Lug und Trug
Paul erwachte nach langem, erholsamem Schlaf, als Peter heimkam. Sein Bruder fackelte nicht lange und fiel todmüde in das noch gut gewärmte Bett, während sich Paul anzog. Sie wechselten kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Paul spürte, dass Peter eine aufregende Nacht hinter sich hatte, und seine Aufgaben für den Tag standen fest. Eine weitere Absprache war nicht erforderlich.
Nach dem Frühstück machte sich Paul auf den Weg. Natürlich patrouillierten wieder Dutzende Polizisten auf dem Innenstadtring, aber niemand schien von dem elegant gekleideten Mann Notiz nehmen zu wollen, während aller Blicke auf den Bahnhof gerichtet waren. Paul traf auf den Wachtmeister, der ihn am Vortag kontrolliert hatte. Der brummte nur und tippte an seine Pickelhaube zur Begrüßung, wandte sich aber auch sofort wieder ab.
„Hoffentlich treffe ich im Amt überhaupt jemanden an – obwohl, das sind Beamte, die sind nicht von ihrem Posten zu bewegen. Die wissen, dass sie ihrem Herrscher mit Arbeit zu huldigen haben“, murmelte er amüsiert, während er zur Rheinstraße lief.
Paul musste lachen, als er all die Menschen am Ende der Rheinstraße sah, die an der Wilhelmstraße entlang Spalier standen. Noch herrschte gespannte Ruhe, doch sobald die Nachricht sich verbreiten würde, dass der Zug des Kaisers im Bahnhof eingetroffen war, würde es sehr lautstark zugehen.
Diese Erwartungshaltung und die Verehrung für den Kaiser waren Paul völlig unverständlich. Er hielt nicht viel von dem Mann an der Spitze der Regierung und hoffte nur, dass Wilhelm II. keinen Fehler machte, der das Land ins Unglück stürzen konnte. Er war ein Mann voller Gegensätze, der Pomp und militärische Stärkebekundungen liebte und mit unbedachten Provokationen keinerlei Rücksicht auf die Be- und Empfindlichkeiten der Fürsten aus den Nachbarländern nahm. Vor allem der fragile Frieden und die Annäherung an Frankreich waren immer wieder in Gefahr. Zum Glück für das Reich hatten umsichtigere Menschen den Kaiser aus den Verhandlungen gedrängt und den Friedensvertrag nach dem Krieg von 1870/71 so gestaltet, dass Frankreich die offene Demütigung erspart geblieben war. Dadurch war die „Erbfeindschaft“ aus dem Vokabular der Menschen gestrichen und durch „Annäherung“ ersetzt worden, trotz allem, was der Kaiser sonst noch so von sich gegeben hatte.
Mittlerweise schien es, als würden sowohl seine Verwandtschaft in den Königshäusern Europas als auch die Völker langsam anfangen, das Gepolter des Kaisers zu ignorieren, vor allem, weil jedermann wusste, dass der Kaiser ohne die deutschen Industriellen keinen Schritt mehr machen konnte, da er bei allen hoch in der Kreide stand. Sein überbordender Lebensstil und die militärische Überlegenheit waren auf Pump finanziert. Die Industriellen hatten ihn in der Hand und waren die wahren Herrscher. Von dieser Seite betrachtet – als Bremsklotz für den Kaiser –, befand Paul Leute wie Wallenfels als durchaus nützlich.
Andererseits waren sie aber auch bedrohlich, denn man kannte die Pläne dieser Männer nicht, und sie ließen sich ungern in die Karten sehen. Beim ungestümen Herrscher des Reiches glaubte man wenigstens zu wissen, woran man war. Bei den Industriellen nicht. Zwar hatten sie den Frieden gestärkt, aber was alles an den Diplomaten vorbei und hinter dem Rücken von Kaiser und Parlament geschah, überblickte wahrscheinlich niemand im Land.
