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Es gibt einen arabischen Mythos, wonach der Tag und die Art unseres Todes vorherbestimmt sind, ohne dass wir etwas daran ändern könnten. Allerdings habe ich nie viel auf die Behauptungen der Gottlosen gegeben, noch auf das Versprechen eines ewigen Lebens meiner eigenen Kirche. Ich habe einfach zu viel Verrat im Namen der Religion erfahren.
Gleichwohl habe ich reichlich Gelegenheit gehabt, darüber nachzusinnen, warum es die unsichtbare Macht über allem für nötig erachtet hat, mich so sehr auf die Probe zu stellen. Habe ich denn nicht so wie jeder andere für mein Fleisch und Blut gekämpft? Andere leben kürzer als ich, erreichen nur einen Bruchteil dessen, was ich geleistet habe, und thronen dennoch mit einem Heiligenschein um den Kopf über allem, wohingegen ich wie eine Schurkin in meiner eigenen Schande versinke.
Während ich das Unvermeidliche erwarte, sehe ich die Toten vor mir. Den ersten Herzog von Guise, den gefährlichen le Balafré; Königin Jeanne von Navarra; Coligny und Mary Stuart – sie alle zu verschiedenen Zeiten meine Feinde und meine Komplizen, sie alle Märtyrer für ihre jeweilige Sache. So wichtig sie im Leben waren, durch den Tod sind sie zu Legenden geworden.
Und jetzt frage ich mich: Welche Grabinschrift wird die Geschichte für mich verfassen?
Der Rat der Katholischen Liga hat sich im großen Saal von Blois mit seinen vergoldeten Wandpfeilern und violetten Bögen getroffen, um die Kapitulation meines Sohnes zu feiern. Aber immerhin war meine Botschaft an Guise erfolgreich. Wie erwartet, hat er mir keine Einschränkungen auferlegt. Er hat den Vertrag akzeptiert und mich meinem Sohn nach Blois folgen lassen. Allerdings hat mir die strapaziöse Reise nach so vielen Monaten der Angst und Sorge die letzten Kräfte geraubt.
Aus diesem Grund konnte ich nicht persönlich im Festsaal anwesend sein, sondern schickte Lucrezia hin, damit sie mir genau berichtete.
Sie waren alle da, all jene, die unablässig Komplotte geschmiedet und auf unseren Sturz hingearbeitet haben: die katholischen Adeligen, Statthalter und Beamten, die opportunistischen Botschafter und die unvermeidlichen Spione. Und auf dem Podest stand in seinen Hermelinpelz gehüllt Henri und sprach mit ruhiger, klarer Stimme eine Huldigung auf mich aus.
»Wir dürfen nicht die Lasten vergessen, die meine Mutter zum Wohle dieses Reichs getragen hat. Ich halte es für angebracht, ihr bei dieser Versammlung im Namen Frankreichs unsere Dankbarkeit auszusprechen. Welche Mühen hat sie nicht auf sich genommen, um unsere Not zu lindern? Wann haben Krankheit oder Alter sie je dazu veranlasst, sich zu schonen? Hat sie nicht vielmehr stets ihr Wohlergehen geopfert ? Von ihr habe ich gelernt, König zu sein.«
Ich wünschte, ich hätte mit eigenen Augen sehen können, was für Mienen die hohen Herren bei solchem Lob für die italienische Jezebel machten. Doch ich bin ans Bett gefesselt. Bei jedem Atemzug erleide ich Schmerzen, als presste mir ein Schraubstock die Lungen zusammen, mein Körper wird von Fieberanfällen gequält, und meine Beine sind von gestautem Wasser ganz dick. Am Ende haben mich meine Leiden doch eingeholt. Meine Ärzte gossen mir mit Gewalt ihre widerwärtigen Mixturen die Kehle hinunter und wickelten mir ihre mit Kräutertinkturen vollgesogenen Binden um die geschwollenen Waden. Sie versicherten mir, dass ich mich erholen werde und meine gegenwärtigen Leiden nur ein einstweiliger Rückfall sind.
Zu all dem lächle ich nur. Sie wagen nicht, laut zu sagen, was ich bereits weiß.
