22

Für Trauer hatte ich keine Zeit.

Mit der Leiche meines Sohnes kehrten wir nach Paris zurück, wo er sogleich den Balsamierern übergeben wurde, während die verwitwete Königin Mary von ihren Verwandten auf Seiten der Guises zu ihrer Klausur in unser Stadtpalais, das Hôtel de Cluny, begleitet wurde. Passend zum Dezemberschnee, der Paris einhüllte, war über Nacht eine eisige Stille hereingebrochen.

Ich traf sofort Vorkehrungen, Charles und meine übrigen Kinder zu schützen. Ohne meine Erlaubnis wurde niemand zu ihnen durchgelassen, vor allem nicht die Guises, und sobald ich unsere offizielle Trauer verkündet hatte, nahm ich mein zweites Ziel in Angriff.

»Die Fürsten werden spätestens morgen hier sein«, erklärte mir Birago, als wir am Abend, ausgezehrt von den Strapazen, in meinen Gemächern zusammensaßen. »Außerdem wurden Briefe über Eure Lage an Philipp von Spanien und Elizabeth von England sowie die Prinzen von Deutschland und der Niederlande gesandt.«

»Schön.« Ich entledigte mich meiner Halskrause. »Gibt es eine Nachricht von Königin Jeanne von Navarra?«

Er seufzte. »Ja. Sie hat zurückgeschrieben, um Euch mitzuteilen, dass sie Euer Angebot, sie zu empfangen, prüfen wird, aber nicht glaubt, im tiefen Winter einer wochenlangen Reise durch ganz Frankreich gewachsen zu sein.«

»Tatsächlich?«, schnaubte ich. »Na gut, mir ist das vollkommen recht. Ich habe keine Lust, mich mit ihrem Mann, diesem elenden Bourbonen, herumzustreiten. Ich habe sie nur aus Höflichkeit eingeladen, sonst nichts.«

Birago strich sich mit der Hand über die Stirnglatze. Jetzt, mit Anfang vierzig, hatte er bereits das meiste Haar verloren, und die kahle Stirn betonte seine markanten Züge und die tief liegenden Augen, welche wie die eines Raubvogels stets auf der Hut waren. »Madama, so ungern ich das sage, aber ich glaube nicht, dass wir Antoine den Bourbonen unterschätzen sollten. Von Rechts wegen muss Charles bis zu seiner Volljährigkeit ein Prinzregent an die Seite gestellt werden. Antoine ist von königlichem Blut. Er kommt in der Linie der Thronfolger gleich nach Euren Söhnen. Da er zudem der katholischen Kirche angehört, könnte er Euch den Anspruch auf die Regentschaft durchaus streitig machen.«

Ich presste ein Lachen hervor, während ich zu meinem Stuhl schlurfte. Meine Beine schmerzten von der Eiseskälte, die überall im alten Louvre-Palast herrschte und gegen die auch mit noch so vielen Kaminfeuern nichts auszurichten war. »Nach dem letzten Stand der Dinge hat Antoine nur einen Glauben: Wein und Laster. Eine Laus wie er wird wohl kaum eine ernsthafte Bedrohung darstellen.«

»Wenn es um die Macht geht, kann sich sogar der übelste Sünder reuig zeigen.«

»Mit anderen Worten: Er könnte zu einer Waffe der Guises werden.« Nachdenklich setzte ich mich auf den Stuhl. »Gut, fürs Erste können wir davon ausgehen, dass Jeanne nicht die Absicht hat, Antoine zum Hof zu lassen. Wie uns muss auch ihr bewusst sein, dass er ein Recht auf die Regentschaft hat. Da wird sie gewiss nicht wollen, dass ihr Gemahl, der Vater ihres Sohnes, eine Allianz mit den Guises schmiedet, die sie so abgrundtief verachtet, wie das nur eine Hugenottenkönigin kann. Ich glaube einfach nicht, dass das ein Grund zur Sorge ist.« Ich zögerte. »Hat Coligny von sich hören lassen?«

