Sauftour

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Peter stand vor seiner Korkwand und grübelte. Er war kaum richtig wach gewesen, als er schon am Telefon gesessen hatte, das er als die wichtigste Erfindung der letzten Jahre betrachtete. Dabei war es das einzige Gerät in seinem Haus, das von Strom abhängig war, weshalb er dieser seltsamen Neuheit zunächst mit Misstrauen begegnet war. Er traute der Elektrizität nicht und wusste damit den Großteil der Menschheit hinter sich. Aber der Zweck heiligte die Mittel, und er ging davon aus, dass die Erfinder früher oder später Wege entwickeln würden, die Apparate auf eine andere Weise zu betreiben. Die Ingenieure waren da sehr einfallsreich, besonders dann, wenn die Erfindung aus Amerika kam und man sie verbessern wollte.

Sein erstes Interesse galt Landhäusern im Rheingau, zu denen man die Mädchen gebracht haben könnte. Da Paul unterwegs und somit nicht erreichbar war, musste er sich selbst darum kümmern. Aber er kannte noch genügend Leute bei der Kriminalpolizei, die ihm bei solchen Kleinigkeiten helfen konnten.

Paul hatte ihm einen Zettel hinterlassen, auf dem er mitteilte, er sei im Bauamt und etwas zu essen im Ofen. Während er wartete, dass sein Bekannter zurückrief, den er mit der Suche nach geeigneten Häusern beauftragt hatte, machte er sich über die Pastete her. „Hach, Paul, was habe ich nur die ganze Zeit ohne dich gemacht. Wenn ich nicht ab und zu bei Mütterchen Theresa hätte essen können, wäre ich ganz schön vom Fleisch gefallen“, seufzte er genüsslich. Er verwarf den Gedanken aber wieder, als er an seinen durchtrainierten Körper dachte, der unter Pauls Kochkünsten sicher gelitten hätte.

Oder nicht?

Paul wirkte zwar mädchenhaft weich, aber Peter musste neidlos zugestehen, dass auch an seinem Körper kein Gramm Fett zu viel war. Nur an Muskelmasse fehlte es ihm.

Das Schrillen des Telefons ließ ihn wie eine Katze aufspringen und seine Nackenhaare aufstellen. Er eilte zum Apparat und meldete sich.

Es war sein Bekannter von der Kriminalpolizei, der ihm drei Adressen im Rheingau durchgab. „Das sind die einzigen Häuser in dem Bereich, auf die deine Vorgaben zutreffen. Das eine in der Nähe von Eltville steht seit einem Jahr leer, weil der Besitzer angeblich seinen kompletten Besitz verloren hat und das Haus verkaufen musste. Es kann aber jederzeit benutzt werden, Wasser und Gas sind immer noch angeschlossen. Der neue Besitzer kommt erst im Sommer aus Amerika und will dann einziehen. Das Haus bei Frauenstein ist eine Sommerresidenz und liegt recht versteckt, und das zwischen Walluf und Martinsthal ist auch unbewohnt – Erbstreitigkeiten.“

„Danke, Richard, das war mir eine gigantische Hilfe!“

„Keine Ursache. Viel Erfolg.“

Peter betrachtete die Adressen und ließ sich Kriminalkommissar Richard Koglers Informationen noch einmal durch den Kopf gehen. Seine Intuition sagte ihm, er könne das Haus bei Frauenstein getrost streichen, denn die Kutsche hätte durch den ganzen Ort fahren müssen, um zu dem Haus zu gelangen, und die Frauensteiner waren aufmerksame Leute. Auch in der Nacht wäre ihnen ein solches Gefährt nicht entgangen, und es hätte Gerede gegeben. Das Haus bei Walluf schied ebenfalls aus. Wenn es dort um Erbstreitigkeiten ging, dann war das Haus sicher noch möbliert. Selbst das beste Reinigungspersonal würde nicht imstande sein, die Spuren einer Orgie zu beseitigen, außer man könnte beschädigte Möbel und Teppiche einfach entfernen. Das aber würde Diskrepanzen in der Erbliste ergeben, die mit Sicherheit von aufmerksamen Anwälten stammte, denen nicht eine Teppichfaser entging.