Ich schlafe zu viel. Während draußen Schnee vom Himmel rieselt, schüren meine Damen unablässig die Kohlenpfannen. Meine Teppiche und mein Geschirr, meine Lieblingsporträts und das tragbare Pult – der halbe Louvre ist hier. Lucrezia ist unverbesserlich. Ich habe sie angewiesen, nicht zu viel zu packen, und was hat sie getan? Mein ganzes Gemach hat sie auf Maultiere und Karren geladen.
Manchmal wache ich in der Nacht auf und höre meine Damen im Vorraum. Anna-Maria wollte am Fuß meines Betts schlafen, aber das habe ich nicht erlaubt. Sie ist zu alt und braucht ihr eigenes Bett, nicht irgendein Kissen auf dem Boden. Lucrezia hat sie getadelt. »Außerdem findet Ihre Hoheit bei deinem Schnarchen erst recht keinen Schlaf.«
Anna-Maria schnarcht. Das ist mir nie aufgefallen.
Wenn ich in der tiefsten Nacht allein mit meinen Gedanken bin, zünde ich eine Kerze an, stelle sie auf das mit Tintenflecken übersäte Löschpapier auf meinem Pult und ziehe die Kladden mit meinen Aufzeichnungen hervor. Zärtlich streichen meine Finger über die Seiten, die die Regenfluten der Loire, die Sonne von Bayonne und die Graupelschauer von Navarra überstanden haben. Mit Liebe lese ich sie und folge noch einmal den Spuren meines Lebens. Von Florenz nach Fontainebleau, von Chenonceau in den Louvre; Herzogin und Dauphine, Königin und Königinmutter — jede Rolle habe ich gespielt.
Manchmal schlafe ich zwischen den um mich gestapelten Büchern ein, nur um beim Aufwachen festzustellen, dass sie verschwunden sind, wieder in ihrer Nische verborgen. Lucrezia steht immer vor mir auf. Sie hat mein Geheimnis gewahrt und nie ein Wort verraten. Ich weiß, ich kann mich darauf verlassen, dass sie meine Bitte erfüllt, wenn die Zeit gekommen ist.
Welcher Tag ist heute? Ich kann mich nicht erinnern. Es muss auf Weihnachten zugehen. Früher einmal war mir die Zeit so wertvoll, unbeständig, flüchtig und stets trügerisch erschienen. Jetzt rasen die Stunden dahin wie die Fäden von Penelopes Webstuhl, die gesponnen und wieder gelöst wurden, um die Endgültigkeit abzuwenden.
Henri tritt, in eine Moschuswolke gehüllt, zu mir. Er ist wieder zu mager. Heute trägt er maulbeerroten Samt. Sein dunkles Haar fällt ihm lose über die Schultern. Er wirkt schrecklich aufgeregt. An meinem Toilettentisch hält er inne, um die Fläschchen, Haarbürsten und den Handspiegel zu betasten. Der Handspiegel hat es ihm sichtlich angetan. Wie damals, als er ein Kind war, betrachtet er ihn mit einem begehrlichen Blick.
»Warum lebt er noch?«, frage ich.
Henri zuckt die Schultern, während seine geschmeidigen Finger den erhaben gearbeiteten Rahmen befummeln. »Ich warte.«
»Du wartest? Worauf?«
Er stellt den Spiegel zurück und kommt zu mir ans Bett. Sein Gesicht ist gerötet, aber nicht vor Zorn. Viel eher vor Vergnügen. Irgendetwas ist passiert. »Soll ich Euch ein Geheimnis verraten?« Er beugt sich über mein Ohr. »Philipp von Spanien hat, wie Ihr wisst, eine Armada entsandt, damit sie England erobert … Nun, die Tudor hat sie zerschlagen. Ganz Paris lacht jetzt über Guise, weil er von Philipp Geld angenommen hat, um seine Liga zu finanzieren. Sie haben schon überall in der Stadt Anschläge aufgehängt. ›Unbesiegbare Armada verloren gegangen! Der ehrliche Finder möge bitte seine Hoheit, den Herzog, informieren.‹«
Mit einem schallenden Lachen richtet er sich auf. »Ist das nicht köstlich? Die ketzerische Tudor triumphiert, und Philipp ist ruiniert! Guise hat seine spanische Allianz verloren. «
Wie gerne würde ich jetzt aufstehen, um nach Birago zu rufen, damit er aus den eingegangenen Meldungen Informationen heraussiebt, die sich als Waffe verwenden lassen. Doch Birago ist tot, und ich kann mich nicht rühren. Ich kann nichts tun, außer meinem Sohn nachzublicken, wie er aus dem Zimmer tänzelt und leise vor sich hin singt: »Verloren: Armada auf hoher See …«
Jetzt weiß ich, dass er bald Rache üben wird.