Ich fragte in beiläufigem Ton, der nichts von meiner gespannten Erwartung preisgab. Doch ich wurde auf eine harte Probe gestellt, als Birago mir antwortete: »Er hat uns geschrieben, dass die Hugenotten sich bereit erklärt haben, bis zur öffentlichen Verkündigung des Edikts Eurer Hoheit auf weitere Kampfhandlungen zu verzichten.«

»Und zu unserer Bitte, uns am Hof aufzusuchen …?«

»Das kann er momentan nicht. Seine Frau ist immer noch sehr krank. Er schreibt, er müsse bei ihr bleiben.«

Ich biss mir auf die Lippe; aus Freude wurde Enttäuschung. Doch bei aller Sehnsucht nach ihm durfte ich nichts anderes erwarten. »Sei’s drum«, sagte ich. »Dann findet die Sitzung ohne ihn statt. Sobald die Fürsten eingetroffen sind, beruft Ihr den Rat ein. Es ist höchste Zeit, dass ich den Guises ihre wohlverdiente Lektion erteile.«


Ich saß am Stirnende des gewaltigen Eichentischs, als die Fürsten nacheinander Einzug hielten. Ich lächelte sie einen nach dem anderen an, wobei mir insbesondere das energische Nicken des Konnetabels und das seidige Lächeln des Monseigneurs auffielen. Obwohl es ihm nicht behagte, sich am Hof von alten Feinden umgeben zu sehen, wirkte er ganz und gar nicht wie ein Mann, der vorhatte, sich in seine Niederlage zu fügen.

»Wo ist Euer Bruder, le Balafré, Monseigneur?«

»Er übersendet sein Bedauern, aber er fühlt sich dazu verpflichtet, unser Parlament über die Vorbereitungen zur Beerdigung unseres verstorbenen Königs zu informieren.«

»Oh?« Ich erwiderte sein Lächeln. »Er hätte vorher fragen sollen. Ich habe die Nachricht schon vor Tagen höchstpersönlich versandt.«

Die vornehmen Züge des Kardinals spannten sich an, und die Maske der Versöhnung fiel von ihm ab, um den darunter verborgenen Despoten zu offenbaren. Als mit allen Wassern gewaschener Höfling, dessen Instinkte fürs Überleben geschult waren, wusste er, was als Nächstes kam.

Die anderen warteten. Mit Birago an meiner Seite, der seine Ledermappe in Händen hielt, verkündete ich: »Ich trauere um meinen Sohn François. Gott hat entschieden, ihn aus unserer Mitte zu nehmen und dieses Königreich einem minderjährigen Monarchen, unserem neuen König, Charles dem Neunten, zu hinterlassen.« Ich hielt inne. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Ich nahm einen Schluck von dem verwässerten Wein in meinem Kelch. »Regieren zu lernen erfordert jedoch Zeit, und Frankreich hat, wie meine Fürsten wissen, eine feste Hand dringend nötig. Darum beabsichtige ich, mich zur Regentin zu erklären, bis mein Sohn Charles die Volljährigkeit erreicht.«

Im wettergegerbten Gesicht des Konnetabels bemerkte ich schadenfrohe Zustimmung; er erfuhr jetzt Wiedergutmachung für seine Verbannung ins Exil durch die Guises, nachdem mein Gemahl gestorben war. Die anderen saßen stumm, fast regungslos da. Sie bereiteten mir keine Sorgen. Der Einzige, bei dem ich mir nicht so sicher war, war der Monseigneur. Auch wenn ich ihn in die Ecke getrieben hatte, konnte er immer noch seine Krallen ausfahren.

Seine Lippen kräuselten sich. »Ich nehme an, Eure Hoheit wird diesen Rat beibehalten?«

»Ja, mit einer Ergänzung. Zu geeigneter Zeit wird sich uns Admiral de Coligny anschließen.«

»Mit Verlaub«, schnurrte Monseigneur, »aber ist er nicht ein Häretiker?«

»Mein Neffe ist ebenso befähigt wie jeder der hier versammelten Fürsten«, knurrte Montmorency.