Blieb Eltville. Peter nahm eine Landkarte und markierte den Standort des Hauses. Es lag ein Stück außerhalb des Radius, den er festgelegt hatte, war aber dennoch gut erreichbar. „Perfekt! Da muss ich hin! Ich kann die Sekte ja erst morgen besuchen, also habe ich heute Zeit.“

Er hörte, wie sich die Haustür öffnete. Paul trat ein, und Peter kam ein Gedanke. „Schön, dass du da bist. Wie wäre es mit einem Ausflug in den Rheingau? So wie du aussiehst, kannst du das gut gebrauchen, und du kannst mir in Ruhe erzählen, was du rausgefunden hast.“

Peter musste lachen, als er Pauls argwöhnischen Blick sah. Er war so voller Tatendrang, dass seine Energie ihn strahlen ließ. Paul hingegen wirkte erschöpft.

„Die Sache hat doch einen Haken“, brummte Paul.

„Ich brauche dich zum Schmierestehen und als harmlosen Begleiter. Eine Sauftour durch die Kneipen Eltvilles ist eine hervorragende Tarnung.“ Peter grinste, als Paul die Augen verdrehte.

„Ich brauche mich also gar nicht erst ausziehen? Ein guter Tropfen hilft vielleicht meinem angeschlagenen Nervenkostüm.“

Peter holte einen Mantel mit großen Taschen, die sich verdächtig ausbeulten, und sie verließen das Haus wieder, um zum Bahnhof zu gehen. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um in den Zug nach Rüdesheim zu springen, dessen Anhang gerade mal aus einem Personenwagen und dafür fast einem Dutzend Güterwaggons bestand. Normalerweise durften Güterzüge nicht in den Hauptbahnhof einfahren, für sie gab es die Haupttrasse durch Biebrich und den dortigen Bahnhof. Aber der Personenverkehr in den Rheingau lohnte sich für die Regionalbahngesellschaft nur, wenn sie auch Güter transportieren konnte. Nur zu den mehrmals jährlich stattfindenden Weinfesten gab es längere Personenzüge, die dann vollgestopft mit Menschen der besseren Gesellschaft waren. Doch im Frühjahr gab es das nicht. Entsprechendes Gedränge herrschte in dem Wagen, die der Dampf der gewaltigen Zugmaschine durchdrang, bis sich jemand erbarmte und die Fenster schloss.

Die Brüder standen auf dem Gang und sahen aus dem Fenster, während der Zug zum Rhein hinuntertuckerte und dann auf die Güterbahntrasse wechselte, die parallel zum Fluss in die Weinberge des Rheingaus führte. Paul starrte die meiste Zeit vor sich hin, und Peter begann sich Sorgen zu machen.

„Schlechte Nachrichten?“, fragte er. „Hast du etwas über die Drucksachen herausgefunden?“

„In Niedernhausen ist niemand zu erreichen. Aber ich muss sowieso dorthin fahren, auch wegen des eingestürzten Gebäudes. Das mache ich morgen, ich habe mich mit jemandem verabredet. Die ganze Sache geht so tief, das reicht schon an die Höllenpforten, und wer der Zerberus ist, der über diese Pforte wacht, das wissen wir. Ich habe aber einiges gefunden, das dich interessieren könnte.“

„Fein, nachher bei Spundekäs und Woi in der Wirtschaft kannst du es mir erzählen.“

In Eltville stiegen sie aus. Es dämmerte bereits, und Peter warf einen Blick zu den Weinbergen. Das Haus war deutlich zu erkennen. Das erste Stockwerk ragte über den Reben auf und besaß eine große Front üppiger Sprossenfenster. „Da müssen wir hin“, murmelte er und zeigte Paul das Haus. „Aber erst, wenn es dunkel ist.“

Sie mussten eine Sperre im Bahnhof passieren und wurden prompt angehalten. Ein Polizist, der sichtlich zu oft dem guten Riesling seiner Heimat zusprach, verlangte ihre Ausweise zu sehen und den Grund ihres Aufenthaltes in Eltville zu erfahren.