Gestern Abend ist das Fieber zurückgekehrt. Schatten sind gekommen und gegangen; Geflüster: »Wasser in der Lunge … man sollte sie schröpfen.« Ich spüre ihre Angst. Sie sorgen sich um mich. Sie glauben, dass ich sterben werde. Und ich will ja sterben! Ich sehne mich danach, für immer im gesegneten Vergessen zu versinken. Aber noch ist es nicht so weit.
Frankreich streckt seine Krallen nach mir aus: Es hat nicht vor, mich ruhen zu lassen.
Das Zeichen ist da.
Am frühen Morgen werde ich von Schreien und einem Poltern über mir geweckt. Man könnte meinen, im oberen Zimmer wäre ein Streit ausgebrochen, dort, wo sich die Gemächer meines Sohnes befinden. Meine Hofdamen stolpern gerade mit vom Schlaf verquollenen Augen zu mir herein, als ich eine karmesinrote Perle durch die Dachbalken quellen sehe. Einen Moment lang bleibt sie hängen, klammert sich an den golden und lila bemalten Sparren, bevor sie schließlich fällt und neben meiner rechten Hand auf das Laken spritzt.
Ich schnappe nach Luft. Schon eilt Lucrezia herbei. Ihre besorgte Miene und die zitternde Hand, die sie mir auf die Stirn legt, verraten mir, dass sie und Anna-Maria nichts bemerken. Sie sehen die Tropfen nicht, wie sie einer nach dem anderen fallen und mit einem hohlen Geräusch auf meinem Bett aufprallen. Aber ich sehr wohl! Ich sehe Blut. Blut tropft von meiner Decke,genau so, wie ich es schon einmal,vor Hercules Tod, in einem Traum gesehen habe.
Nur bin ich diesmal wach.
Lucrezia greift nach dem Mohnfläschchen auf dem Nachttisch. In der Annahme, dass ich Schmerzen leide, schickt sie sich an, mir einen Schluck zu verabreichen, doch ich wehre mich. »Nein. Geh raus. Sieh nach, was los ist.«
Sie und Anna-Maria blicken einander völlig perplex an, als auf einmal Henri hereinkommt. In der Hand schwingt er den Dolch, dessen Klinge blutverschmiert ist. Als er ihn aufs Bett wirft, prallen meine Vertrauten vor dem Blutflecken zurück, den die Waffe auf dem Laken hinterlässt.
»Es ist vollbracht«, sagt er. »Er hat gekämpft wie ein gefangenes Tier, aber ich habe ihn mir aus dem Herzen geschnitten.«
Stumm starre ich ihn an. Ich sehe Blut an seinem Ziegenbärtchen; ein Spritzer ist weiter unten auf seiner Kehle gelandet.
»Ich habe ihn eingeladen, mit mir zu frühstücken«, erklärt er, und seine Stimme wird leise, fast melancholisch, als dächte er an ein lange zurückliegendes Ereignis. »Er ist mit einem seiner Brüder gekommen, aber sonst war niemand dabei. Er dachte tatsächlich, ich würde ihn eigenhändig bedienen. Und das habe ich auch getan. Ich habe als Erster auf ihn eingestochen, ehe ich die Fünfundvierzig den Rest erledigen ließ. Leider musste auch sein Bruder sterben.«
Ich senke die Lider. Guise ist tot. Mein Sohn hat sich seinen Thron endlich zurückgeholt.
Lucrezia ergreift den Dolch am Schaft und wischt ihn an ihren Röcken ab.