»Seine Befähigung stelle ich nicht infrage«, gab Monseigneur zurück, »sehr wohl aber seine Rolle im Kampf gegen uns.«

»Jetzt treffe ich die Entscheidungen«, fuhr ich ihm über den Mund. »Coligny wird vorbehaltlich der Zustimmung des Königs im Rat dienen.« Ich ließ den Blick über die Runde schweifen und konnte keine Anzeichen von Widerstand feststellen. Auch wenn sich Gerüchte über Colignys Ketzertum verbreitet haben mochten, hatte er sich anscheinend nicht öffentlich zu seinem neuen Glauben bekannt.

Monseigneur legte seine langen Finger aneinander und hielt sie sich vors Gesicht. In das sich ausbreitende Schweigen hinein zog Birago die Dokumente aus seiner Mappe und verkündete: »Edle Herren, hiermit lege ich euch die offizielle Ausrufung der Regentschaft Ihrer Hoheit zur Unterschrift vor.«


Stunden später erschien ich zu einem kalten Abendbrot. Kaum hatte ich aufgegessen, trat auch schon Birago ein. Während Lucrezia abräumte, ließen wir uns vor meinem Kamin nieder.

»Madama, den Tag haben wir zwar gewonnen, aber sicher sind wir deswegen noch lange nicht.« Er streckte die Füße vor dem Feuer aus. »Meine Spione berichten mir, dass le Balafré überhaupt nicht vor dem Parlament erschienen ist. Stattdessen hat er sich zum Sitz der Guises in Joinville in der Champagne begeben, wo er viele Anhänger hat. Ich fürchte, er schmiedet ein Komplott gegen Euch.«

»Von ihm habe ich nichts anderes erwartet. Aber immerhin ist Joinville mindestens einen Wochenritt von Paris entfernt. Was immer sie planen, sie können keine Armee aufstellen, ohne dass wir davon erfahren, richtig?«

Birago nickte. »Allerdings. Und ich habe fast ebenso viele Spione wie Guise Gefolgsleute.« Er zögerte. »Ich weiß, dass Ihr Coligny sehr schätzt, Madama, aber seine Berufung in den Kronrat ist womöglich keine weise Entscheidung. Fürs Erste akzeptieren die katholischen Fürsten Eure Regentschaft, da sie den Guises nicht mehr trauen, doch wenn bekannt wird, welchen Glauben Coligny angenommen hat, werden sie nicht mehr so fügsam sein.«

In der Stille, die seinen Worten folgte, hörte ich den Wind um die Palastmauern heulen. Birago wusste Bescheid. Meine Gemächer waren Lucrezias Domäne, und sie hatte Coligny mit mir darin verschwinden sehen. Vorwürfe machte ich ihr jedoch nicht. Sie musste um mich besorgt gewesen sein. In ihrem Wunsch, mich zu schützen, hatte sie sich Birago anvertraut, der immerhin mein Berater war.

»Coligny übt beträchtlichen Einfluss auf die Führer der Hugenotten aus«, brachte ich schließlich hervor. »Wir sind bei der Durchsetzung meines Edikts auf ihr Mitwirken angewiesen. «

Birago blickte mich unverwandt an. »Ich verstehe. Dennoch muss ich Euch bitten, Euer Vertrauen nicht in ihn zu setzen, solange er sich dessen nicht als würdig erwiesen hat.«

»Ja«, murmelte ich. »Selbstverständlich. Ich danke Euch für Eure offenen Worte.«

Nachdem Birago sich zurückgezogen hatte, nahm ich Muet und ging in mein Schlafgemach. Während ich mich bettfertig machte, zeichnete ich vor dem geistigen Auge Colignys kräftigen Körper nach, spürte seine in meinem Haar vergrabenen Hände, seinen Mund auf meinen Brüsten …

In dieser Nacht machte ich kein Auge zu.


Weihnachten war eine trübselige Angelegenheit. Mary blieb in ihrer Klausur, während uns ein stummer Trauerzug zur Beisetzung meines Sohnes in der Gruft der Kirche St. Denis begleitete. Danach kehrte ich in den Louvre zurück, um mich in Charles’ Namen um die Regierungsgeschäfte zu kümmern.