„Mein Bruder und ich wollten unser Wiedersehen feiern“, gab sich Peter leutselig. „Er war so lange weg und hat im ganzen Kaiserreich Häuser gebaut, da wollte ich ihn einfach mal auf ein gutes Essen und den hervorragenden Rebensaft des Rheingaus einladen.“

Der Polizist musterte sie und glich die Ausweise ab. Dass sie Brüder waren, musste sogar diesem Trottel auffallen, und so gab er ihnen die Ausweise zurück und ließ sie passieren.

Peter zwinkerte Paul zu, als sie das Bahnhofsgebäude verließen. „Siehst du, deshalb wollte ich dich dabeihaben. Alleine wäre ich bei diesem Wachhund wahrscheinlich nicht durchgeschlüpft. Du hingegen siehst so bieder und unschuldig aus, da kann der Mann einfach nichts Böses denken!“

Er zuckte beiseite, als Paul ihm einen Boxhieb in die Rippen versetzen wollte, so dass der für seinen Bruder ungewohnt heftige Schlag ins Leere ging. Aber Pauls Gesicht hellte sich auf. Wenigstens das hatte Peter mit seiner Lästerei erreicht.

In einer Seitengasse ließen sie sich an einem der roh gezimmerten Tische einer Wirtschaft nieder. Sie bestellten einen Krug Riesling und reichlich Spundekäs mit Brot, und Peter sah sich um. Die Stimmung der anderen Gäste war nicht besonders gut, wirkte aber auch nicht so geladen, wie es in mancher Kneipe in Wiesbaden der Fall sein durfte, jetzt, da der Kaiser wieder zur Kur in der Stadt weilte.

„Hast du den Kaiser gesehen?“, fragte er leise seinen Bruder, der abwesend in eine Ecke starrte und sein Weinglas in den Händen drehte.

„Nur den Menschenauflauf, der ihn erwartete. Als ich aus dem Bauamt wieder heraus war, hat sich das Ganze schon zerstreut, da war er bereits im Kurhaus, und die Innenstadt war noch stärker abgeriegelt. Die Polizei hat sich gebärdet wie ein Rudel Wachhunde.“

„Ich frage mich, warum er noch herkommt, obwohl er sich immer beschwert, die Luft sei wegen der vielen Fabriken so schlecht. Vor allem, warum kommt er jetzt schon? Im Frühjahr …“, murmelte Peter. Es war für ihn eine rhetorische Frage, umso überraschter war er, als sein Bruder eine Antwort parat hatte.

„Die Luft in Baden-Baden ist auch nicht besser, seit man in Elsass-Lothringen rund um Strasbourg jetzt auch Schwerindustrie angesiedelt hat. Der Friedensvertrag und das Handelsabkommen – beides Dinge, die der Kaiser nicht wollte, die aber von seinen Diplomaten eingefädelt wurden, hinter seinem Rücken und mit Billigung des Parlamentes – berechtigen die Franzosen, den Rhein auch für ihre Zwecke zu nutzen. Sie haben eine große Transporttrasse gebaut. Für Dampfzugwagen und für eine Bahnlinie. Abgesehen davon gehen die größten Gläubiger des Kaisers in Baden-Baden zur Kur, hier hat er Ruhe vor ihnen. Einige davon dürften auch hinter den Verträgen mit den Franzosen stehen, denn sie bringen ihnen breitere Absatzmärkte und mehr Zugriff auf die Kolonien Frankreichs – und nicht zuletzt schwört der Kaiser auf Riesling.“ Paul hob grinsend sein Glas. „Mich wundert eher, dass Bad Homburg sich nicht mehr Mühe gibt, den Kaiser zu umgarnen. Aber denen scheinen die Neureichen aus Frankenfurt lieber zu sein als alter, schuldenbehafteter Adel.“

„Da kannst du recht haben. Du kennst dich aus ... ich lese zwar auch viel Zeitung, aber diese großen Zusammenhänge sind mir entgangen“, gab Peter grinsend zurück und hob ebenfalls sein Glas. Sie stießen an und machten sich dann über den Spundekäs und das frisch gebackene Brot her.

„Hmmm, das habe ich so vermisst“, seufzte Paul. „Ich weiß nicht, was die Reichen an ihren ach so wunderbaren Menüs so schätzen, wenn die einfache Küche doch tausendmal schmackhafter ist.“

„Wie kommt es, dass du da tiefere Einblicke hast?“, fragte Peter zwischen zwei Happen und einem Nicken.

