22
Tanz mit mir, Savga, komm tanz mit mir!«, rief ich und wirbelte sie in meinen Armen herum. Sie quietschte, beugte sich zurück, ihre Beine um meine Taille geschlungen, und ihr Haar fächerte aus wie schwarze Seide, als wir uns zu dem wilden Rhythmus der Trommeln drehten.
Ich prallte mit dem Rücken gegen jemanden. Savga und ich fielen zu Boden, haltlos kichernd.
Der ganze Arbiyesku tanzte im Zwielicht des heraufziehenden Abends bis auf jene, die den wilden, feiernden Rhythmus auf umgedrehten Kesseln und Wasserfässern trommelten. Die älteren Frauen unseres Clans klatschten dazu schnelle Synkopen, während alte Männer mit zahnlosem Grinsen ein eigenes Lied krächzten, das verdächtig nach einem triumphierenden Schlachtenlied klang. Überall in Xxamer Zu fanden ähnliche Feiern statt.
Jetzt platzte ich fast vor Stolz. Meine Brutstätte! Mein Drachenbulle. Ich hatte es vollbracht!
Der Takt des Liedes änderte sich, wurde langsam, sinnlich, schwer. Ich blickte vom Boden hoch, wo ich Savga festhielt und kitzelte. Tansan schritt in die Mitte des Hofes. Die anderen Tänzer wichen zurück und gaben ihr Raum.
Eine Holzflöte spielte eine klagende Melodie, während der Geruch von Holzrauch von den Feuern im Lagerhaus sich im Zwielicht mit dem wilden, vom Wind herangewehten Duft der Steppe vermischte. Tansan begann zu tanzen.
Langsam wiegte sie ihre Hüften. Ihre großen Brüste waren fest und stolz, den Kopf hielt sie gerade. Ihre schwarzen, so ironisch blickenden Augen reflektierten denselben glühenden Stolz, den auch ich empfand, und als sie mich anblickte, stockte mir der Atem. Hitze stieg in meine Wangen.
Sie ging nicht, sie schien zu fließen. Ihre geraden Schultern, die kräftigen Arme, die glatte Haut, die breiten, üppigen Hüften, ihre Schenkel, ihr Busen … Ihr Tanz war fesselnd. Langsam kam sie auf mich zu, immer näher. Noch näher. Bis ich nur noch ihre langen Beine sah, als sie direkt vor mir stand. Während sie weitertanzte, die Flöte ihre sehnsüchtige Melodie in den Wind pfiff, die Trommeln den Rhythmus des Herzens der Steppe selbst zu schlagen schienen, streckte sie eine Hand nach mir aus. Ich erhob mich, wie verzaubert.
Wir bewegten uns, sie und ich. Die Hitze ihres Körpers erfüllte meinen Leib mit dunklen Gefühlen, der Bann ihrer schwarzen, rätselhaften Augen war erbarmungslos. Eine nach der anderen gesellten sich die Frauen des Clans zu uns und wir tanzten.
Dann drehte ich mich um. Langbein stand am Rand des Arbiyesku, in der Nähe des Kokon-Lagerhauses. Langbein und neben ihr die Matriarchin. Umringt von ihrem Stamm.
Abrupt blieb ich stehen.
Die Frau neben mir prallte gegen mich, stolperte, blieb stehen und löste eine Kettenreaktion aus. Der Kreis der Frauen kam stolpernd zum Stehen. Ich spürte mehr, als dass ich es sah, wie alle meinem Blick folgten. Die Trommeln und die Flötenmusik erstarben.
»Warum sind sie gekommen, Zarq?« Tansan brach das Schweigen.
Etwas in meiner Miene musste sie zu dieser Frage veranlasst haben. Ich schluckte und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht.« Ich musste mich zwingen, zu antworten.
Tansan betrachtete forschend mein Gesicht. »Sind sie es?« Einen Moment hatte ich vergessen, dass ich ihr alles über den Ritus erzählt hatte, dem ich mich im Dschungel unterzogen hatte. Ich nickte.
»Gut. Dann wollen wir sie begrüßen, ja?« Sie klang vollkommen gelassen, als würde sie vorschlagen, Buschtee mit Freunden zu trinken.
Savgas Hand glitt in meine.