Zu meiner Erleichterung nahm Monseigneur, der inzwischen bis auf seinen Sitz im Kronrat aller Macht entkleidet worden war, eine Einladung zur Teilnahme am Heiligen Rat in Rom an, der die Ausbreitung des Ketzertums in Europa erörtern sollte. Während nun der Kardinal hoffentlich monatelang theologische Debatten führen würde und le Balafré im entfernten Joinville Staub aufwirbelte, stand es mir frei, den Hof nach meinem Gutdünken zu gestalten und für Charles eine neue Regierung einzusetzen.

Wie vor ihm François war mein zehnjähriger Sohn mit der Bürde des Amtes als König überfordert. Er bedrängte mich mit tausend Fragen, vor allem darüber, wie weit sich sein bisheriges Leben ändern würde. »Kann ich immer noch mit den Falken auf die Jagd gehen, wenn ich gerade Lust dazu habe?«, wollte er wissen, als wir in seinen mit scharlachroten und goldenen Stoffen ausgekleideten Gemächern standen.

»Natürlich«, antwortete ich. »Aber pass auf deine Finger auf.« Er war gerade dabei, einen neuen Wanderfalken, der vor seinem Bett auf einer Stange hockte, mit Fleischstücken zu füttern. Seine Schwester Elisabeth hatte ihm den Vogel erst kürzlich aus Spanien als Geschenk gesandt.

Ich strich ihm die schwarzen Locken aus der Stirn. »Falknerei und Jagd sind schön und gut, mein Kind, aber jetzt bist du der König. Da musst du lernen zu herrschen. Birago wird dir helfen. Er hat in Florenz Rechtswesen studiert und wird dich lehren, wie man richtig regiert.«

Charles runzelte die Stirn. »François hat gesagt, dass er es hasste, König zu sein. Er hat mir gesagt, dass die Guises Tag und Nacht hinter ihm her waren und er keine Zeit mehr für sich selbst hatte, nicht einen Augenblick. Sie haben ihn sogar ausgefragt, wie oft er bei Mary schlief, und haben sich fürchterlich aufgeregt, als er ihnen sagte, dass sie wie eine Schwester für ihn war. Birago wird doch nicht böse mit mir sein, oder?«

Gewissensbisse befielen mich, als mir wieder einmal klar wurde, wie wenig es mir gelungen war, meinen verstorbenen Sohn zu beschützen. François war mein Erstgeborener gewesen, mein großer Triumph nach den Jahren der Unfruchtbarkeit. Ich erinnerte mich noch, wie schön er gewesen war, ein Kind so anmutig wie ein Faun, und wie sehr er nach Diane geschrien hatte, sobald ich ihn in die Arme nahm. Von allem, was sie mir angetan hatte, war es die schlimmste Grausamkeit gewesen, ihn mir zu entf remden. Damit hatte sie mich der Möglichkeit beraubt, François zu zeigen, wie sehr ich ihn liebte.

Ich zwang mich zu einem Lächeln und konzentrierte mich wieder ganz auf Charles. Auch seine frühe Kindheit war von Diane überschattet gewesen, aber jetzt gehörte er mir. Ich würde ihn zu einem starken, gesunden Mann machen, zu allem, was ein König verkörpern sollte.

»Die Guises haben hier jetzt keine Macht mehr«, erklärte ich ihm. »Du brauchst dich wirklich nicht zu sorgen.«

Anscheinend völlig in den Anblick seines Falken versunken, zuckte er nur die Schultern. Doch unvermittelt sagte er mit dieser unheimlichen Klarsicht, die Kinder bisweilen zeigen: »Wenn Ihr meine Regentin sein werdet, warum könnt dann nicht Ihr mich unterweisen?«

Ich lachte auf. »Weil auch ich viel zu lernen habe. Und jetzt ist Schluss mit deinem Vogel. Birago wartet im Klassenzimmer auf dich.« Als ich mich über ihn beugte, um ihn zu küssen, schlang er die Arme um mich. »Ich liebe Euch, Maman«, murmelte er. »Versprecht mir, dass Ihr nie zulasst, dass die Guises uns noch einmal Leid antun.«