„Gelegentlich werden Verträge über neue Bauwerke während einer Festlichkeit abgeschlossen. Ich durfte meinen Chef manchmal begleiten, weil er der Ansicht war, ich hätte von seinen Zeichenbrettsklaven die besten Manieren und das angenehmste Äußere. Die Buffets, die da aufgefahren werden, solltest du mal sehen – von den Resten, die weggeworfen werden, könnte man ein ganzes Armenviertel zwei Tage ernähren. Aber ich glaube, die würden vor den Austern, Krebsen, Fischen, Fasanen und was weiß ich, was das alles war, zurückschrecken. An manche Sachen kann man sich gewöhnen, andere sind einfach nur teuer. Austern zum Beispiel sehen schon schlimm aus. Aber der Fisch war wunderbar, Schollenfilets, Lachs … das wäre für mich ein Grund, nach Hamburg umzusiedeln, wo man so etwas als Grundnahrungsmittel hat, weil viele Fischkutter dort direkt am Hafen ihren Fang verkaufen. Da würde ich gern meine Kochkünste weiter ausbauen.“

Peter ließ Paul reden, weil er spürte, dass er etwas loswerden musste, bevor er ihn fragen konnte, was er denn Ungewöhnliches im Bauamt erfahren hatte. Mit einem Ohr lauschte er Paul, mit dem anderen den Gesprächen rundherum, die allesamt so lautstark waren, dass ihn das keine Mühe kostete. Am Nebentisch fing jemand an, auf die hohe Herrschaft zu fluchen, und er fing die Worte „perverse Feier“ auf, die der Bürgermeister besser verbieten sollte.

Wir sind am richtigen Ort, fand Peter damit seine Vermutung bestätigt, dass er das richtige Haus ausgesucht hatte. „Was ist jetzt mit dem Bauamt? Konnte dein Freund helfen?“

„Justus hat mir die Akten beschafft. Den Rest musste ich selbst machen“, grinste Paul, doch die Fröhlichkeit verschwand sofort wieder. Er zog ein Notizbüchlein heraus und klappte es bei einer groben Skizze auf. „Zu deiner Luftschiffanlage: Die Halle ist ein ungewöhnliches Bauwerk. Gigantisch, aber nicht nur über, sondern auch unter der Erde, und das an einem Ort, wo du schon mit einem Kinderschäufelchen im Sandkasten auf Grundwasser stoßen kannst, und da war etwas Seltsames in den Plänen zu entdecken: geheime Räumlichkeiten. Sie waren im Grundriss des Untergeschosses nicht eingetragen, man konnte es nur anhand eines Maßstabsvergleiches und der Massenermittlung der Ausschreibung erkennen. Eine gigantische, wasserdichte Wanne unter der Halle, wo die Hälfte an Raum ausgereicht hätte, wenn man die Technik unbedingt unter die Erde legen müsste. Aber das meiste an Lager und Technik ist außerhalb, und die Heliumproduktion, die der Baron in langem Gerangel mit den monopolistisch angehauchten Amerikanern für seinen eigenen Bedarf selbst in die Hand nehmen durfte, ist in einem angrenzenden Chemiewerk angesiedelt. Gut, sie haben eine Art riesige Schleuse unter die Halle gebaut, um es schon dort mit Fracht zu versehen, das gute Stück kann dann durch das Dach entschweben. Aber neben diesem Verladeschacht und vor allem im hinteren Teil sind noch mehr nicht eingezeichnete Räume. Es gibt in dieser Kellerwanne auch Kühlräume, man konnte sie anhand der Ausschreibungstexte erkennen, wofür auch immer man die in einer Luftschiffhalle braucht. Ich habe dir die Lage der fehlenden Räumlichkeiten aufskizziert, vielleicht kannst du das mal gebrauchen. Anhand der Treppenläufe konnte ich sie genauer zusammenstellen. Wenn du es brauchst, mache ich dir gern noch eine größere, detailliertere Skizze, damit du dich auch blind dort zurechtfindest.“