Kopfschüttelnd betrat Paul einen Bau etwas weiter oben in Richtung der Ringkirche und meldete sich beim Pförtner. „Guten Morgen, mein Name ist Langendorf, ich bin Architekt. Ist Justus Hausner heute im Archiv anzutreffen?“
Der Pförtner, ein alter Mann mit Walrossschnurrbart, kontrollierte die Stechuhr neben seinem Tresen. Seine Miene verriet den ehemaligen Offizier, der kriegsversehrt in dieser untergeordneten Beamtenstellung sein Auskommen gefunden hatte. Ihm fehlte der halbe linke Arm, und die Zeit, die keine Kriege mehr kannte, hatte ihn vergessen. „Ja, Oberverwaltungsrat Hausner ist da, ich werde Sie anmelden!“
Der Mann griff zum Haustelefon und stöpselte die Leitung auf der Vermittlungstafel um. „Ein Herr Langendorf für Sie. Ich schicke ihn runter! Kennen Sie den Weg, Herr Langendorf?“
Paul nickte und ließ sich die Tür zum Inneren des Amtes öffnen. Das Archiv befand sich in einem Souterrain zum Hinterhof hin, und er musste seinen Freund nicht lange suchen, denn er kam ihm schon entgegengeeilt.
„Paul, wie schön, Sie mal wiederzusehen. Was machen Sie denn für Sachen, da ist mir ja was zu Ohren gekommen, also das finde ich ja … also das kann doch …“
Paul hob die Hände, um den Redefluss des älteren Mannes zu stoppen, der ein guter Freund seines Vaters gewesen war. „Justus, ich bitte Sie, ich werde das gern erklären, aber alles nacheinander!“
Sie umarmten einander und gingen zu einem kleinen Abteil mit Schreibtisch und Zeichenbrett. Der Plan auf dem Reißbrett fesselte sofort Pauls Aufmerksamkeit, denn es handelte sich um den Grundriss eines ihm wohl bekannten Gebäudes. Aber darin war mit roter Tusche der Grundriss anderer Mauern eingetragen. „Ist das nicht der Plan des neuen Palasthotels?“
„Ja, der kam gerade gestern rein, sie haben beim Ausschachten die Grundmauern alter römischer Thermen gefunden. Sogar eine bisher unbekannte, inzwischen versiegte Thermalwasserquelle. Ein Hochgenuss für die Wissenschaft, nur die Bauherren sind nicht sonderlich begeistert. Schließlich mussten sie alle Bauarbeiten vorerst einstellen. Stammen die Pläne für das Hotel nicht ursprünglich von Ihnen? Auf diesem steht Ihr Name nicht mehr.“ Der ältere Mann musterte Paul durch sein Monokel.
Paul starrte auf den Planstempel, aus dem fein säuberlich sein Name herausgekratzt worden war. Jetzt stand da ein ihm unbekannter Name. Man hatte ihn schon ersetzt.
„Tja, lange Geschichte. Von den Thermen habe ich schon nichts mehr erfahren. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ja, die Pläne waren mein Werk. Jetzt einen anderen Namen darunter zu lesen macht mich traurig. Aber ich hatte die Pläne ja für das Büro gefertigt und kann, da das Haus noch nicht steht, keine Anrechte auf den Entwurf geltend machen.“
„Setzen Sie sich und erzählen Sie mir die ganze Geschichte. Ich habe läuten hören, dass Sie einfach nur den Mund nicht halten konnten. Keine fremde Schuld auf sich laden wollten.“ Der Beamte zwinkerte ihm zu, wobei ihm das Monokel aus dem Gesicht fiel.
Paul ließ sich seufzend auf den Stuhl vorm Schreibtisch fallen und einen Kaffee einschenken. Dann erzählte er Hausner die gleiche Geschichte noch einmal, die er zuvor bereits seinem Bruder erzählt hatte. Diesmal fiel es ihm schon bedeutend leichter, denn besonders Peters Verständnis für seine Situation und sein Handeln hatten ihm wieder Mut gemacht. Vor allem hatte es ihm bestätigt, dass es noch Menschen gab, die Menschlichkeit wertschätzten, dass ein Gewissen noch etwas zählte. Hausner schien die gleichen Gefühle zu hegen.