Von all meinen Kindern war er immer das verschlossenste gewesen, doch nach dem Tod seines Vaters hatte ich sehr wohl seine verzweifelte Trauer gesehen und wusste deshalb um seine tiefe Empfindsamkeit. Ich drückte ihn an mich. »Das verspreche ich dir«, flüsterte ich. »Sie werden uns niemals etwas antun. Nie. Nur über meine Leiche.«

Ich verließ ihn, um bei Hercule, der eine milde Kolik hatte, nach dem Rechten zu sehen, und nachdem ich auch bei Margot und Henri gewesen war, denen ich ein ähnlich strenges Lernpensum wie Charles auferlegt hatte, wandte ich mich der Aufgabe zu, das Königreich zu regieren.

Es war nicht gelogen gewesen, als ich gesagt hatte, dass ich selbst viel lernen musste. Als Königingemahlin hatte ich zu Henris Lebzeiten bis auf die kurze Regentschaft während des Mailandkriegs nie die Macht in Händen gehalten, doch jetzt hatte ich es mit einer geplünderten Staatskasse, einer verarmten Bevölkerung und einer aufsässigen Regierung zu tun. Weite Teile Frankreichs litten unter einer Hungersnot, der Folge mehrerer bitterkalter Winter und verregneter Sommer, sodass ich die königlichen Kornkammern hatte öffnen und Getreide verteilen lassen. Birago regte an, die Erhebung von Steuern mit Nachdruck zu betreiben und die Last vor allem unserem Adelsstand und weniger den Händlern aufzuerlegen. Dann wiederum wurde unsere ganze Aufmerksamkeit davon in Anspruch genommen, mein Toleranzedikt dem Parlament vorzutragen, wo es auf wütenden Widerspruch stieß und nur mit knapper Mehrheit verabschiedet wurde. Damit durften die Hugenotten ihre Geschäfte wieder aufnehmen und ihren Glauben in Frieden ausüben.

Das Edikt war mein erster Triumph als Regentin, und bei der Feier unseres Erfolgs stellte ich Charles dem Hof vor.

Ohne zusätzliche Geldmittel mussten wir mit dem auskommen, was wir hatten. Lucrezia, Anna-Maria und ich ruinierten uns fast die Augen und Finger, als wir die königlichen Gewänder für Charles’ schmächtige Gestalt umnähten. Auf die Kleidung meiner übrigen Kinder verwendete ich die gleiche Sorgfalt. Stolz zeigte Henri ein silbernes Stoffwams her, das er auf seine unnachahmliche Art mit Perlengehängen bestückte. Margot trug roten Satin, und Hercule zwängten wir in blauen Samt und setzten ihm einen kecken Hut auf.

Mary Stuart erschien mit Umhang und Schleier ganz in der Trauerfarbe Weiß. Auch wenn ihre Zeit der Klausur vorüber war und die Kinder um sie herumtollten, wirkte sie auf mich wie eine verlorene Seele, eingehüllt in Ungewissheit. Mir graute bereits davor, mich mit der heiklen Frage nach ihrer Zukunft zu befassen, doch mir war klar, dass ich mich ihr stellen musste, bevor die Guises mir die Sache aus der Hand nahmen. Also bat ich gleich am nächsten Tag Cosimo Ruggieri in einem Brief um eine astrologische Deutung, in der Hoffnung, in den Sternen Hinweise für die Lösung der anstehenden Probleme zu finden.

Cosimo hatte ich schon länger vernachlässigt. Ich hatte angenommen, er würde auf dem Herrensitz in Chaumont seine übliche Tätigkeit ausüben. Umso schockierter war ich, ihn bei seiner Ankunft derart abgemagert zu sehen. Er wirkte, als hätte er seit Wochen keine richtige Mahlzeit genossen. Sein Gesicht bestand nur noch aus Haut und Knochen, die riesigen schwarzen Augen glühten förmlich darin.