Umringt von meinem Clan, Fwipi auf der einen und die kleine Savga auf meiner anderen Seite, näherte ich mich Langbein und der Matriarchin. Ich hätte mich ihnen auch nur ungern allein genähert. Langbeins bernsteinfarbene Augen glühten wie die einer verwundeten Raubkatze. Die Matriarchin stand neben ihr, umhüllt von einer glitzernden, perlrosafarbenen Decke. Sie war mit winzigen Muscheln übersät, die mit Goldfäden angenäht waren. Woher sie diese Fäden oder die vielen goldenen Halsketten hatte, die sie um ihren stolzen, geraden Hals trug, wusste ich nicht. Unter meinen Clansleuten erhob sich beim Anblick dieser wundervollen Decke und der vielen Halsketten ein unruhiges Gemurmel.
Das Gesicht der Matriarchin war vollkommen unergründlich. Hinter ihr stand ihr Stamm, große Bündel auf dem Rücken; schwerere Lasten wurden zwischen Bambusstöcken von den kräftigsten Frauen und Männern gezogen. Es sah aus, als hätten sie ihr Lager abgebrochen.
Einige der Myazedo-Rebellen, die das Kokon-Lagerhaus bewachten, hatten ihre Schwerter gezückt und beobachteten uns aufmerksam. Sie hielten jedoch Abstand. So gerade eben.
Langbein ergriff das Wort, reckte das Kinn vor. Sie trug noch immer meine Locke in ihrem Haar.
»Was hat sie gesagt?« Ich warf Fwipi einen Seitenblick zu.
Die schnalzte mit der Zunge. »Du glaubst, es gibt nur eine Djimbisprache in diesem großen, weiten Land? Pah! Es gibt eine ganze Klauevoll! Ich verstehe sie genauso wenig wie du.«
»Es muss doch jemanden in Xxamer Zu geben, der ihre Sprache versteht«, erwiderte ich.
»Muss es?« Fwipi schüttelte den Kopf. »Nur weil du es so willst?«
Tansan auf der anderen Seite neben mir trat vor. »Djekid spricht diese Sprache ein wenig. In den Hügeln kreuzen sich seine Wege gelegentlich mit denen dieses Stammes. Piah holt ihn.«
Piah verschwand in der Dämmerung.
Wir standen da und warteten. Die Feuer im Lagerhaus knackten und knisterten. Es wurde Nacht. Eine der Frauen des Arbiyesku fragte laut, ob wir den fremden Djimbi nicht Speisen und Getränke anbieten sollten. Aber diese Bemerkung wirkte irgendwie unangemessen, denn die Stimmung glich eher einem Patt. Keiner vom Stamm der Matriarchin hatte sich auf die Fersen gekauert, um auszuruhen, während sie warteten. Alle standen und blickten mich an. Von uns hatte sich auch keiner gesetzt. Offenbar fühlte sich niemand bei dem Gedanken wohl, sich miteinander hinzusetzen, geschweige denn, gemeinsam zu essen.
In der Ferne hörten wir das Dröhnen von Trommeln und die gedämpften Schreie der Feiernden.
Das Warten dauerte endlos.
Schließlich hörten wir zwei Escoas über uns. Sie waren vor dem schwarzen Himmel kaum zu erkennen und landeten neben dem Lagerhaus. Der Messerträger und Malaban Bri stiegen von der einen Escoa ab, ein reich geschmückter Adliger und der Myazedo-Rebell mit den zwei Zöpfen von der anderen. Malaban Bri nickte mir zu und wandte sich dann an Langbein und die Matriarchin.
Langbeins Blick glitt zu dem Messerträger, dann sagte sie etwas zu der Matriarchin, die unmerklich nickte. Langbein forderte etwas, der Messerträger antwortete mit einigen Worten aus Langbeins Sprache, aber sie schnitt ihm giftig das Wort ab. Sie hob ihren Speer und deutete mit einem Nicken verächtlich in meine Richtung. Der Rebell mit den zwei Zöpfen trat nervös von einem Bein aufs andere und warf dem Bayen neben sich einen vielsagenden Blick zu.
Schließlich akzeptierte ich, dass das Gefühl, das in mir wuchs, Furcht war. Der Stamm der Matriarchin war gekommen, um einzufordern, was ich ihnen ihrer Meinung nach schuldete.
Der Messerträger und der Zweizöpfige steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich kurz. Offenbar verstanden sie beide etwas von Langbeins Sprache. Ich fragte mich, wer von ihnen wohl Djekid sein mochte.
Schließlich richtete der Messerträger erneut das Wort an Langbein. Wieder unterbrach sie ihn. Ihr Verhalten und ihr Tonfall waren noch verächtlicher und wütender als zuvor. Der Zweizöpfige kniete sich hin und zeichnete zwei Drachen in den Staub. Der eine hatte Geruchsfühler auf dem Kopf. Stockend sagte er etwas und deutete auf mich. Langbein hob verächtlich ihr Kinn, bestätigte seine Worte.