Peter sah auf den Plan und nickte. Er konnte architektonische Pläne häufig nicht entschlüsseln, sie waren für ihn voller Symbole, die er nicht verstand, aber sein Bruder hatte die Fähigkeit, einen Grundriss so darzustellen, dass auch ein Laie ihn entziffern konnte. „Das werde ich sicher eines schönen Tages gebrauchen können, und es ist höchst interessant. Was auch immer dort unten ist, ist eines der Ziele der Saboteure.“

„Davon kannst du ausgehen. Noch was … ich habe versucht, mit dem Ingenieur aus Hamburg Kontakt aufzunehmen, der die Pläne für die Halle gemacht hat. In Fuhlsbüttel gibt es einen großen Luftschiffhafen, der da oben im Norden noch immer misstrauisch beäugt wird, weil man fliegende Konkurrenz zur Seeschifffahrt befürchtet. Vor allem die Passagierdampfer fürchten, die bequemeren Luftschiffe könnten ihnen die gut zahlenden Überseepassagiere abwerben. Der Ingenieur ist nicht mehr erreichbar, er ist nach der Fertigstellung der Pläne ausgewandert in die Kolonien und baut dort Betriebshallen für den Bergbau.“

„Bitte? Warum denn das?“, hakte Peter nach, auch wenn er ahnte, die Antwort zu kennen. Wallenfels hatte sich also auch dieses Mitwissers entledigt.

„Ich habe mit einem jungen Ingenieur gesprochen, der versucht, das Büro aufrechtzuhalten. Ein Schüler des Mannes, aber nur ein Angestellter. Meine Fragen haben ihn aufgeschreckt, und er hat das Gespräch abgewürgt. Kurz darauf hat er mich von einer Polizeistation aus angerufen, wo ein Freund von ihm Dienst schob. Er fürchtete, man könne das Büro abhören. Alles wusste er auch nicht. Nur, dass der Chefingenieur eine Halle bauen wollte, die man wie die Platte vor einem Lokschuppen drehen konnte. So haben sie es in Fuhlsbüttel, eine leichte Halle auf einer drehbaren Platte, damit man die Luftschiffe nicht bei Seitenwind aus der Halle manövrieren muss. Das wollte Wallenfels nicht, und die Größe der von ihm geforderten Halle wäre so auch nicht herstellbar gewesen. Der Ingenieur war ihm zu neugierig und hatte wohl auch etwas herausgefunden, das für ihn ungesund war. Das hat ihm das Genick gebrochen. Er sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sich mit der Ehefrau eines Adeligen versündigt zu haben, der sich darauf mit ihm duellieren wollte. Da hat er alle Zelte abgebrochen und ist in die Kolonien ausgewandert. Dem jungen Ingenieur hat er anvertraut, dass die neue Steuerung irgendwie gegen jede Moral verstoßen würde und Wallenfels der Teufel höchstselbst sei.“

„Das ist keine neue Erkenntnis. Noch ein ruiniertes Leben“, knurrte Peter. „Die gleiche Handschrift wie bei der Drohkulisse, die man bei dir aufgebaut hat: eine angeblich entehrte Frau.“

Als die Gespräche rundherum mit steigendem Alkoholpegel immer lauter und die Sprüche über „die da oben“ immer aggressiver wurden, machten sich Peter und Paul auf den Weg. Sie nahmen die nachtdunklen Straßen zu dem Anwesen im Weinberg, das von einer mannshohen Bruchsteinmauer umgeben war. Darüber wucherten Wein und Efeu. Peter ging zu dem hohen schmiedeeisernen Tor und spähte hindurch. Es war verschlossen und mit einer starken Kette gesichert. Er ruckelte daran, was einen scharfen metallischen Laut erzeugte. Nichts geschah.

„Was machst du?“, fragte Paul nervös.

