Feuertaufe

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Die Dämmerung war noch nicht angebrochen, als Peter sich am Tor des winzigen Friedhofs einfand. Auch wenn er sicher war, dass die Wildsachsener erst mit dem ersten Hahnenschrei aufstehen und ihrem Tagwerk nachgehen würden, sofern sie sich schon vom Tanz in den Mai erholt hatten, verbarg er sich hinter dem Stamm einer Feldulme, die halb aus der Umfassungsmauer herauswuchs. Der Geruch nach Misthaufen war allgegenwärtig, und aus den feuchten Wiesen stieg Dunst auf, der sich zu Frühnebel verdichten würde, sobald Licht den Horizont erhellte. Wildsachsen bestand nur aus einer Handvoll Wohnhäuser, und in keinem der Fensterchen zwischen krummen Fachwerkbalken war ein Licht zu sehen.

Das leise Knirschen von Kies unter den Schritten mehrerer Personen ließ Peter aufmerksam werden. Sie näherten sich seinem Standort, und jemand pfiff eine Folge von fünf Tönen. Erleichtert löste sich Peter von der Mauer und trat auf den Weg. Seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen nahmen einen mächtigen Schatten an der Straße wahr.

„Johann!“, rief er leise. Sofort bewegten sich der große Schatten und drei weitere auf ihn zu.

„Wunderschöne gute Morsche, Peter. Endlich gibts mal wieder was zu tue. Ich bin sehr gespannt. Das ist Sebastian. Von deiner Beschreibung her bin ich von ausgegangen, dass de den meinst“, stellte Johann einen schmalen Mann an seiner Seite vor.

Peter ließ ein Streichholz aufflammen und hielt es vor das Gesicht von Johanns Begleiter. „Das ist er. Ich hoffe, Johann hat dich schon ein wenig in deine Aufgabe eingeweiht?“

Das Streichholz erlosch, und Peter konnte den Jungen für einen Moment nur schemenhaft erkennen. „Bastian einfach nur. Jo, hadder, aber im Ernst, des klappt doch ned?“

„Ich denke schon. Kommt, wir laufen zum Herrenhaus rüber, ich gebe dir noch ein paar Kleinigkeiten mit. Im Endeffekt muss es nur für ein paar Stunden funktionieren, bis wir Konstantin auf dem Flughafen und im Schiff haben. Danach kannst du dich verpissen. Konstantin hält sich von allen Menschen im Haus fern, und alle haben Anweisung, ihn nicht zu stören, Bedienstete wie Bewacher. Wenn er nicht nach ihnen verlangt, kommt auch keiner zu ihm. Du gehst einfach ins Haus und setzt dich ins Zimmer. Essen wird in einen anderen Raum gebracht, und wenn die Diener wieder raus sind, kannst du es dir mal richtig gut gehen lassen.“ Peter ging voran, über die Straße und die Wiesen zum Wald. Johann und die drei anderen folgten ihm und lauschten auf seine geflüsterten Erklärungen. „Es muss sehr schnell gehen. Wenn der Baron im Garten ist, kann er nicht lange außer Sicht der Detektive bleiben, ohne dass sie alarmiert sind.“

Bastian nickte. Er war nur in einfachste Kleider gehüllt, derer er sich leicht entledigen konnte. Peter beglückwünschte sich zu seinem guten Blick. Er hatte auf dem Sektentreffen nur wenige Blicke für die anderen Anwesenden übrig gehabt und doch die Ähnlichkeit des Jungen mit Konstantin richtig eingeschätzt. Die gleiche Größe und Gestalt, blasse Haut und kastanienfarbene Locken. Damit war es zwar schon vorbei mit den Gemeinsamkeiten, denn der Junge hatte statt Sommersprossen eine Menge entzündeter Pickel um die Nase und die wasserblauen Augen. Das Gesicht war eher breit und kantig und hatte wenig von dem feinen Schnitt der Gesichter Konstantins und der Baronesse. Aber für den Zweck, den Peter ihm zugedacht hatte, reichte es aus, wenn die Ähnlichkeiten nur von weitem deutlich waren. Niemand sollte nahe genug an Bastian herankommen, dass im Detail die Unähnlichkeiten hervorstachen.

Sie gelangten in den ersten Momenten der Dämmerung an den Zaun. Peter suchte eine Stelle, an der man einen guten Überblick über den Garten hatte, vom Haus aus aber nicht gesehen werden konnte. Johanns Körperkraft reichte, um aus dem rostigen Gitter eine Stange herauszubrechen. Die entstandene Lücke war breit genug, um einen Austausch der schlanken Männer zu gewährleisten.