Der Messerträger warf mir einen Blick zu, bei dem es mich kalt durchfuhr; dann wandte er sich an Malaban Bri, der unbeteiligt zugehört hatte, genauso wie die Matriarchin, die ihm gegenüberstand. Der Aristokrat neben Malaban blieb stumm. Sein sorgfältig geölter Bart glänzte im Schein der Feuer.
»Die da«, der Messerträger deutete mit dem Kinn auf mich, wobei er unbewusst Langbeins Geste nachahmte, »hat dem Stamm einen geflügelten Jährling und einen neugeborenen Drachenbullen versprochen, im Austausch für das Geheimnis, wie man Bullen in Gefangenschaft züchtet. Der Stamm ist gekommen, um die versprochenen Drachen einzufordern.«
»Stimmt das, Zarq?« Malaban sah mich an. Seine mit Kohlestift umrandeten Augen wirkten ernst.
Ich hatte Schwierigkeiten zu antworten. »Ich spreche ihre Sprache nicht. Vielleicht beinhaltete meine Teilnahme an dem Ritus ein Versprechen … Ich weiß es nicht.«
Malaban nickte bedächtig. Sein dicker Hals bewegte sich dabei kaum. Er wusste alles über den bitteren Stachel von Riten. Immerhin war Jotan seine Schwester. Seine gewaltige Brust dehnte sich mit einem tiefen Atemzug langsam aus, zog sich beim Ausatmen zusammen. Er sah die Matriarchin an.
»Also.« Seine sonore Stimme drang über den von Menschen bevölkerten Hof des Arbiyesku. »Wir haben ein Problem.« Er sah den Messerträger an. »Hat dieser Stamm einen Namen?«
»Sie nennen sich selbst die Kwembibi Shafwai«, antwortete der Messerträger. »Die Lautlosen Schlächter.«
»Starker Name.«
»Starkes Volk.«
»Ehrenhaft?«
»Wir würden sie nicht als Feinde gegen uns haben wollen.«
»Sind sie gekommen, um uns in unserem Kampf gegen den Imperator zu helfen?«
Der Messerträger lächelte schmallippig. »Sie kümmern sich nur um das, was sie direkt angeht. Sie wollen den Bullen und einen Jährling.«
»Und dann?« Diese Frage stellte der Aristokrat, der bis jetzt nur schweigend zugesehen hatte.
»Sie ziehen weiter und kehren in etwa einem Jahr in die Dschungelberge hier in der Nähe zurück. Vielleicht.« Der Messerträger zuckte mit den Schultern.
»Aber was passiert mit den Drachen?«, wollte der Aristokrat gereizt wissen. »Haben sie vor, selbst welche zu züchten?«
Wieder lächelte der Messerträger kühl. »Es dürfte ihnen schwerfallen, einen jungen Bullen davon abzuhalten, einen Jährling zu besteigen, heho!«
»Das ist nicht akzeptabel.« Der Adlige starrte Langbein und die Matriarchin böse an. »Wir können nicht zulassen, dass diese Djimbi-Wilden Drachen züchten, wo immer es ihnen gefällt.«
Der gesamte Arbiyesku erstarrte.
»Djimbi-Wilde?«, fragte ich in die Stille.
»Eines würde ich gern wissen«, fiel Malaban Bri rasch ein. »Wieso sind sie sich so sicher, dass wir einen jungen Bullen haben, den wir ihnen geben könnten?«
Der Messerträger sah mich vorwurfsvoll an.
»Ich habe diese Brutstätte niemals verlassen, um es ihnen zu verraten«, stieß ich hitzig hervor. »Ich war jede Nacht hier, jeden Tag. Dafür habe ich Zeugen. Hunderte.«
Der Messerträger gab Malabans Frage an Langbein weiter. Doch es antwortete die Matriarchin. Es war eine kurze Antwort.
»Sie verfügt über Drachensicht«, übersetzte der Messerträger.
»Drachensicht.« Malaban Bris Stimme grollte; einen Moment schienen die Flammen eines jeden Feuers zu erstarren, und das Schweigen der endlosen Steppe hüllte uns ein und reduzierte uns auf die unbedeutenden Kreaturen aus Haut und Knochen, die wir waren.
Die Matriarchin brach die unheimliche Stille.
Sie nahm die Schultern zurück, wirbelte herum und schrie ihrem Stamm etwas zu. Ihre Stimme klang so durchdringend wie der Schrei eines Falken. Dann breitete sie die Arme aus und … der Stamm drehte durch.