„Wenn es Hunde auf dem Grundstück gäbe, wären sie jetzt am Tor. Selbst die, die erst beißen und dann bellen. Keine Bange, ich will nicht durchs Tor. Kannst du klettern? Der Efeu zum Weinberg hin sieht vielversprechend aus.“

Peter bog in den Weinberg ab und umrundete das Grundstück. Mittlerweile war es stockfinster, die Wolken ließen nur wenig Streulicht zu, aber seine Augen hatten sich daran weit genug gewöhnt, um Einzelheiten zu erkennen. Er kletterte als erster an den starken Efeutrieben die Mauer hoch. Paul folgte ihm und stellte sich dabei überraschend geschickt an, obwohl er einen Anzug trug, der ihn behinderte und den er sichtlich nicht allzu sehr schädigen wollte. Auf der anderen Seite sprangen sie in einen ungepflegten Garten. Aufmerksam lauschend schlich Peter voran zur gekiesten Zufahrt. Der schadhafte Belag war nur noch eine Kraterlandschaft. „Hier war vor kurzer Zeit noch reichlich Besuch. Mindestens ein Landauer, eine Droschke und ein Dampfautomobil der gehobenen Klasse. Auch ein oder zwei Reitpferde. Eine schöne Gesellschaft für ein angeblich verlassenes Haus.“

„Willst du hinein?“

„Ich muss. Ich will wissen, was hier passiert ist. Mit etwas Glück hat noch keiner aufgeräumt, und wir finden irgendwelche Hinweise. Komm!“ Peter sprang zur Tür und begutachtete das Schloss. Aus den Tiefen seiner unergründlichen Manteltaschen zog er ein kleines Päckchen, in dem ein Satz Dietriche klappersicher eingewickelt war, und probierte sie nacheinander aus. Es klickte beim dritten Versuch, und die Tür ließ sich lautlos öffnen. Die Brüder schlüpften hinein.

Peter entzündete ein Streichholz und sah sich um. Er hoffte, dass die letzten Gäste Laternen oder Öllampen zurückgelassen hätten, und tatsächlich stand eine Handvoll Sturmlaternen auf einer Anrichte neben der Treppe zu den oberen Stockwerken.

„Hier, Paul, nimm eine, aber pass auf, dass du immer zwischen Lampe und Fenster stehst!“

„Mir ist nicht wohl bei der Sache“, gab Paul zu, nahm aber eine der Lampen.

„Ich weiß. Wir sollten uns beeilen, ehe das Aufräumkommando kommt. Dem Geruch nach war es nämlich noch nicht tätig. Los!“ Peter betrat einen Salon und gab ein zynisches Lachen von sich. „Na, die Herrschaften haben es sich wirklich wohlergehen lassen.“

Paul spähte ihm über die Schulter und schüttelte sprachlos den Kopf. Die Fenster waren mit schweren Vorhängen gegen jeden neugierigen Blick von außen gesichert. Sofas, Ottomanen und Chaiselonguen standen dicht an dicht und bildeten ein Lager, wie man es aus Darstellungen römischer Orgien kannte. In diesem Kreis standen Couchtische, auf denen sich schmutziges Geschirr und Essensreste stapelten. Es roch nach Alkohol und etwas anderem, das Peter sofort als Opiumrauch erkannte. Die langstieligen Pfeifen mit den kleinen Köpfen, die zwischen den Abfällen lagen, bestätigten dies. Er hielt sich die Nase zu und besichtigte den Raum. Paul hatte sich wegen des Geruchs in die Eingangshalle zurückgezogen.

Peter untersuchte die Liegen und schob seine Hand immer wieder zwischen die Kissen, in der Hoffnung, etwas zufällig Verlorenes zu entdecken. Tatsächlich wurde er fündig. In einer Sofaritze fand er einen Wappenring. Peter grinste, als er das Wappen erkannte. „Ah, das könnte hilfreich sein. So ein Himmelhund ...“

Ein weiterer Fund, den er in seinen tiefen Taschen verschwinden ließ, war ein Seidentaschentuch mit Initialen. „Damit hätten wir zwei der feinen Herren in der Hand. Mal sehen, was sich damit anstellen lässt.“

Weiter fand er ein paar Stofffetzen von Frauenkleidern. Die Herrschaften waren in diesem Raum über die Damen hergefallen, die man ihnen mit Drogen ruhig gestellt zur Verfügung gestellt hatte.

