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Meine Kammerjungfer weckte mich vor Tagesanbruch. Nach einem Frühstück aus Käse und Brot, das ich hastig verschlang, kleidete sie mich in ein schlichtes Gewand, band meine Locken zurück und legte mir ein Kapuzencape um die Schultern. Dann geleitete sie mich eilends in den Hof, wo Tante Clarissa und der hünenhafte Diener, der sie auf all ihren Gängen begleitete, mich erwarteten.

Ich war froh, endlich einmal in die Stadt gehen zu dürfen, obgleich ich annahm, dass wir den Weg in einer geschlossenen Sänfte zurücklegen würden. Stattdessen schlug meine Tante ihre Kapuze hoch, nahm mich an die Hand und führte mich zum Tor hinaus auf die Via Larga, der Diener dicht auf unseren Fersen.

»Warum gehen wir zu Fuß?«, fragte ich sie, auch wenn ich dachte, dass es viel mehr Spaß machte, die Stadt auf diese Weise zu erleben, statt nur durch die zugezogenen Vorhänge der Sänfte zu lugen.

»Wir gehen zu Fuß, weil ich nicht will, dass man weiß, wer wir sind«, erklärte meine Tante. »Wir sind die Medici, und die Leute sind schwatzhaft. Ich will nicht, dass alle in Florenz sich das Maul darüber zerreißen, dass Madama Strozzi ihre Nichte zu einem Hellseher gebracht hat.« Ihre Hand schloss sich fester um die meine. »Verstehst du? Ruggieri mag sehr gefragt sein wegen seiner Talente, doch er ist nun mal ein konvertierter Jude.«

Ich nickte unsicher. Ich wusste, dass meine Tante oft nach dem Maestro schickte, um Kräuterelixiere zu brauen; er hatte auch geholfen, mich von meinem Fieber zu kurieren, aber ich hatte ihn noch nie leibhaftig gesehen. Durfte er uns vielleicht nicht besuchen, weil er Jude war?

Wir spazierten die Via Larga hinab. Seit meiner Ankunft in Florenz, vor drei Jahren, hatte ich den Palazzo genau viermal verlassen, und immer nur zu feierlichen Besuchen des duomo, bewacht von Dienerschaft, die mir die Sicht nahm, als würde jede Berührung mit dem gemeinen Volk meine Gesundheit gefährden. Nun, da meine Tante mich zum ersten Mal in die Stadt ausführte, fühlte ich mich wie aus der Gefangenschaft entlassen.

Die aufgehende Sonne tauchte die Stadt in Safrangelb und Rosa. In den Wohnvierteln nahe des Palazzo hingen noch die Dünste nächtlicher Gelage. In den krummen Gassen mussten wir uns zwischen Pfützen aus Unrat durchschlängeln. Zu gern wäre ich hier und da stehen geblieben, um die in Nischen prangenden Statuen zu bewundern, die kupfernen Herolde des Baptisteriums und die prächtige Fassade des duomo, doch meine Tante zog mich ungeduldig mit sich fort; sie mied den geschäftigen Marktplatz, nahm lieber den Weg durch die rückwärtigen Gassen, wo die alten Häuser sich wie absterbende Bäume neigten und das Tageslicht aussperrten.

Ich sah den Diener nach dem Messer an seiner Seite greifen. Es war so dunkel hier, und es stank nach Fäulnis. Ich schmiegte mich dichter an meine Tante, als ich magere, zerlumpte Kinder und ausgemergelte Hunde vorbeihuschen sah. Ein paar verwitterte alte Weiber in zerschlissenen Tüchern hockten auf ihren Türstufen und musterten uns mit scheelen Blicken. Nach vielen verwirrenden Abzweigungen gelangten wir schließlich zu einem windschiefen Holzhaus, das aussah, als könnte es jeden Moment einstürzen. Hier blieb meine Tante stehen; ihr Diener pochte an die klapprige Tür.

Sie schwang auf, und ein schmaler Junge stand da, mit zerzaustem Haar und schläfrigen braunen Augen. Als er uns sah, verneigte er sich tief. »Duchessina, ich bin Carlo Ruggieri. Mein Vater erwartet Euch.«

Meine Tante drückte mir eine kleine Stoffbörse in die Hand. Ich blickte überrascht zu ihr auf. »Geh«, sagte sie. »Du musst den Maestro allein aufsuchen. Bezahle ihn, wenn er fertig ist.« Ich zögerte, und sie schubste mich an. »Säume nicht, Kind. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Ich nahm an, dieser Carlo müsse wohl der älteste Sohn des Maestro sein; hinter seinem Rücken lugte noch ein kleinerer Junge hervor. Ich lächelte ihn vorsichtig an, und der Kleine wagte sich vor, streckte eine schmuddelige Patschhand nach meinem Rock aus.