Kinder rannten kreischend zum Lagerhaus, gefolgt von Männern und Frauen. Alle rannten durcheinander wie verrückt gewordene Ameisen. Die Wachen vor dem Lagerhaus versuchten, die Meute mit Schreien und erhobenen Schwertern aufzuhalten, wurden jedoch einfach überrannt. Die Lautlosen Schlächter schwärmten aus, kletterten an der Seite des Lagerhauses zum Dach hinauf, Speere auf den Rücken geschnallt. Langbein reckte ihren Speer in die Luft und stimmte einen hohen, schrillen Gesang an, der die Nerven in meinem Körper zu zerreißen schien.
»Was machen sie da?«, schrie Malaban dem Messerträger zu.
»Sie schreien: ›Aufs Dach, aufs Dach!‹« Er zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum.«
Tansan hob einen Arm und deutete in den dunklen Himmel. »Da kommt etwas.«
Wir sahen hin, und schließlich erblickten wir ihn. Einen schimmernden, blauen Stern, der durch den pechschwarzen Himmel glitt. Er wurde rasch größer, als er sich näherte, schwoll zum Umfang eines Vollmondes an. Eine düstere Vorahnung überkam mich. Dieses schimmernde Blau kannte ich …
»Nein«, flüsterte ich. »Nein.«
Bei dem Lärm des Stammes, der immer noch am Lagerhaus emporkletterte, schien es unmöglich, dass jemand mich gehört hatte. Aber ich hatte mich geirrt. Tansans Finger gruben sich in meinen Arm. »Was ist das, Zarq?«
»Ein Himmelswächter«, antwortete ich heiser.
Der schimmernde Mond war jetzt nicht mehr rund, sondern elliptisch, und aus seinen Flanken schienen zwei Segel herauszuragen. Flügel.
»Ist es deiner?« Malaban wusste, wer ich angeblich war: die Tochter des Himmelswächters, die Dirwalan Babu.
Ich schüttelte verneinend den Kopf.
»Kratts also«, folgerte er grimmig. Ich bewunderte den Stoizismus des Mannes, seine Fähigkeit, das Übernatürliche zu akzeptieren, selbst wenn es sich ihm mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit näherte.
Der Himmelswächter war jetzt eindeutig als die gewaltige, außerweltliche Kreatur zu erkennen, die er auch war. Mein Clan suchte hastig Schutz, kreischend. Tansan schrie ihrer Mutter zu, Savga und Agawan ins Frauenhaus zu schaffen, aber Fwipi war schon unterwegs, Agawan in der Schlinge vor der Brust, Savga an der Hand. Die Schüler des Drachenmeisters und meine Myazedo-Rebellen rannten ebenfalls davon, um sich in Sicherheit zu bringen, und ich wäre ihnen nur zu gern gefolgt, wirklich. Stattdessen blieb ich stehen und sah zu, weil Tansan unbeweglich neben mir stand. Ich würde nicht fliehen, solange sie aushielt, oh nein!
Die Stammesangehörigen der Lautlosen Schlächter, die das Dach erreicht hatten, standen dort und schüttelten trotzig ihre Waffen gegen die Kreatur, die im Begriff war, sich auf uns zu stürzen. Ihre Kinder hockten oder standen tollkühn, ja leichtsinnig auf den Schultern der Erwachsenen, die ihre Speere in den Himmel streckten. Auch Frauen stiegen auf die Schultern von Männern, die sie mit gespreizten Beinen und zitternden Waden hochhoben. Der Himmelswächter kam näher, ich konnte das Weiß seiner Brust erkennen, wo sich die blauen Federn durch die starke Luftströmung teilten, als er im Sturzflug herabstieß. Die Kwembibi Shafwai schrien ihren dummen Trotz heraus und schüttelten ihre Speere gegen das herabsausende Ungeheuer, ignorierten seine gewaltigen, ausgestreckten Krallen.
Tansan und ich ließen uns zu Boden fallen und schützten unsere Köpfe mit den Armen.
Dann war der Himmelswächter über uns.
Sein Schrei schien den Himmel zu zerreißen, und der Boden bebte, als die baumlangen, in allen möglichen Farben schimmernden Krallen in das Dach des Lagerhauses schlugen.
Dachziegel stürzten auf Kokons und in Feuer, verfaultes Fleisch, brennende Balken und Zweige flogen überall umher. Die Menschen schrien, als die Krallen die Dächer der Männer-Hütten einrissen. Balken flogen wie Speere durch die Luft, das Stroh auf den Dächern der Männerbehausungen löste sich und rutschte lawinenartig auf den Boden. Insekten regneten aus ihren Nestern im Frauenhaus, als Balken zersplitterten und in die wackelnden Schilfwände krachten.