Danach hieß es warten. Peter suchte sich einen anderen Standpunkt, um einen besseren Blick auf das Gebäude zu haben. Im Herrenhaus flammten nach und nach Lichter in den Fenstern auf, und auf der Terrasse erschien ein Pinkerton, um eine Zigarette zu rauchen. Im Obergeschoss wurde ein Fenster geöffnet, und Peter erkannte die Gestalt des Barons, der im Nachthemd in der Öffnung stand und aufmerksam den Garten absuchte. Peter stellte sich vor den Stamm einer Birke, so dass der Baron ihn trotz der Düsternis im Wald erkennen musste. Tatsächlich stockte der Baron kurz, und Peter deutete in die Richtung, wo die anderen auf ihn warteten. Mit der Andeutung eines Nickens bedeutete Konstantin ihm, dass er verstanden hatte, und verschwand wieder im Zimmers.

„Dort hoch muss ich?“, hörte Peter eine Stimme hinter sich. Er verbarg sich hinter den Stämmen und sah Bastian an.

„Ja. Lass dir den Weg beschreiben, während ihr die Kleider tauscht.“ Peter zog den Jungen wieder zum Zaun und wartete.

Es dauerte nicht lange, da sahen sie Konstantin durch den Garten schlendern. Sofort sprang Johann auf, um nachzusehen, wo die Pinkerton-Agenten waren. Von seinem Standort gab er Peter ein Zeichen, dass sie sich weit entfernt hielten und die Luft rein war.

Konstantin lief weiter gemütlich den Weg an den äußersten Rabatten entlang, sah unbeteiligt zu einer Rose auf, wobei er prüfte, ob die Wache ihn verfolgte oder sehen konnte, und verschwand dann mit einer schnellen Bewegung im Gebüsch. Peter pfiff, um ihn zu der offenen Stelle im Zaun zu leiten, und der Baron schlüpfte wie ein Aal hindurch.

Einen Moment lang stand er mit verblüfftem Gesicht vor Bastian, dann lächelte er und wandte sich an Peter: „Als Elisabeth mich besuchte, habe ich nicht ganz verstanden, was Sie vorhaben, jetzt weiß ich es!“

Er entledigte sich seiner Kleidung und gab sie Sebastian, der sich ebenfalls entkleidet hatte. Der Hände des Jungen zitterten vor Aufregung, als er Konstantins Kleidung überstreifte und zur gleichen Zeit von diesem eine knappe Beschreibung der Örtlichkeiten bekam.

Jemand rief nach dem Baron, und Konstantin brüllte zurück: „Ja doch!“

Konstantin schob Bastian mit den Worten „Schnell, Junge, zurück auf den Weg und nach rechts. Durch die Flügeltür mit der Bleiverglasung. Ganz gemächlich, sie müssen dich nur sehen!“ durch den Zaun.

Bastian tat, wie ihm geheißen, und trat auf den Weg. Peter schlich weiter, um besser sehen zu können. Tatsächlich wandte sich der Pinkerton-Agent, kaum dass er die Gestalt auf dem Weg erkennen konnte, der Terrasse zu und rauchte weiter. Bastian lief langsam auf das Haus zu und verschwand in der angegebenen Tür. Der Agent reckte sich, um sehen zu können, was der vermeintliche Baron tat, schien aber keinerlei Verdacht zu schöpfen.

„Das hat geklappt“, kommentierte Konstantin, der sich in Bastians Klamotten zu Peter geschlichen hatte. Gemeinsam warteten sie auf ein Zeichen Bastians. Das Fenster, durch das Konstantin Ausschau gehalten hatte, öffnete sich erneut, und eine Hand glitt mit gehobenem Daumen für einen kurzen Augenblick durch den Spalt. „Wie weiter?“

Peter wies auf Johann. „Der nächste Teil ist seine Sache: unsere Reise zum Flugplatz. Die Ablenkungsmanöver will Paul organisieren, er kennt sich mit den, hm, Hilfsmitteln dafür inzwischen am besten aus. Aber davon später mehr. Wir müssen uns nur darum kümmern, wie wir an Bord der Pazuzu kommen. Möglichst unbemerkt und vor allen anderen!“

Konstantin runzelte belustigt die Stirn, wurde aber sofort wieder ernst. Mit Besorgnis sah Peter das fiebrige Glitzern in den Augen des Barons, das seine Blässe makaber unterstrich. Er wirkte wie ein lebendiger Toter. Peters prüfender Blick blieb Konstantin natürlich nicht verborgen, und er straffte sich bemüht.