Ihm fielen Weingläser auf, die rund um die Sofas auf dem Boden standen. Peter zückte sein Taschentuch und hob verschiedene Gläser hoch, um sie gegen das Licht zu halten. Auf mehreren waren deutliche Fingerabdrücke zu erkennen. Es war noch nicht lange her, seit man festgestellt hatte, dass die Fingerabdrücke der Menschen absolut individuell sind. Zwar erkannte noch nicht jedes Gericht Fingerabdrücke als Beweismittel an, aber wenn andere Beweise einen Verdacht nährten, der durch Fingerabdrücke eine Bestätigung erfuhr, war auch der skeptischste Richter bereit, sie zumindest zu beachten.

Peter sah sich nach etwas um, worin er die Gläser verpacken konnte. Er wollte die Gläser nicht mitnehmen, sondern im Haus verstecken. Er fand eine Weinkiste mit Holzwolle, bettete die beiden Gläser mit den deutlichsten Fingerabdrücken und eine leere Flasche hinein und kehrte zu seinem Bruder in die Halle zurück.

„Was hast du da?“, fragte Paul.

„Ein paar Gläser mit schönen Fingerabdrücken. Jetzt brauche ich einen Platz, an dem ich sie verstecken kann, bis sie als Beweismittel gebraucht werden.“

Paul schien nachzudenken, doch sein Gesicht hellte sich schnell auf. „An der Mauer, über die wir geklettert sind, war ein Kaninchenstall. Wäre das ein gutes Versteck?“

Peter stellte die Kiste ab und schlug Paul anerkennend auf die Schulter. „Perfekt! Machen wir auf dem Rückweg. Ich will noch den Rest des Hauses durchforsten. Wenn du nicht mitwillst, dann warte hier!“, fügte er besorgt an, als er das bleiche Gesicht seines Bruders sah.

Paul schüttelte den Kopf. „Nein, ich bleibe lieber in deiner Nähe.“

„Gut, dann komm, ich bin sicher, dass wir oben mehr finden. Da wird es richtig zur Sache gegangen sein.“

Gemeinsam schlichen sie ins Obergeschoss. Peter ließ immer wieder seinen Blick hin und her gleiten und nahm die Kleinigkeiten wahr, die ihn leiteten. Stofffetzen von Frauenkleidern waren die erste Spur, die zu einer Tür am Ende eines Ganges führte. Dann entdeckte er einen Blutfleck an der Wand und weitere auf dem Teppich am Boden, die zum entgegengesetzten Ende des Ganges wiesen. Doch zunächst reizte ihn das Zimmer mehr, und so schlich er mit Paul im Gefolge weiter. Er öffnete die Tür, leuchtete hinein und prallte zurück. Geistesgegenwärtig zog er die Tür zu. „Paul, könntest du bitte nachsehen, wohin die Spur aus Blutstropfen auf dem Teppich führt, und dort mal ganz aufmerksam suchen, ob etwas zu finden ist?“

Paul sah ihn stirnrunzelnd an, widersprach aber nicht und tat wie ihm geheißen, während Peter das Zimmer betrat. Er schirmte das Licht seiner Lampe mit seinem Mantel ab und eilte zu den Fenstern, um die schweren Vorhänge zuzuziehen. Dann wandte er sich den Matratzenlagern zu, vor allem dem, das den Fenstern am nächsten lag. Das darübergespannte Laken war vollgesogen mit Blut. Die Gerüche im Raum waren kaum zu ertragen, Blut, Erbrochenes, Schweiß, Urin, Kot, Ergüsse männlicher Geilheit und der allgegenwärtige Opiumduft bildeten eine schwindelerregende Mischung.

Eine weitere Blutlache, kleiner als die auf dem Lager, aber auch sie groß genug, um vom Tod zu zeugen, glitzerte hinter der Tür. Trotz seines Ekels untersuchte Peter die Laken in der Hoffnung auf weitere Spuren, doch es war nichts zu finden außer allen möglichen Überresten menschlicher Ausscheidungen. „Mindestens zwei Mädchen sind hier nicht wieder lebend rausgekommen. Hoffentlich war sie nicht darunter“, murmelte Peter.

Als vor dem Raum eine Diele knarrte, eilte er zur Tür und verließ das Chaos. Paul stand davor und wirkte irgendwie krank. Peter ließ nicht zu, dass er einen Blick in das Schlafzimmer werfen konnte.