Der Gestank verfaulten Fleisches wurde wie ein gewaltiges, stinkendes Netz über Xxamer Zu geworfen. Der Himmelswächter schrie erneut, als er seinen Flug über die Brutstätte fortsetzte und mit seinen ausgestreckten Klauen eine Spur der Vernichtung und des Todes hinterließ. Der Lärm war entsetzlich; selbst das Holz kreischte, als es starb.
Nein. Nicht meine Brutstätte. Nein! Ich grub meine Hände in den Staub und weinte vor Wut, hatte zu viel Angst, um den Kopf zu heben und zuzusehen.
Schließlich stieg die anderweltliche Kreatur in den dunklen Himmel auf, während ihr überirdischer Schrei Balken erschütterte und Fliesen zerspringen ließ. Dann war sie verschwunden.
Von den herabfallenden Trümmern waren viele Leute verletzt und eingeklemmt worden. Malaban Bri arbeitete mit mir und dem Messerträger die ganze Nacht hindurch, wobei er mich ständig im Auge behielt, wenngleich auch heimlich.
Die Kwembibi Shafwai halfen uns nicht, unsere Verschütteten zu bergen und die Verletzten zu versorgen. Die Lautlosen Schlächter kümmerten sich um ihre eigenen Verletzten. Bei dem Angriff des Himmelswächters waren einige von ihnen, die auf dem Dach des Lagerhauses gestanden hatte, gestorben.
Im Morgengrauen verzehrten die Schlächter ihre Toten. »Sie essen ihre Gestorbenen«, informierte uns der Messerträger mit seinem unheimlichen Grinsen, »um sie zu ehren.«
Ich mochte den Messerträger nicht, ebenso wenig wie Langbein und ihren Stamm. Andererseits, wenn ich jetzt darüber nachdenke, macht es keinen großen Unterschied, ob man seine Toten an die Gharials verfüttert und diese anschließend selbst isst oder ob man seine Toten direkt verzehrt. Es sind immer die Gebräuche anderer Völker, die wir abstoßend finden, nie unsere eigenen.
Der Arbiyesku hatte drei Tote zu beklagen, unter ihnen Fwipi. Sie hatte sich über Agawan gekauert, Savgas kleinen Bruder, als ein Ziegelstein aus der Wand des Lagerhauses durch die Schilfrohrwände geflogen kam und sie an der Schläfe traf. Nachdem ich Savga zusammengekauert neben Fwipis Leiche in den Trümmern gefunden hatte, bestand sie darauf, bei mir zu bleiben. Agawan hatte sie sich auf den Rücken gebunden. Tansan trauerte derweil neben Fwipis Leichnam.
Die Vernichtung des Arbiyesku erinnerte mich in schrecklicher Weise an die Zerstörung des Danku Re in meiner Jugend durch aufgepeitschte Jährlinge, mit denen Kratt auf unseren Töpferhof geflogen kam. Das Leben verläuft in Kreisen. Ich musste mich gegen den starken Drang wehren, mich in einer Ecke zu verstecken und in den Schlaf zu wiegen.
Ob Mutter die Konsequenzen ihres Tuns bewusst waren? Das konnte ich kaum glauben. Die Besessenheit, mit der ihr Geist Waivia zu beschützen suchte, hatte sich Jahr um Jahr verstärkt. Sie war wie ein wild wucherndes Geschwür, das alles Gute und Menschliche aus dem Geist gesaugt und nur zerstörerische Bosheit übrig gelassen hatte. Jedenfalls hoffte ich, dass es sich so verhielt. Denn die Alternative war zu entsetzlich, um sie auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie hätte bedeutet, dass der Geist, meine Mutter, sehr wohl wusste, was er tat, und dennoch Kratts Wünschen folgte, die Waivia ihm übermittelte.
Warum sollte Waivia Xxamer Zu Schaden zufügen wollen?
Warum? Weil Xxamer Zu der Sitz der Nashe war, das Zentrum des Großen Aufstandes, der dem Regime des Tempels ein Ende bereiten würde. Kratt, der Mischling einer xxeltekischen Ebani und eines Ludu Bayen, wollte den Tempel beerben, indem er sich so viele Brutstätten wie möglich aneignete. Waivia wollte dieselbe Macht und denselben Wohlstand für ihren Sohn. Natürlich war das eine reine Spekulation, erdacht von einem schockierten und erschöpften Hirn. Aber ich kannte Waivia. Ich kannte ihre Entschlossenheit, ihre geistigen Fähigkeiten und den unzähmbaren Überlebenswillen, der von der grausamen Djimbi-Feindlichkeit, die man ihr als Kind entgegengebracht hatte, verschärft, wenn nicht sogar erzeugt worden war.