„Ich schaffe das. Nur bin ich wahrscheinlich keine große Hilfe. Sie müssen mich führen, und scheuen Sie sich nicht, sollte ich mehr als nur einen Tritt in den Allerwertesten benötigen.“ Er drehte sich zu Johann um. „Auf! Wie kommen wir nach Kelsterbach?“

Johann führte seine kleine Gruppe zurück nach Wildsachsen, aber nicht zum Friedhof, sondern zu einem kleinen Waldstück an der Straße nach Breckenheim. Verborgen hinter dichten Schlehenhecken stand eine geschlossene Droschke mit zwei gesunden, kräftigen Pferden. Einer der anderen Männer, die Peter nicht kannte, holte Anzugjacke und Zylinder aus dem Wagen und zog sie an.

„Ich hab de Droschgelizenz für de Innenstadt!“, erklärte er knapp mit einem breiten Grinsen. „Bitte einzusteischen, eine hochwohlgeborene Dame hat die Tour hin und zurück schon vorab bezahlt!“

Konstantin sah den Mann verblüfft an. „Betty?“, fragte er, während er sich in den Font zog.

„Nee, des Frollein de Cassard hat mir die Botschaft und de Kohle überbracht!“, erwiderte der Mann schmunzelnd.

„Erkläre ich auf der Fahrt!“, lachte Peter und schob Konstantin ganz in die Kutsche. Johann und der zweite Mann setzten sich zu ihnen. So hofften sie, möglichst unbehelligt so nahe wie möglich an den Flugplatz heranzukommen.

Der Kutscher gab seinen Pferden die Peitsche und beeilte sich, die schlechten Straßen zwischen den kleinen Dörfern gegen die Hauptstraße einzutauschen. Die Männer in der Kutsche unterhielten sich angeregt, und Peter legte ihnen noch einmal seinen Plan dar, soweit er gewagt hatte, ihn detailliert auszuarbeiten. Alles Weitere, das sah auch Konstantin ein, war von der Situation vor Ort abhängig.

Über die Diskussionen ging die Fahrt schnell vorüber, und die Kutsche erreichte Kelsterbach. Auf dem Bahnhofsvorplatz war die Hölle los, viele Menschen schoben und drängten sich. Wenn Peter befürchtet hatte, dass die Polizei die Kutsche aufhalten und kontrollieren würde, so fielen diese Sorgen schnell von ihm ab. Die Polizei hatte genug damit zu tun, die Passagiere der ersten Klasse aus den Zügen von den vielen Schaulustigen aus den ärmeren Vierteln zu trennen. Vor allem mussten die Beamten aufpassen, um die Taschendiebe, die sich den Menschenauflauf zunutze machten, von ihrem Tagwerk abzuhalten. Nur einmal winkte ein Polizist, aber der Kutscher reagierte sofort, indem er seine Lizenz mit dem großen W hochhielt, die ihn als geprüften Fahrer aus Wiesbaden auswies. Wie von Peter erhofft, zählten Fahrgäste, die sich eine Droschkenfahrt von Wiesbaden nach Kelsterbach leisten konnten, nicht zu den Verdächtigen, die in den Augen der Beamten einer strengeren Prüfung bedurften. Unbehelligt kamen sie aus Kelsterbach heraus und näherten sich dem Luftschiffhafen.

Dort war es noch ruhig, nur auf der Straße zum Haupttor bewegten sich schon vereinzelte Grüppchen von Spaziergängern. Peter klopfte gegen die Wand der Kutsche zum Bock hin, und der Kutscher brachte seine Pferde neben einem Gebüsch zum Stehen. Johann und der andere Mann spähten zur Straßenseite hinaus, ohne die Vorhänge wegzuziehen, während Peter die Tür zum Gebüsch einen Spalt breit öffnete.

„Wie sieht’s aus?“, fragte er den Kutscher, der sich demonstrativ streckte und umsah.

„Jetzt raus!“

Peter packte Konstantins Handgelenk und zog ihn mit sich ins Gebüsch. Sofort schloss sich die Tür hinter ihnen, und die Pferde liefen ein paar Schritte weiter, als wären sie wegen irgendetwas erschrocken. Im nächsten Moment verließ Johann mit seinem Begleiter die Kutsche und mischte sich unter eine Gruppe Schaulustiger, während Peter den Baron weiter in den Wald zog.

Ein verwaister, ziemlich morscher Jägeransitz half ihm, sich einen Überblick zu verschaffen, denn man konnte von oben den Zaun des Flugfeldes sehen. Nur kurz verweilte er droben und sprang dann wieder hinunter. „Großaufgebot an Wachposten und Polizei, aber sie können nicht alles im Auge behalten. Schon gar nicht, wenn sie kein freies Feld mehr haben.“

Ohne weitere Erklärungen zog er Konstantin, der seltsam abwesend wirkte, mit sich. Sie kamen in die Nähe des kleinen Seiteneingangs, bei dem das Gestrüpp teilweise bis an den Zaun wuchs. Dort ließ Peter Konstantin einen Augenblick zurück und schlich näher heran. Auch an diesem Eingang war noch nicht viel los, aber ein paar Gruppen Besucher hatten sich schon eingefunden. Peter entdeckte Paul, der mit Katharina am Rand neben dem Wachhäuschen stand und auf jemanden zu warten schien. Paul trug einen gepflegten Gehrock und wirkte wie ein Bilderbuch-Dandy. Katharina hatte sich bei Paul untergehakt, und kein unbeteiligter Beobachter hätte in ihnen etwas anderes gesehen als ein frischgebackenes, glückliches Ehepaar aus der gehobenen Mittelschicht, das sich einen angenehmen Tag machte.