Als er geendet hatte, saßen sie eine Weile schweigend da, bis Hausner wieder zu sprechen begann. „Eine schlimme Geschichte, wirklich schlimm, und ich muss sagen, ich habe so etwas schon vermutet, als ich von Ihrem Scheitern hörte, Paul. Sie sind kein Einzelfall, mein Bester. Andere Architekten kriechen zu Kreuze und laden Schuld auf sich, die sie ewig beugen wird. Bislang habe ich noch keinen erlebt, der den Mut hatte, gegen diesen Missstand vorzugehen. Ich bewundere Sie für Ihr Rückgrat, aber ich bedaure Sie auch, denn Ihre Karriere dürfte damit beendet sein. Leider. Ich habe die Pläne vom Palasthotel gesehen und den Bauantrag bearbeitet. Einfach wundervoll. Damit hätten Sie sich ein Denkmal setzen können, noch dazu in Ihrer Heimatstadt.“
„Das ist nun vorbei. Ich weiß noch nicht, wie es weitergeht. Ich habe ein kleines Vermögen gespart, das mir erst mal über die Runden hilft und ein paar Dividenden abwirft. Außerdem wohne ich wieder zu Hause, bei meinem Bruder. Ich will bei der Zukunftsplanung nichts überstürzen. Aber ich muss noch eine Sache klären, und ich hoffe, dass Sie mir dabei helfen können. Oder besser, bei zwei Dingen, denn auch mein Bruder hat ein Problem. Darf ich zwei Akten durchsehen? Nur ansehen, ich will nichts kopieren oder mitnehmen.“
Wieder gab es eine Pause, dann lächelte Hausner. „Akteneinsicht ist kein Verbrechen, und Sie als Architekt haben dazu natürlich das Recht. Ich muss nur gegenzeichnen lassen, dass ich die Akten ausgehändigt habe. Das steht dann im Ausgabebuch.“
„Egal. Wie gesagt, ich will es nicht verwenden. Nur verstehen.“ Paul nannte dem Mann zwei Adressen.
Hausner bedeutete ihm, ihm zu folgen, und sie gingen gemeinsam eine Etage tiefer. Dort musste Paul in einem Zimmerchen warten, in dem es lediglich ein Lesepult und einen Hocker gab, während Hausner weiter in die Katakomben des nassauischen Bauarchivs hinabstieg, um die Akten zu holen. Bald kehrte er mit einem schwer bepackten Rollwagen zurück. Angesichts des gigantischen Aktenstapels entfuhr Paul ein Seufzen, aber er bemühte sich auch um ein dankbares Lächeln.
„Ich lasse Sie dann mal mit dem ganzen Papierkram allein ... wenn Sie mir nur bitte noch den Erhalt gegenzeichnen würden?“ Hausner hielt ihm ein dickes Buch entgegen, in dem er fein säuberlich die Nummern der ausgehändigten Akten verzeichnet hatte, und Paul unterschrieb.
„Danke, ich kämpfe mich dann mal durch.“
Paul wartete, bis Hausner den Leseraum verlassen hatte und er allein war. Dann schloss er die Tür und ging ans Werk. Ehe er sich der Akte zuwandte, der sein eigenes Interesse galt, ging er die Unterlagen durch, die Peter weiterhelfen sollten. Die Pläne der Luftschiffhallen im Wald nahe Kelsterbach.
Für einen Moment starrte Paul verblüfft auf den Lageplan und fragte sich, wie er das vergessen haben konnte. Vielleicht war es nur Zufall, dass sich alles zeitlich überschnitt, aber wenn irgendetwas mit Wallenfels in Verbindung stand, glaubte Paul nicht mehr an Zufälle. „Was kam als erstes, Huhn oder Ei? Erst die Eingemeindung oder erst die Genehmigung … und vor allem – Kelsterbach gehört doch gar nicht zum Herzogtum Hessen-Nassau, oder?“
Fieberhaft überlegte er, wann die Eingemeindung erfolgt war. Überraschenderweise fand er die Antwort in der Akte. Jemand hatte einen Zeitungsausschnitt über die Eingemeindung beigelegt. Gewiss niemand aus dem Architekturbüro, von dem die Pläne stammten, sondern jemand aus der Behörde, dem das Faktum auch aufgefallen war. 4. Mai 1896. Etwa ein Jahr vorher hatte Wallenfels die Firma der Luftschiffingenieure gekauft und angefangen, sich mit den Behörden darüber zu streiten, wie man sie erweitern könnte. Die Kelsterbacher waren dagegen gewesen … nach der Eingemeindung konnten sie nichts mehr dagegen einwenden, und die Planung für die neue Halle wurde einen Tag nach der Eingemeindung genehmigt. Kurz zuvor war das Gebiet dem Umkreis von Frankenfurt zugeschlagen worden, das schon früher Gebiete südlich des Mains im Großherzogtum Hessen innehatte. Wer konnte das in die Wege geleitet haben, und wie hatte man es eigentlich geschafft, die Kelsterbacher zur Eingemeindung zu überreden?