»Du begleitest mich zum Hauptquartier«, erklärte Malaban Bri, während er den Schauplatz der Verwüstung und die Rishi musterte, die wieder Ordnung herzustellen versuchten. Es war kurz nach Tagesanbruch. Der Messerträger näherte sich mit einem der beiden Escoas, die beim Auftauchen des Himmelswächters in Panik davongelaufen waren, gefesselt und mit gesicherten Schwingen. Malaban Bri und ich standen nebeneinander, rußverschmiert und mit Stroh und Jutefetzen bedeckt. Die Feuer im Lagerhaus loderten immer noch. Dafür hatte Malaban gesorgt. Er hatte nach dem Verschwinden des Himmelswächters die Erhaltung der Feuer zur wichtigsten Aufgabe erklärt, damit die wenigen unbeschädigten Kokons genügend Hitze bekamen.
»Zarq?«
»Ich habe es gehört.«
Ich blickte zu Savga hinab, die mich mit ihrem mitgenommenen Gesicht und ihren wilden Augen ansah.
»Bleib bei deiner Mutter, kleine Ameise«, murmelte ich, legte sanft meine rußige Hand auf ihren Rücken und schob sie von mir weg. Ich weigerte mich, an Fwipi zu denken, daran, wie sie ausgesehen hatte, als ich sie fand. Ihr Gesicht war blutverschmiert gewesen, und ihr Kopf lag in einem unmöglichen Winkel zum restlichen Körper. Ihr Genick war gebrochen. Kinder sollten so etwas nicht mit ansehen. Aber sie tun es. Sie müssen es. »Ich komme zurück. Versprochen.«
Mit hochgezogenen Schultern ging Savga ein Stück zurück und drehte sich dann um. Sie sah zu, wie ich die Escoa bestieg.
Malaban und ich flogen los, zu der Tempelanlage im Zentrum der Brutstätte.
Wir landeten im Hof der Botenstallungen, und ich blickte instinktiv in die dunklen Ecken in der Erwartung, Inquisitoren zu sehen. Nervös und erschöpft, ausgelaugt von dem Bild von Fwipis zertrümmertem Gesicht, das ständig vor meinen Augen auftauchte, folgte ich Malaban Bri schweigend in den früheren »Bienenkorb« von Xxamer Zu, die Kammern, in denen der Höchste Heilige Tempelvorsteher der Brutstätte die kostbaren Abschriften der Tempelschriftrollen in den sechseckigen Fächern aufbewahrt hatte, die von der Decke bis zum Boden reichten. In den Geruch von Tinte, Weihrauch und altem Pergament mischte sich der beißende Gestank von Tabak.
Rutgar Re Ghepp, der frühere Lupini Xxamer Zu, saß unter den grimmigen Männern, die Malaban Bri und mich erwarteten. Ghepp wirkte fast ebenso heruntergekommen wie wir.
Sein Seidenhemd sah aus, als hätte er darin geschlafen. Er war abgemagert und übermüdet. Aber er war immer noch ein schöner Mann und saß zwischen seinen Häschern, als wäre er einer von ihnen. Ich sah noch einmal genauer hin. Er war es tatsächlich! Die Befreiung seiner Brutstätte durch die Myazedo schien sich zu seinem Vorteil ausgewirkt zu haben. Dank meiner Forderung, Ghepp am Leben zu lassen, damit er mit seinem Bruder verhandeln konnte, war er immer noch eine Schlüsselfigur, umringt von anderen mächtigen Männern. Nur waren jetzt diese anderen für das Wohlergehen der Brutstätte verantwortlich, und er trug nicht mehr allein die Last, schwierige Entscheidungen treffen zu müssen.
Er betrachtete mich mit kaum verhüllter Feindseligkeit und beugte sich vor. Ein Muskel in seiner wie gemeißelt wirkenden Wange zuckte. Er erinnerte mich an einen Pfeil auf einer gespannten Bogensehne.
Malaban Bri fasste kurz die Ereignisse der Nacht zusammen, einschließlich seiner Begegnung mit den Kwembibi Shafwai. Er berichtete von der Forderung des Stammes und stellte anschließend mich vor. Er gab einen kurzen Überblick über das, was er von mir wusste. Es war eine weit knappere Zusammenfassung meines Lebens, als ich sie dem Messerträger und Tansan gegeben hatte. Bis auf Malaban Bri und Ghepp kannte ich keinen in der Runde. Ich trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, dachte an Fwipi, an Savga, schob die Gedanken wieder von mir.