„Ich habe etwas gefunden. Es war unter dem Waschbecken versteckt, ich habe es entdeckt, als ich … mich übergeben habe. Entschuldige …“

Peter klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern und nahm das Fundstück entgegen. Es war ein Streifen von einem Laken, mit Blut beschrieben. Die Schrift war erstaunlich gut lesbar. „Kanal an der Kaiser-Wilhelm-Brücke, Rheinkilometer 498,4 …“

Er hatte begriffen. Nahe der Reduit gab es einen Zugang zum Kanalsystem. Offensichtlich konnte man also noch tiefer sinken als bis in die Hüttensiedlungen am Fluss. Aber das hatte er bereits vermutet, als er die große Gesellschaft aus der Hütte hatte kommen sehen. „Mein Gott“, sagte Paul.

Peter sah ihn entgeistert an. „Da … da hat eine der Frauen irrwitzige Kraft, Klarheit und Mut bewiesen. Jetzt weiß ich, wo ich nach ihnen suchen muss. Ich hoffe, ich habe genauso viel Kraft und Mut, dorthin zu gehen, wo diese Mädchen sind. Ich frage mich, ob die, die hier starben, nicht besser dran sind, als die, die es überlebten.“

„Ich glaube, das will ich gar nicht wissen …“, murmelte Paul und wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels über den Mund. Er würgte wieder, aber es kam nichts mehr.

„Komm. Wir brauchen beide frische Luft. Schade um das gute Essen und den Wein.“ Sie verließen das Haus, und Peter verschloss die Tür wieder hinter sich. Auf dem Weg zur Mauer verstaute er die Kiste mit den Gläsern in einem der leeren Hasenställe und beeilte sich, mit Paul zu verschwinden. Keine Sekunde zu früh hechteten sie über die Mauer in den Weinberg, denn das Zufahrtstor öffnete sich quietschend, um ein Fuhrwerk einzulassen.

Peter blieb eine Weile im Efeu über der Mauer hängen, um das Fuhrwerk zu beobachten, von dem vier Männer absprangen und das Haus betraten. Einer blieb bei den Pferden. Man konnte ihn an der Glut seiner Zigarette ausmachen. Der Gedanke drängte sich Peter auf, dass es für die Leute des Fuchses zu gefährlich war, zu dieser Tageszeit an diesem Ort zu agieren. Dabei fielen ihm die Worte des Fuchses wieder ein, der angewiesen hatte, die Toten zu entsorgen. Das Aufräumkommando würden die Herrschaften stellen. Das warf neue Fragen auf, aber der Ring in seiner Tasche beantwortete möglicherweise einen Teil davon.

Peter beeilte sich, zu Paul zu gelangen, als der Mann vom Fuhrwerk auf die Mauer zu schlenderte. Sein Bruder war bereits ein Stück zwischen den Reben entlang hangabwärts geeilt, um sich ungehört übergeben zu können.

„Tut mir leid, Paul, ich hätte dir das nicht zumuten dürfen. Wahrscheinlich wäre ich besser alleine gegangen, aber dann hätte ich möglicherweise keine Zeit mehr gehabt, die Botschaft zu finden.“

„Schon gut. Ist vielleicht auch mal ganz gut zu sehen, was es für Abgründe gibt. Ich bin froh, dass ich aus dieser ach so feinen Gesellschaft raus bin. Aber Menschen wie mich nennen sie pervers, nur weil ich nicht auf Frauen scharf bin. Was ist das denn?“

Peter zog den Ring hervor und hielt ihn Paul unter die Nase. „Kennst du das Wappen?“

Paul starrte entgeistert auf das goldene Siegel. „Ja“, erwiderte er.

„Lass uns nach Hause fahren. Ich habe auch genug in den Abgrund gesehen. Mir reichts für heute. Hoffentlich kann ich morgen etwas gegen diese Abgründe tun.“ Ein giftiges Grinsen zog sich um seine Mundwinkel, als er den Ring in die Luft warf, mit einer schnellen Bewegung auffing und in seiner Manteltasche verschwinden ließ. Er konnte ihm durchaus noch in anderer Hinsicht sehr nützlich sein.