Gestern Nacht hatte ich den Traum. Darin sah ich weinende Menschen auf den Knien. Außerdem sah ich das Zimmer, das schwarz verhängte Bett – und es wartete auf mich. Keuchend wache ich auf, die Laken schweißnass. Anna-Maria und Lucrezia stürzen herbei. Nicht einmal die Heizpfannen können die Kälte vertreiben. Ihr Atem steigt in winzigen Wolken auf, während sie am Bett stehen. Ratlos starren sie mich an, bis ich sage: »Ihr müsst mir beim Aufstehen helfen.«
Mit Hinweisen auf die schreckliche Kälte, das Fieber und meine verstopften Lungen versuchen sie, es mir auszureden. Am Ende drohen sie sogar damit, meine Ärzte zu holen. Doch ich lasse nichts gelten. Beflügelt von einer Entschlossenheit, die mich nicht minder überrascht als sie, mache ich Anstalten, mich aus eigener Kraft zu erheben.
»Ich muss«, sage ich. »Ich muss.«
Sie kleiden mich in meine schwarzen Röcke und das Mieder, wickeln mich in einen Mantel und reichen mir meine Handschuhe. Ich schüttele den Kopf. »Nein, keine Handschuhe. Meine Finger waren nackt.«
Sie starren mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. Vielleicht bin ich das ja auch. Aber ich muss es eben mit eigenen Augen sehen. Ich muss die Gewissheit haben, dass das, was ich vor so vielen Jahren gesehen habe, als ich noch ein Kind und in Florenz war, tatsächlich eingetreten ist.
Wir gehen durch die eiskalten Korridore. Das ganze Schloss ist erstarrt. Ich konzentriere mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Meine Beine fühlen sich an wie Granit. Meine Lungen pfeifen. Ich habe den Geschmack von Blut im Mund. Eigentlich müsste ich zusammenbrechen.
Ich komme um eine Ecke. Dort ist sie – die offene Tür. Von drinnen höre ich Wehklagen. Lucrezia packt mich am Arm. Wir hätten hier nichts zu suchen, flüstert sie mir zu. Das sei der Trakt fürs Gesinde.
Ich schüttele den Kopf und schleppe mich stur, wenn auch widerstrebend, weiter, als wäre ich von der Seelenwelt in eine ungewisse Sterblichkeit geweht worden. Ich bleibe stehen, halte mich am Türstock fest.
Fremde mit tränennassem Gesicht drehen sich zu mir um. Ich kann sie nicht hören, als ich mich näher an das vor mir aufragende Bett wage, dessen Baldachin mit schwarzen Tüchern versehen ist. Lautlos bewege ich mich darauf zu, trete mit gefühllosen Füßen auf zerstoßene Winterblumen, sauge das scharfe Aroma von Binsen und Weihrauch ein, rieche es aber nicht, strecke die Hand aus, um die Vorhänge zu teilen und offenbare …
Ich seufze bei dem lange erwarteten Anblick.
Guises Augen sind geschlossen; seine schönen Züge wurden von dem bei seinem Überlebenskampf geflossenen Blut befreit. Seine in ihrer Vollkommenheit monumentalen Beine wirken wie in Elfenbein gemeißelt. In seine breite Brust sind dunkle Wunden gestanzt – die Stigmata von sechsundvierzig Dolchen, die in sein Fleisch gestoßen wurden. In seinen geäderten Händen ruht ein silbernes Kruzifix. Es erscheint unmöglich, dass dieser Mann so friedlich daliegen kann – dieser Mann, dessen Leben von dem Moment an mit dem meinen verflochten war, da er zum ersten Mal mit meinen Kindern spielte; den ich seinen Vater verlieren sah; der am Vorabend des Bartholomäusfests eine solch entsetzliche Gewalt entfesselte. Er war der Letzte seines Geschlechts, denn so mächtig die Familie Guise auch ist, von diesem Schlag wird sie sich nie erholen.
Obwohl alles dagegensprach, hat am Ende Frankreich gesiegt.
Ich trete zurück. Ich wende mich ab. Das Fieber flammt wieder auf. Meine Seele macht vor Freude einen Satz.
Nun habe ich nur noch eine Aufgabe zu erledigen.