Ein makellos in lavendelfarbene Seide gekleideter Bayen unterbrach Malaban. »Diese Rishi hier vor uns ist Zarq, die Ausgeburt?«
»Das ist einer der Namen, unter denen sie bekannt ist«, erwiderte Malaban ungerührt. »Mir wurde sie als Dirwalan Babu vorgestellt. Die Tochter des Himmelswächters. Sie ist die Person, die mir das Geheimnis verriet, wie man Drachenbullen in Gefangenschaft züchtet, und dieses Geheimnis hat sie von den Kwembibi Shafwai erfahren.«
Unruhe machte sich im Raum breit. In den Blicken, mit denen die Anwesenden mich betrachteten, schimmerten unterschiedliche Nuancen von Ekel und Entrüstung, mit Ausnahme des Blicks eines dunkelhäutigen Bayen. In seinen Augen funkelte Geilheit.
»Hat sie gestern Nacht diese Kreatur beschworen?«, erkundigte sich der Bayen in Lavendel und hob die Stimme.
Malaban drehte sich zu mir um. »Zarq? Hast du das getan?«
»Malaban, der Himmelswächter hat uns angegriffen!«
»Nicht auf dein Geheiß hin?«
»Nein.«
»Es war also Zufall, dass dieser Stamm kurz vor dem Auftauchen des Himmelswächters eintraf und du ihm bekannt warst«, erklärte Lavendelhemd.
»Der Stamm hat den Himmelswächter nicht gerufen. Ihr wart nicht dabei, Ihr habt nicht gesehen, wie …«
»Du nennst dich selbst die Tochter des Himmelswächters, Rishi Via.«
»Verdammt, Kratt hat den Himmelswächter geschickt.«
»Kratt?« Die gezupften Brauen von Lavendelhemd hoben sich. »Willst du damit sagen, dass Waikar Re Kratt eine Kreatur des Himmlischen Reiches befehligt und nicht du?«
Meine Gedanken überschlugen sich. »Meine Schwester beherrscht sie. Und sie steht Kratt zur Seite. Der Himmelswächter hat mir einmal gehorcht, aber …«
»Aber das tut er nicht mehr!«, unterbrach mich Ghepp eisig. »Du brauchst angeblich den rebellischen Drachenjünger, um ihn zu kontrollieren, und der ist nicht da. Er ist wieder einmal verschwunden, während wir ihn am dringendsten brauchen.«
»Gen war hier? Wann? Warum hat mir das niemand gesagt?« Verwirrt sah ich Malaban antwortheischend an.
Statt meiner Aufforderung nachzukommen, stellte er mir eine Frage. »Kann der einstige Drachenmeister von Brut Re diesen Himmelswächter kontrollieren? In meiner Villa hat er sich gegen dich gestellt. Würde er die Kreatur benutzen, um dich hier zu erwischen?«
»Der Drachenmeister? Was hat er damit zu tun? Mittlerweile ist er sicherlich längst gestorben.«
Unheilschwangeres Schweigen antwortete.
»Nein«, brummte Malaban schließlich. »Sein Gemach wurde vor zwei Tagen leer vorgefunden. Außerdem ist eine meiner Escoas gestohlen worden.«
Das war unmöglich!
»Und Jotan?«, fragte ich besorgt.
»Sie war nicht zu Hause.« Sein Tonfall verriet mir, dass er genau wusste, wo sie gewesen war. »Ihre Dienstmagd, die sich in ihren Gemächern aufhielt, wurde tot aufgefunden. Man hat ihr den Schädel eingeschlagen.«
Ich erinnerte mich an die Bosheit in den unnatürlichen Augen des Drachenmeisters, als er von Tansan gesprochen hatte. Niemand fesselt mich, ohne dafür zu büßen.
Er lebte und befand sich auf freiem Fuß.
»Ich schlage vor, wir lindern den Zorn meines Bruders und verhindern einen weiteren Angriff dieser Kreatur«, sagte Ghepp, an die Männer um sich gewandt. »Liefert ihm diese Ausgeburt aus.«
»Ich verstehe nicht einmal, was sie überhaupt hier zu suchen hat«, sagte Lavendelhemd. »Du warst nicht gut beraten, Malaban, dass du diese Abtrünnige unterstützt hast.«
»Ich will Euch daran erinnern«, begann Malaban gepresst, aber ich unterbrach ihn.