»Das ist mein Bruder Cosimo«, sagte Carlo. »Er ist vier Jahre alt und mag Naschwerk.«

»Ich mag auch Naschwerk«, sagte ich zu Cosimo. »Aber ich habe heute keines dabei.« Er schien den Klang meiner Stimme zu schätzen und klammerte sich an meine Hand, während Carlo mich in das dämmrige Innere des Hauses geleitete, das von einem seltsam durchdringenden Geruch erfüllt war. Ich erspähte einen vergilbten Totenschädel auf einem Stapel stockfleckiger Pergamente, bevor Carlo mich eine knarrende Treppe hinaufführte. Die Gerüche wurden stärker: Ich roch Kampher, Kräuter und etwas Bittersüßes, das mich an den Herbst gemahnte, wenn die Schweine geschlachtet wurden.

»Papa!«, hörte ich Carlo rufen, »Papa! Die Medici ist da!« Er schob eine schmale Tür auf und wandte sich zu uns um. »Er will Euch allein sehen. Du musst sie jetzt loslassen, Cosimo.«

Cosimo schürzte die Lippen und ließ meine Hand los. Ich straffte die Schultern und trat in die Kammer des Maestro. Das Erste, was ich sah, war das Licht. Es strömte in schrägen Strahlenbündeln durch ein offenes Dachfenster hoch oben zwischen den Deckenbalken und erhellte einen Raum, der nicht größer war als mein Schlafgemach im Palazzo. Regale voller Bücher und Gläser mit dunklen Dingen in irgendeiner Flüssigkeit bedeckten die Wände. In einer Ecke stapelten sich Sitzkissen rings um einen Messingtisch. Ein breiter Marmorblock auf Böcken nahm die Mitte des Raumes ein. Ich war überrascht, einen Leichnam darauf zu sehen, halb von einem Leintuch bedeckt.

Bloße Füße ragten unter dem Tuch vor. Eine Stimme, die von nirgendwoher zu kommen schien, sagte: »Ah, Duchessina, da seid Ihr ja!«, und dann kam der Maestro in Sicht, schlurfend, hohlwangig, silberbärtig, eine fleckige Schürze über dem schwarzen Gewand. Er winkte mich heran. »Möchtet Ihr mal sehen?«

Ich trat näher. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um über den Rand des Blocks zu schauen. Der Leichnam war der einer Frau mit geschorenem Kopf, die von der Kehle bis zur Leiste aufgeschlitzt war. Es gab weder Blut noch üblen Geruch, bis auf den der Kräuter. Ich hatte erwartet, angeekelt zu sein, abgestoßen. Stattdessen war ich fasziniert von den blauen Lungen und dem geschrumpften Herzen, das in einem Käfig aus gebrochenen Rippen ruhte.

»Was macht Ihr da?«, fragte ich leise, als ob sie mich hören könnte.

Er seufzte. »Ich suche nach ihrer Seele.«

»Und? Könnt Ihr eine Seele sehen?«

Sein Lächeln vertiefte die Runzeln in seinem Gesicht. »Muss man immer etwas sehen, um daran zu glauben?« Er nahm mich bei der Hand und führte mich zu den Kissen in der Ecke. »Setzt Euch. Sagt mir, warum Ihr gekommen seid.«

Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte, aber seine sanfte Art weckte in mir den Wunsch, ihm die Wahrheit zu erzählen. »Ich … ich habe gestern etwas gesehen. Es machte mir Angst.«

»War es ein Traum?«

»Nein, ich war wach.« Ich hielt inne, dachte nach. »Aber es war wie ein Traum.«

»Sagt mir, was Ihr gesehen habt.«

Ich beschrieb es ihm. Und wieder empfand ich diese schreckliche Hilflosigkeit und hörte meine Stimme zittern. Als ich geendet hatte, faltete der Maestro die Hände. »Lag da jemand, den Ihr kanntet, auf dem Bett?« Er lächelte, als ich den Kopf schüttelte. »Ich verstehe. Darum habt Ihr Euch gefürchtet. Ihr dachtet, Ihr würdet einen Angehörigen sehen, und stattdessen saht Ihr einen Fremden. Einen jungen Mann, nicht wahr, der gewaltsam zu Tode kam?«