Paul notierte sich diese ungewöhnlichen Einzelheiten in ein Notizheftchen und beschloss, es gleich in der Nassauischen Landesbibliothek nachzuschlagen, die fast direkt gegenüber dem Bauamt lag. Er hatte eine vage Erinnerung an einen Skandal um den Bürgermeister und ein paar Honoratioren des Ortes. Die Halle war innerhalb von eineinhalb Jahren fertiggestellt worden, ein Koloss aus Ziegelstein und Stahl. Noch während der Dachdeckerarbeiten hatte man im Inneren schon begonnen, die ersten Gerüstteile des neuen Luftschiffes zu montieren. Danach blieben Nachrichten über das Luftschiff aus, die Quelle der Informationen für die Journalisten war versiegt.
Als nächstes nahm sich Paul die Pläne der Halle vor, ohne Neid auf den Kollegen, der diesen Auftrag erhalten hatte. Der Name auf dem Planstempel sagte ihm nichts. Das war kein Wunder, denn der Architekt kam aus Hamburg-Fuhlsbüttel, wo es bereits einen großen Luftschiffhafen gab. Ein Mann mit Erfahrung also, der mit den Architekturbüros aus Frankenfurt nichts zu tun gehabt hatte. Innerlich notierte sich Paul nachzuforschen, wo sich dieser Mann inzwischen befand, damit man vielleicht unter Kollegen ein paar Fragen zu dem Bau klären konnte. Die Pläne enthielten nichts Spektakuläres, jedenfalls nichts, was sich einem ungeübten Betrachter auf den ersten Blick erschloss.
Paul hingegen schon.
Das Erste, was ihm auffiel, war, dass die Halle einen massiven Unterbau besaß, ein Kellergeschoss, das sich von den Dimensionen her ausnahm wie ein Bunker. Der Boden zwischen Rüsselsheim und Kelsterbach war Schwemmland von Rhein und Main und bestand daher fast ausschließlich aus Sand. Ein Gebäude dieser Größe musste tief und gut gegründet werden. Aber Paul konnte sich keinen Grund vorstellen, wozu eine Halle wie diese einen Keller benötigte. Noch dazu einen, den man zusätzlich besonders behandeln musste, weil das Grundwasser sehr dicht unter der Oberfläche stand. So tief, wie dieses Gebäude im Boden stand, benötigte man eine Wanne, sonst stand das Wasser meterhoch in den Räumen. Paul suchte die Grundrisspläne des Kellers, weil er wissen wollte, was man darin unterzubringen gedachte. Doch der Plan schien bewusst vage zu sein. Es gab Räumlichkeiten, die gar nicht benannt waren oder lapidare Bemerkungen wie „Lager“ oder „Technik“ trugen. Mittig verlief ein sehr langer, breiter Schlauch, der auch außerhalb der Halle weiterging. In diese Wanne gelangte man über eine Rampe vor dem Hallentor. Sie war mit „Lastaufnahme“ beschriftet. Jetzt erkannte Paul auch den Sinn eines weiteren Hallenplans, der den Titel „Dachgeschoss“ trug und eigentlich nur mit Signaturen für Laufstege versehen war, und der gestrichelt eingetragenen Dachplatten, die auf massiven Metallschienen aufliegen sollten. Ein großer Motor sollte sie an Ketten übereinander ziehen, so dass das Luftschiff nicht durch das Hallentor fliegen musste, sondern direkt mit einer Last durch das Dach entschweben konnte.
„Ein technisches Meisterwerkt!“, murmelte er.
Dann fiel Paul ein Fehler auf. Er nahm den Grundriss zur Hand und stellte fest, dass Untergeschoss und Hallenplan den gleichen Maßstab hatten, aber die Pläne nicht übereinanderpassten. Der Keller hatte die gleichen Proportionen wie die Halle, war aber um einiges kleiner – kürzer und schmaler, doch die Fundamentierung der Halle musste eigentlich mit der des Kellers übereinstimmen.