Sobald er mich erkannte, stieß er einen dramatischen Seufzer aus. »Ich habe mein Möglichstes getan, aber leider bin ich nicht der große Nostradamus. Ich kann die Zukunft nicht aus einer Wasserschale herauslesen.«

Ich verkniff es mir, die Augen zu verdrehen. »Hast du etwa Nostradamus hier gesehen? Nun mach schon, hast du die Karte? Was bedeutet sie?«

Ich verfolgte, wie er ein kompliziertes Diagramm aus einem zylinderförmigen Lederbehälter zog, es aufrollte und vor mir ausbreitete. Er zog mit dem Zeigefinger eine Linie nach. »Seht hier: Diese Eklipse im Zeichen des Löwen bedeutet Krieg.«

»Krieg?« Die Gewissheit in seiner Stimme ließ mich erschrocken aufblicken. »Bist du sicher?«

»Ja. Ein Krieg steht bevor. Die Sterne lügen nicht.«

Ich schluckte die Bemerkung hinunter, dass sein Vater anderer Meinung gewesen wäre. Der Maestro hatte erklärt, dass nichts mit Gewissheit für die Zukunft vorhergesagt werden konnte. Und wenn nichts gewiss war, konnten wir doch sicher das Wissen erwerben, mit dessen Hilfe sich Unheil abwenden ließ.

»Sobald du dich ausgeruht hast, musst du nach Chaumont zurückkehren«, sagte ich. »Ich muss wissen, was genau zu diesem Krieg führen wird. Ich brauche Namen, Daten, Orte.« Schon wollte ich ihn hinauswinken, als mir der eigentliche Grund einfiel, warum ich ihn herbefohlen hatte. »Hast du in den Sternen irgendetwas für Mary Stuart entdeckt?«

Er nickte, das eingefallene Gesicht beherrscht von den brennenden schwarzen Augen, die keinen Moment von mir abließen. »Ich habe in ihrer Zukunft eine Hochzeit gesehen, die großes Unglück herbeiführen wird.« Er hielt inne. »Ich nehme an, der Name Don Carlos sagt Euch etwas?«

Ich erstarrte. Don Carlos war der Kronprinz von Spanien, Karl, der Sohn Philipps II.

Am nächsten Tag suchte ich Mary in ihren Gemächern auf. Sie sah besser aus; ihre Wangen hatten mehr Farbe, und ihr Haar zeigte neuen Glanz. Sie hatte sogar ein wenig zugenommen, was auch dringend nötig war.

»Ich wollte mich erkundigen, wie es dir geht, meine Liebe«, sagte ich, nachdem wir einander auf die Wange geküsst hatten. »Die Isolation einer Klausur kann sehr schwer sein, aber du scheinst sie ja ganz gut überstanden zu haben.«

»Sie haben darauf beharrt, dass ich ein Kind in mir tragen könnte.« Sie lächelte. Ohne dass wir es je ausgesprochen hatten, wussten wir beide, dass sie und mein Sohn ihre Verbindung nicht vollzogen hatten. »Außerdem haben sie mir gesagt, dass ich jetzt an den Hof zurückkehren kann. Aber da François tot ist, habe ich das Gefühl, nicht mehr hierherzugehören. «

Lange sagte ich nichts. Mir wurde klar, dass eine große Veränderung stattgefunden hatte: Unsere verwöhnte Königin hatte es mir gleichgetan und als junge Witwe ihr Leben selbst in die Hand genommen. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie anstrengend diese Zeit der Innenschau war, doch ich widerstand der Versuchung, ihr mein Mitgefühl zu bekunden. Ich musste das erledigen, weswegen ich gekommen war, koste es, was es wolle.