»Kratt ist nicht hinter mir her. Jedenfalls nicht mehr. Er glaubt, ich bin in Skoljk. Der Angriff des Himmelswächters war eine Warnung, sich nicht gegen den Tempel zu stellen.«
Ghepps makellose Nasenflügel weiteten sich. »Ich werde keinen Pakt mit meinem Bruder an deiner Gegenwart in meiner Brutstätte scheitern lassen.«
»Eure Brutstätte? Pakt?« Ich hätte mir fast die Haare gerauft. »Ihr seid eine Geisel, Ihr Idiot, und was für einen Pakt auch immer Ihr mit Eurem Bruder geschlossen zu haben glaubt, er ist nur einen Haufen Scheiße wert! Kratt hat in Bashinn alle Hände voll zu tun, und das ist der Grund, weswegen er uns bis jetzt noch nicht angegriffen hat. Versteht Ihr das nicht? Kratts Ziel besteht darin, ganz Malacar zu beherrschen. Er will der nächste Imperator werden und wird vor nichts Halt machen, um dieses Ziel zu erreichen. Pakt?«, spie ich bitter hervor. »Er hält Euch zum Narren und benutzt die Macht des Tempels für seine eigenen Zwecke.«
Mein Ausbruch war dumm. Kratt hatte Ghepp das Erstgeborenenrecht gestohlen und ihn immer wie einen Narren aussehen lassen. Ghepp errötete, und seine mandelförmigen Augen wurden glasig. »Schickt sie zu meinem Bruder!«
»Merkwürdige Kräfte erschüttern dieses Land«, knurrte Malaban. Ich konnte ihn kaum verstehen, weil mein Herz so laut vor Wut hämmerte. »Wenn Zarq die Fähigkeit besitzt, diese Mächte zu beeinflussen, sollten wir es uns sehr lange und gründlich überlegen, bevor wir sie Kratt …«
»Dann steckt sie ins Gefängnis.« Ghepps Blicke zerstückelten mich förmlich.
Ich hätte den Mund halten sollen. Ich versuchte es auch ein paar Herzschläge lang. »Du wirst mich nicht einsperren«, sagte ich leise. »Du hast es schon einmal getan, und ich bin entkommen. Versuch es noch einmal, dann bringe ich dich um.«
Ghepp sprang so hastig auf, dass sein Stuhl polternd umkippte. »Habt Ihr es gehört? Dieses Miststück von Ausgeburt bedroht mich! Schickt sie zu meinem Bruder!«
»Wo ist Chinion?«, schrie ich. »Warum sind keine Myazedo-Rebellen in diesem Raum?« Ich fuhr zu Malaban herum. »Wir brauchen Djimbi-Älteste in unserem Rat, Menschen, welche die alte Magie kennen und verstehen. Nicht diese Schönlinge!«
Einige Männer protestierten wütend, und zwei sprangen beleidigt auf.
»Wir kümmern uns nicht um nutzlose Eingeborenenbräuche, Rishi Via!«, übertönte Lavendelhemd die anderen.
»Schickt sie zu Kratt!«, brüllte ein anderer.
»MEINE HERREN!«, dröhnte Malaban und hämmerte seine mächtigen Fäuste auf den Tisch. Schlagartig kehrte Ruhe ein. Er sah die Anwesenden der Reihe nach wütend an. »Ich für meinen Teil habe nicht vergessen, wer mir das Geheimnis mitgeteilt hat, wie man Drachenbullen in Gefangenschaft züchtet, und ich erwarte, dass einige von Euch sich gefälligst daran erinnern, wer Euch darüber in Kenntnis gesetzt hat. Wenn Zarq an Kratt übergeben werden soll, dann diskutieren wir das hinter verschlossenen Türen.«
Er sah Ghepp nicht an, als er das sagte, aber dessen aristokratische Nasenflügel wurden trotzdem weiß vor Wut. Ghepp wusste, dass Malaban darauf anspielte, über diese Entscheidung nicht in Anwesenheit von Kratts Bruder sprechen zu wollen.
»Also werfen wir sie in den Kerker«, schlug Lavendelhemd vor.
»Sie ist nicht unsere Geisel«, grollte Malaban. »Sie hat uns das Geheimnis gebracht.«
»Sie ist eine Lügnerin, eine Schwindlerin und eine Ausgeburt. Jemand anders hat ihr das Geheimnis verraten, das ist für mich jedenfalls glasklar.«
»Sie bleibt unter Aufsicht, bis wir eine Entscheidung getroffen haben.« Malaban Bri blieb unnachgiebig. »Wir werden uns zur Beratung zurückziehen, während Zarq und Rutgar Re Ghepp in ihre Quartiere gebracht werden.«
Jetzt verstand ich, warum Malaban Bri so viel Macht gewonnen hatte und schließlich zu dem immens erfolgreichen Handelsbaron geworden war. Seine gebieterische Persönlichkeit duldete keinerlei Widerspruch.
Mürrisch lenkten die Bayen des Rates ein.