Paul legte die Pläne übereinander und hielt sie gegen das Licht. Das auffälligste Merkmal war eine Treppe, die im hinteren Teil der Halle nach unten in den Keller führte, nach dem Kellerplan aber im Erdreich endete. „Auf diesem Plan fehlt eine ganze Flucht von Räumen … mal sehen, was die Statik sagt.“
Seine Neugier war geweckt, so dass ihn nicht einmal die sonst so gefürchtete Überprüfung der Statik schreckte. Paul begann zu erkennen, was Peter an Ermittlungsarbeit und Recherche fand. In seinem Hinterkopf begann ein verwegener Plan für seine eigene Zukunft zu reifen. Vielleicht würde er sich als unabhängiger Gutachter selbstständig machen. Nach Baumängeln und Fehlern zu wühlen begann, ihm Spaß zu machen.
Da! Unter der Halle gab es Räume, die in keinem Plan enthalten waren. Die Berechnungsgrundlagen der Statik waren eindeutig. Aber was war dort? So lapidar wie die anderen Räume hätten sie auch diese titulieren können. Warum verbargen sie diese Räume? Paul zeichnete grob den Grundriss der Halle ab, für den Fall, dass Peter eines schönen Tages Zugang dazu haben würde. In einem Ausschreibungstext fand er Hinweise auf Grundwasserpumpen, aber deren Standorte waren durch im Plan eingezeichnete Rohrsysteme klar definiert. Für sie waren die zusätzlichen Räume nicht gedacht. Abgesehen davon gab es keinen Grund, diese zu verheimlichen.
Fast hätte er es übersehen, dass in der Ausschreibung Seiten fehlten. Die Blätter hatten keine Seitenzahlen, waren aber mit hartem Bleistift von Hand durchnummeriert. Auffällig waren ein paar Besonderheiten beim Kellergeschoss. Es war nicht nur wasserdicht, es waren auch besondere Schall- und Temperaturisolierungen vorgesehen. Letztere entsprachen den Vorkehrungen für Kühlräume.
Wozu Kühlräume? Für ein Gaslager waren die Räume zu klein, und für Fracht gab es gesonderte Häuser. Paul notierte auch diese Besonderheit. Er sortierte die Akten. Auf diese Art würde er nicht weiterkommen, weil sein Wissen über die Hintergründe dessen, was der Baron vorhaben könnte, zu gering war. Die fehlenden Seiten hätten ihm womöglich diese letzten Informationen geliefert, aber er wusste nicht, wo er sie herbekommen sollte. Die Baufirma, die die Halle gebaut hatte, gehörte zum großen Teil dem Baron, der Ausschreibungstext war nur pro forma, eben Bestandteil des Bauantrages für ein so großes Projekt. Da man es aber nie öffentlich ausgeschrieben hatte, also keine anderen Firmen diese Ausschreibung jemals in die Hände bekommen mussten, würde er nicht an den Originaltext gelangen.
Ein Kartell, etwas anderes war das Firmengeflecht des Barons nicht. Er konnte machen, was er wollte, weil er für alles, was er brauchte, Arbeiter hatte, die ohne Fragen zu stellen alles erledigten. „Gut, dass ich da raus bin“, dachte Paul. Diese Schafe hatten ihr Gewissen mit der Unterschrift unter dem Arbeitsvertrag abgegeben. Er hatte seines behalten und den Absprung geschafft, ehe er abstumpfen konnte. Auch wenn ihm das gerade nicht weiterhalf.
Die Akten auf dem Lesepult wanderten zurück auf das Wägelchen, und ein neuer Stapel entlud eine Staubwolke in den Raum. Diesmal waren es die Pläne für mehrere Arbeiterwohnhäuser, die man in kurzen Abständen beantragt und gebaut hatte. Der letzte Teil der Akte enthielt Pauls Pläne des Hauses, das eingestürzt war.