»Meine Liebe«, sagte ich sanft, »ich fürchte, ich muss dir eine schlechte Nachricht überbringen. Sie betrifft deine Oheime auf Seiten der Guises … Ich habe Grund zu der Annahme, dass sie sich darum bemühen, dich mit Don Carlos zu verheiraten, dem Erben Philipps von Spanien.«

Sie blinzelte. »Aber der ist doch verrückt! Er ist für das öffentliche Leben nicht geeignet! Jeder weiß das!«

»Ich fürchte, seine mangelnde Vernunft stellt für deine Oheime kein Hindernis dar.«

In ihren Augen blitzte Zorn auf. »Ich habe gerade erst meinen François verloren. Da können sie von mir doch nicht erwarten, dass ich zustimme!« Ihre Stimme war laut geworden, und wir beide blickten zur Tür, halb in der Erwartung, dass ihre Hofdamen herbeistürzen würden. Als das nicht geschah, fügte sie mit gepresster Stimme hinzu: »Was kann ich tun, um das zu verhindern?«

Erneut verblüffte sie mich. Bei unserem letzten längeren Gespräch hatte sie mich des Ketzertums bezichtigt. Ich verflocht meine Finger ineinander. »Du bist doch immer noch Königin von Schottland, richtig?«

Sie nickte, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Jäh erstarrte sie. »Ihr glaubt, ich soll …?«

So schwer es mir auch fiel, ich stellte mich ihrem Blick. Mit Händen und Füßen hatte ich seinerzeit darum gekämpft, in Frankreich bleiben zu können; um des Überlebens willen hatte ich Komplotte geschmiedet. Dasselbe erwartete ich auch von ihr. Mehr noch: Ich kalkulierte es ein, denn anders als ich hatte sie die Wahl. Wenn sie Don Carlos zurückwies, konnten ihre Oheime sie Charles als Braut anbieten, und dann saß ich in der Falle. Allein schon aus diesem Grund konnte ich es mir nicht leisten, zu schwanken. Es gab keinen anderen Weg.

»Ich kann mich nicht mehr an Schottland erinnern«, sagte sie zögernd, als spräche sie mit sich selbst oder mit dem in der Zugluft flatternden Vorhang. »Aber es ist mein Reich.« Sie hob die Hand, an deren schmalem, weißem Ringfinger kein Ehereif mehr glänzte. Dann wandte sie sich wieder mir zu. »Vielleicht kann ich in Schottland tatsächlich wieder glücklich sein.«

Ich hätte weinen mögen, denn ich wusste, dass ihr der Verlust ihres Prinzen ein Loch ins Herz gerissen hatte, das sich nie wieder füllen lassen würde. Trotz all seiner Unzulänglichkeiten hatte François’ Tod das Ende ihrer Unschuld eingeläutet.

»Das wirst du auch«, versprach ich, »wenn es dein innigster Wunsch ist.«

Ihr Lächeln brach mir fast das Herz. »Ich habe gehabt, was ich mir ersehnt habe. Jetzt muss ich meine Pflicht erfüllen.«

Ich schloss sie in meine Arme. Auch wenn wir uns nie wirklich nahe gewesen waren, betete ich für ihre Sicherheit.

Denn sie hatte recht: Wir beide mussten unsere Pflicht erfüllen. Das war der Preis für unser Privileg, für unsere Rolle als königliche Herrscherinnen. Unsere Länder mussten vor der eigenen Bequemlichkeit, vor persönlichen Hoffnungen und Träumen den Vorrang haben.


Der Sommer verblasste allmählich und wich dem Herbst.

Ich war nicht dabei, als Mary ihre Verwandten auf Seiten der Guises über ihre Entscheidung unterrichtete, konnte mir aber lebhaft vorstellen, wie sie schäumten. Was immer nach außen durchsickerte, wurde allerdings hinter einer Maske steifer familiärer Eintracht verborgen, als die schottischen Lords eintrafen, um ihre Königin nach Schottland zu eskortieren.

Am Tag von Marys Abreise trieben Nebelschwaden über das Land, die die Karren und Kutschen ihrer Entourage verhüllten. Zum Knallen von Peitschen holperte die Gruppe über die Straße nach Calais, wo Galeonen darauf warteten, sie nach Schottland zu tragen.

Kurz löste sich der Nebel auf, sodass ich sehen konnte, wie sich Mary aus dem Fenster ihrer Kutsche lehnte und die weiß behandschuhte Hand zu einem letzten Lebewohl hob.