Es lief mir kalt über den Rücken. »Woher wisst Ihr das?«

»Ich sehe es Euch an. Ach, mein Kind, Ihr müsst Euch nicht ängstigen, nur begreifen, dass nur wenige Menschen Verständnis dafür aufbringen würden, was Ihr mir eben erzählt habt.« Er beugte sich zu mir vor. »Was Ihr gestern erlebt habt, nennt man eine Vorahnung. Sie betrifft die Zukunft, kann aber auch ein Echo aus der Vergangenheit sein. Im Altertum hielt man die Hellsicht für ein Geschenk der Götter und verehrte den, der diese Gabe besaß. Aber in unseren dunklen Zeiten hält man sie meist für ein Hexenzeichen.«

Ich starrte ihn entsetzt an. »Meine Tante sagte, es sei eine Vision. Bin ich deswegen hier? Bin ich verflucht?«

Er lachte auf. »Ich habe schon manches Rätsel gelöst, aber den Beweis, dass ein Fluch wirkt, müsste ich erst noch erbringen. « Er kitzelte mich mit seinem knotigen Finger unter dem Kinn. »Glaubt Ihr denn, dass Ihr böse seid?«

»Nein. Ich höre täglich die Messe und verehre unsere Heiligen. Aber manchmal habe ich böse Gedanken.«

»Wie wir alle. Ich versichere Euch, es gibt keinen Fluch. Ich habe Euch Euer Horoskop gestellt, als Ihr zur Welt kamt, und habe dort nichts Böses gefunden.«

Mein Horoskop? Das hatte meine Tante nie erwähnt.

»Warum hatte ich denn diese … Vision?«, fragte ich.

»Nur Gott weiß darauf die Antwort, aber ich warne Euch, es könnte sein, dass es nicht Eure letzte war. Bei manchen treten solche Visionen häufig auf, bei anderen nur in Zeiten der Gefahr. Und bei Euch liegt die Gabe in der Familie. Es heißt, Euer Urgroßvater il Magnifico habe manchmal in die Zukunft sehen können.«

Das gefiel mir gar nicht. »Und wenn ich es nicht will? Wird es dann aufhören?«

Seine struppigen Brauen hoben sich. »Die Hellsicht kann nicht abgelehnt werden. Viele würden ihre Seele für das hingeben, was Ihr so leichtfertig von Euch weist.«

»Habt Ihr denn die Gabe?«, fragte ich, geschmeichelt von der Vorstellung, dass ich etwas so überaus Begehrtes besaß.

Er seufzte, hob die Augen und blickte sich im Raum um. »Wenn ich sie hätte, würde ich dann all das hier brauchen? Nein, Duchessina. Ich verfüge nur über das Geschick, die Bahnen der Sterne zu erkunden und sie für die Menschen zu deuten. Aber das Firmament ist nicht immer freimütig. › Quod de futuris non est determinata omnino veritas.‹ Die Zukunft betreffend gibt es keine sicher zu bestimmende Wahrheit.«

Ich überlegte lange, ehe ich sagte: »Ihr könnt meine Gabe haben, wenn Ihr wollt.«

Er schmunzelte, tätschelte mir die Hand. »Mein Kind, selbst wenn Ihr sie mir geben könntet, würde ich sie niemals beherrschen lernen in der kurzen Zeit, die mir bleibt.« Er hielt inne. »Aber Ihr könnt es lernen.«

Er senkte die Stimme. »Ich habe lange gelebt und viel gelitten. Bei Eurer Geburt sah ich voraus, dass Ihr noch länger leben würdet. Also werdet auch Ihr leiden. Aber Ihr werdet nie erdulden müssen, was ich zu erdulden hatte, den Schmerz, das ganze Leben lang etwas zu suchen, das man nicht zu fassen kriegt. Euer Schicksal wird sich erfüllen. Es ist vielleicht nicht das Schicksal, das Ihr Euch wünscht, Caterina de Medici, doch erfüllen wird es sich.«

Er streckte die Hand aus und streichelte mir über die Wange. Ich schlang die Arme um seine knochige Gestalt. Für einen Augenblick erschien er mir so klein wie ich. Dann entzog er sich mir. »Ihr beehrt mich mit Eurer Zuneigung, Duchessina. Dafür möchte ich Euch dies hier schenken.«

Er fasste in seine Tasche, öffnete meine Hand und legte eine Phiole hinein, die an einer dünnen Silberkette hing und mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.