Wehmütig blätterte Paul die Antragsunterlagen, die seine Unterschrift und teilweise seine Handschrift trugen, durch, Pläne, die er in mühevoller Kleinarbeit gezeichnet hatte. Seine Anlage war die letzte in der Reihe gewesen und bildete den Abschluss zu einer Straße, die an ein besseres Wohnviertel für Ingenieure und Vorarbeiter des Chemiewerks grenzte. Diese Front sollte daher besonders gestaltet werden, und er hatte sich viel Mühe mit den Zeichnungen gemacht, nahezu jeden einzelnen Ziegelstein dargestellt. Das Haus sollte ein Schmuckstück werden, das von außen optisch auch für höhere Weihen hätte herhalten können. Das Innere hingegen war entsetzlich eng gewesen. Ein Hasenstall. Während in einem bürgerlichen Haus ein Raum hinter mehreren Fenstern lag, so war hier hinter je einem Fenster ein Raum. Die Rastermaße der Fenster waren aber nicht anders als die der Fassaden zwischen dem ersten und zweiten Stadtring. Die Arbeiterfamilien sollten nicht mehr Raum bekommen als unbedingt nötig. Abgesehen davon hätte sich bei den üblichen Hungerlöhnen auch keine Familie mehr leisten können. Paul hatte es ihnen etwas komfortabler machen wollen und wenigstens Etagenbäder eingeplant. Diese hatte er nur mit Mühe gegen seine Auftraggeber verteidigen können, weil die Räume auf halber Treppe im innenliegenden Treppenhaus ohnehin nicht anders zu nutzen waren.
Wenn das Gebäude so entstanden wäre, wäre alles schön gewesen. Das Haus würde noch stehen und ein Dutzend Familien noch leben. Eigentlich konnte er froh sein, dass zum Zeitpunkt des Einsturzes nur zwölf Familien im Haus gewohnt hatten, gedacht war es für die doppelte Zahl.
„Was hat den Einsturz verursacht? Selbst mit dem schlechten Material und den dünnen Mauern hätte es nicht eine solche Katastrophe geben dürfen! Es hätte Vorwarnungen gegeben, Risse im Putz, herabfallende Ziegel. Aber es hat sich regelrecht selbst verschluckt“, fluchte er. Er ging die Akten durch, in der Hoffnung, etwas Neues zu finden. Einen Hinweis, dass etwas mit dem Boden nicht stimmte. Doch die Akten gaben nichts her. Als er sie resigniert wieder auf den Wagen legen wollte, entdeckte er unter losen Blättern einen dünnen Ordner. Er trug den gleichen Straßennamen, deshalb hatte ihn Justus wohl auch mitgebracht. Aber die Akte war älter.
Überrascht, dass es für diese bis dahin unberührte Gegend eine Akte gegeben hatte, griff Paul danach und schlug den dünnen Ordner auf. Es handelte sich um ein Gutachten und einen Antrag, Entwässerungsleitungen für das nahegelegene Chemiewerk bauen zu dürfen. Er faltete einen Grundlagenplan auf, orientierte sich an den Katastergrenzen und wurde bleich. Noch einmal schlug er die andere Akte auf und entnahm ihr die Hauspläne. Seinen Plan legte er über den alten und hielt beides wieder gegen das Licht.
„Mein Gott … an der Stelle hätte man nicht einmal eine Remise bauen dürfen …“, stöhnte er. „Warum hat das die Bauaufsicht nicht gesehen?“
Das Gutachten sagte über das Grundstück, auf dem Pauls Haus entstanden war, aus, dass darunter ein Altarm des Mains lag, zugeschüttet mit Sand, Schlämmen aus Kanälen und Kläranlagen, Bauschutt und anderem Müll, der nicht näher definiert war. Darüber hatte man etwas Erde drapiert. Die Menschen sollten also nicht nur auf nicht tragfähigem Grund über nahem Grundwasser leben, sondern auf einer Müllkippe. Durch das Gelände verlief neben den Baugrenzen des Hauses eine gestrichelte Linie. Sie kam vom Gelände des Chemiewerkes und war als gemauerter Abwasserkanal von zwei Metern Höhe und eineinhalb Metern Breite betitelt. Er begann unter dem Hauptgebäude des Chemiewerkes und endete im Main. Paul entdeckte ein Kürzel, das besagte, dass der Kanal zum Zeitpunkt des Gutachtens unbenutzt und trocken gewesen war. „Wozu diente dieses verdammte Gutachten?“
Paul las die Akte Stück für Stück noch einmal durch, aber er fand keinen Hinweis. Es wurde lediglich erwähnt, dass das Hauptgebäude nicht als Verwaltungsgebäude für das Werk errichtet worden war, sondern schon gestanden hatte, als man das Werk eröffnete. Es war ein Landgut gewesen.
