, aufgewühlt von dem, was wir da hinter uns ließen, und erreichten einen weiteren Hof, dessen Schönheit in seiner Schlichtheit lag. Große, flache Steine waren hier aufgestellt, balancierten nahezu unmöglich auf einer ihrer Kanten. Ein Drachenschüler mit nacktem Oberkörper kniete in der Mitte des Hofs. Sein typischer grüner Kragen lag neben seinen Knien wie ein gehorsamer Hund. Sein Rücken und Oberkörper waren blutverschmiert. Er schien uns nicht zu bemerken, als wir mit klirrenden Ketten an ihm vorbeischlurften. Sein verzückter Blick war auf einen der unmöglich ausbalancierten Steine gerichtet, während er sich immer wieder mit einer Peitsche auf die Arme, die Brust und den Rücken schlug. Das Klatschen der vielen Lederstreifen auf seiner Haut klang wie feuchter Teig, der von den runzligen Händen einer alten Frau durchgewalkt wird.
Die nächste Unterführung kam. Hier roch es nach Drachendung, nach dem ledrigen Gestank von Drachenhaut.
Mein Herzschlag beschleunigte sich.
Wir standen in einem Stallhof.
Einen Moment glaubte ich Gift zu riechen. Der Geruch der Drachen war so eng mit dem nach Gift verbunden, und meine Sehnsucht nach Gift war so stark, dass ich das Aroma des flüssigen Feuers der Drachen dank meines Bedürfnisses danach schon wahrnahm, wo es überhaupt nicht existierte.
»Die Botenstallungen«, knurrte der Drachenmeister vor mir. Als ich daraufhin die Drachen in den Stallboxen betrachtete, erkannte ich, dass es sich bei ihnen, natürlich, nur um Escoas handelte, um diese giftlosen Drachen, die für Botendienste eingesetzt wurden oder um Fracht und privilegierte Personen von einem Ort zum anderen zu befördern. Genau die Escoas, die Tansan hatte verkrüppeln wollen.
Ich war also wieder da, wo ich zuerst in Xxamer Zu eingetroffen war. In den Botenstallungen.
Die Soldaten trieben uns in eine leere Stallbox.
Auf dem blanken Steinboden lag zwar keinerlei Stroh, aber der Trog an einem Ende der Box war mit Wasser gefüllt.
Als man die Kette von unseren Handschellen, die man uns allerdings nicht abnahm, gelöst hatte, stolperten wir zu dem Trog an der gegenüberliegenden Wand. Wir knieten uns davor, tauchten unsere Gesichter in das abgestandene, brackige Wasser und tranken lange und gierig, bis wir gesättigt waren.
In der Nacht würden wir alle Magenkrämpfe bekommen. Und bis zum nächsten Morgen würde die Luft in der Box nach Durchfall stinken.
Aber das wussten wir da noch nicht. Wir wussten nur, dass wir endlich nicht mehr weitergehen mussten, dass die Schreie der Familien, die man auseinandergerissen hatte, verstummt waren, dass Wasser unsere rissigen Lippen benetzte und wie kühle Algen unsere Kehlen hinunterlief.
Das war für den Moment auch genug.