»Darin befindet sich ein starkes Elixier. Ihr dürft es nur verwenden, wenn Ihr keine andere Wahl mehr habt. Wird es auf die falsche Weise, zur falschen Zeit verwendet, kann es tödlich für Euch sein – und für andere.«

»Was ist es denn?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass etwas so Kleines eine so starke Wirkung haben sollte.

»Manche würden es Erlösung nennen, andere Gift.«

Ich staunte. »Wozu sollte ich Gift brauchen?«

»Hoffen wir, nie. Dennoch ist es mein Geschenk an Euch.« Er verstummte, legte den Kopf schief, als ob er horchte. »Nun versteckt die Phiole und hütet sie gut. Eure Tante wird ungeduldig. Ihr müsst gehen.«

Man hatte mir beigebracht, dass es unhöflich sei, ein Geschenk abzulehnen, also legte ich mir die Kette um den Hals und ließ die Phiole in meinen Ausschnitt gleiten. »Ich hoffe, wir können Euch bald einmal wieder besuchen, Maestro«, sagte ich. Dann fiel mir die Geldbörse ein, und ich zog sie aus der Manteltasche. »Die ist für Euch.«

Er nahm sie entgegen, als sei sie ganz nebensächlich. »Geht mit Gott, Duchessina.«

Ich war schon an der Tür, als er plötzlich sagte: »Noch etwas. « Ich wandte mich zu ihm um. »Sagt Madama Strozzi, sie soll Euch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Sagt ihr, Rom wird fallen.«

Ich nickte beklommen und trat hinaus auf den Treppenabsatz, wo Carlo wartete. Als ich einen letzten Blick zurück in die Studierstube warf, hatte das Licht sich verändert. Der Maestro saß jetzt im Dunkeln, und doch wusste ich, dass er lächelte.

Carlo brachte mich zurück nach unten; ich dankte ihm und verabschiedete mich. Cosimo brach in Tränen aus. »Verlass uns nicht!« Carlo musste ihn festhalten, als er versuchte, sich an mich zu klammern.

Ich lächelte Cosimo zu. »Ich muss jetzt heimgehen, aber ich verspreche dir, dass ich bald wiederkomme.«

»Das geht nicht«, schluchzte er, und die Tränen liefen ihm die schmutzigen Wangen hinab. »Alle werden tot sein.«

»Tot?« Ich sah Carlo an. »Was meint er?«

Carlo rollte die Augen. »Er sagt immer so seltsame Dinge. Hör auf damit, Cosimo. Du machst ihr Angst.«

Cosimo blickte mit verzweifelter Miene zu mir auf. Ich spürte eine plötzliche Leere, als ich mich vorbeugte, um ihn auf die Wange zu küssen. »Bis bald«, sagte ich und zwang mich dazu zu lächeln. »Sei brav und gehorche deinem Bruder.«

Meine Tante wartete noch an der gleichen Stelle, wo ich sie verlassen hatte. Als der Diener seinen Wachposten an der Hauswand verließ, fragte sie: »Hat er dir Antwort auf deine Fragen gegeben?«

»Ich glaube schon.« Ich erinnerte mich an die Warnung des Maestro, dass wenige Verständnis dafür aufbringen würden, und fügte hinzu: »Er sagt, ich lerne zu viel und hatte einen Ohnmachtsanfall. «

Ich weiß nicht, wo die Worte herkamen, doch es waren offenbar die richtigen, denn die Miene meiner Tante erhellte sich mit unverkennbarer Erleichterung. »Bene«, sagte sie. Sie nahm mich an die Hand. »Hat er sonst nichts gesagt?«

Ich wiederholte seine letzten rätselhaften Worte. »Wisst Ihr, was er damit meint?«

Sie zuckte die Schultern. »Die meiste Zeit frage ich mich, ob er selbst weiß, was er meint.« Schweigend kehrten wir zurück zum Palazzo.

Im Gehen tastete ich mit der freien Hand über mein Mieder, wo ich die Phiole dicht am Herzen fühlte.