Erstellt hatte das Gutachten ein gewisser Johannes Peitner aus Niedernhausen. „Ich glaube, ich muss nach Niedernhausen. Nicht nur wegen des Farbenwerkes, wo ich niemanden telefonisch erreiche, um nach Peters Flugblatt zu fragen. Jetzt ist klar, man hätte das Haus dort nie bauen dürfen, und möglicherweise sind auch die anderen Gebäude nicht sicher. Eine Überflutung, Ausschwemmungen und fertig. Das ist es keine Frage des Ob, sondern des Wann!“
Er nahm den Plan des Gutachtens und zwei Lagepläne der Arbeiterhäuser aus den Akten und legte den Rest wieder auf den Wagen. Mit den Plänen kehrte er zu Justus Hausner zurück, um ihm das Problem zu schildern und zu fragen, warum niemand bei der Baupolizei erkannt hatte, dass es dort ein Problem mit dem Untergrund gab.
Hausner zeigte sich sichtlich bestürzt über die Entdeckung und ging sofort seine Listen durch, wer die Bauanträge geprüft hatte. Er erbleichte, als er eine Aktennotiz fand.
„Ich sage es nicht gern, denn das geht gegen meine Beamtenehre, aber da tut sich ein Sumpf auf. Geprüft hat das Harald Lauter. Doch den kann niemand mehr zur Rechenschaft ziehen … wann genau stürzte das Haus ein?“
„Am 28. Januar … was geht da vor?“, stieß Paul entsetzt hervor, der zu ahnen begann, um was es ging.
„Am 29. Januar stand es also in der Zeitung, oder kenntnisreichere Leute haben ihm gesagt, dass ein Problem auf ihn zukommen könnte. Am Mittag dieses Tages ging Harald nach Hause und schoss sich eine Kugel durch den Mund. Er war sofort tot. Auf seinem Konto waren hohe Geldbeträge verbucht, deren Herkunft man nicht nachvollziehen konnte. Das bedeutet vermutlich, dass er die Genehmigungen nicht nach Prüfung, sondern nach Geldeingang vergab.“
Paul ließ sich auf einen Stuhl sinken und barg sein Gesicht in den Händen. „Na toll.“
Hausner trat zu ihm und klopfte ihm auf die Schultern. „Daran kann man wohl nichts mehr ändern. Aber wenn es Sie beruhigt: Ich werde sofort die Baupolizei informieren, damit ein Trupp Bauinspektoren rausfährt und die anderen Häuser und ihren Baugrund prüft. Damit nicht noch mehr passiert. So etwas darf nicht sein, und wir werden alles tun, um unsere so beschmutzte Ehre wieder reinzuwaschen. Lauter hat sich aus der Verantwortung gezogen, aber wir können und werden das nicht.“
„Danke. Das beruhigt mich.“
„Was wollen Sie nun machen, Paul?“
Paul zuckte die Achseln und tippte auf das Gutachten. „Ich will diesen Peitner aufsuchen und fragen, warum er das Ding angefertigt hat. Das Problem ist nicht nur, dass da vielleicht noch ein Haus einstürzt. Warnen Sie die Bauinspektoren, dass sie bei dem beschädigten Kanal aufpassen müssen. Der ist im Plan eingetragen, aber als stillgelegt gekennzeichnet. Als das Haus einstürzte und den Kanal beschädigte, war er aber eindeutig in Betrieb, und die Ratten, die dort leben, sind gigantisch, so was hat man noch nicht gesehen. Irgendwas stinkt hier, und es ist nicht nur das Wasser in diesem Kanal! Nach dem Auftauchen der Ratten gab es ein ungewöhnlich großes Polizeiaufgebot, auch weil im Nachbargebäude, das schon stand, plötzlich mysteriöse Krankheitsfälle auftraten. Das Haus dürfte noch leer stehen, möglicherweise kommen die Bauinspektoren gar nicht hinein.“
„Ich werde es weitergeben. Aber warum hat man davon nichts gehört? Ich kann mich nicht erinnern, neben dem lapidaren Bericht über den Einsturz des Gebäudes auch nur ein Wort von weiteren Problemen in der Zeitung gelesen zu haben. Nun, wegen Peitner – der ist im Ruhestand und hat sich auf einen Bauernhof oder in eine Mühle bei Niederseelbach zurückgezogen. Das ist auf halbem Weg nach Idstein.“
„Danke, Justus. Ich hoffe, die Behörde kann da in ein Wespennest stechen. Es wird mal Zeit!“