Katharina entdeckte Peter zuerst und machte Paul nach einem betont desinteressiert wirkenden Rundblick auf ihn aufmerksam. Paul tippte auf einen Zaunpfosten aus Beton und zeigte mit den Fingern einer Hand die Zahl 15 in Peters Richtung an. Peter nickte und verschwand wieder, während Paul sich mit Katharina aufs Flugfeld begab.

Es war Peter unrecht gewesen, dass Katharina auch auf das Fest wollte, weniger, weil sie als Tarnung für Paul dienen sollte und ihn Eifersucht plagte, weil die beiden sich gut verstanden, sondern weil er befürchtete, ihre Peiniger würden auch anwesend sein. Katharina hatte ihn beruhigt, sie würde keinem der Herren ins Gesicht springen, und war sicher, dass auch niemand von den Vergewaltigern aus der besseren Gesellschaft in ihr noch eine der Huren aus Kastel erkennen würde. Bei Ersterem war sich Peter nicht sicher gewesen, von Letzterem war er überzeugt.

Er hastete durch den Wald und zählte Zaunpfosten ab. Das Versteck war perfekt, denn an diesem Zaunstück wucherte eine Waldrebe, die nicht nur durch ihr dichtes Geschlinge von Ranken nahezu undurchsichtig war, sondern auch gerade üppig mit weißen Blüten und frischem Laub besetzt war. Direkt daneben war ein Loch in den Maschendraht geschnitten, und nicht weit entfernt lagerten mehrere Stapel Fracht in Lattenkisten, die ihm als Deckung dienen konnten. Unter den Ranken fand Peter zwei Kisten und zerrte sie hervor. Dann holte er Konstantin dazu.

„Wir schlüpfen jetzt durch den Zaun und sehen zu, dass wir in die Halle kommen, ohne gesehen zu werden. Ich hoffe, dass sich drinnen noch nicht so viele Leute aufhalten. Ich werde Sie ins Schiff begleiten, und dann sehen wir weiter. Wir müssen die Steuerung finden, und was dann geschieht, bleibt Ihnen überlassen. Ich mische mich nicht ein, ich will nur keine Opfer, die mit der Sache nichts zu tun haben“, erklärte er.

Konstantin nickte und starrte auf die Halle. „Was machen wir, wenn ich Valentin nicht erlösen kann? Wenn er mit dem Schiff untergehen muss?“

Peter öffnete die kleinere Kiste und reichte Konstantin zwei faustgroße Metallkugeln. „Wissen Sie, was das ist?“

„Handgranaten“, sagte Konstantin und starrte sie an wie eklige Insekten. Dann seufzte er. „Sie haben an alles gedacht.“

„Leider nicht, denn ein Problem konnte ich nicht lösen: wie wir das Schiff vernichten können, ohne dass die Halle dabei draufgeht und somit auch eine Menge Menschen.“

Konstantin lächelte geheimnisvoll. „Ich hatte viel Zeit, über solche Dinge nachzudenken, und seit ich vor der Tür des Labors stand und die Anwesenheit meines Bruders in meiner unmittelbaren Nähe spürte, weiß ich eines: Er kann das Schiff steuern. Wir werden die Pazuzu entführen, wenn es sein muss.“

Konstantins Zuversicht war ansteckend, und Peter lächelte erleichtert. „Dann jetzt zum schwierigen Teil der Sache: Wir müssen hin!“

Aus der größeren Kiste holte Peter zwei Rucksäcke, in denen jeweils sechs Röhren steckten, und stopfte sich die Manteltaschen mit Granaten voll. Konstantin nahm stirnrunzelnd einen der Rucksäcke, die seltsam zuckten und leise Geräusche von sich gaben. Auch er steckte Granaten ein.

„Was ist da drin?“

„Unsere Helfer zum Ablenken eventueller Wächter“, gab Peter grinsend zurück und schlüpfte durch den Zaun.

Konstantin folgte ihm und duckte sich unters Gesträuch. In einiger Entfernung liefen zwei Agenten an den Kistenstapeln vorbei und sahen sich gelangweilt um. Noch waren nicht so viele Besucher da, dass sie mehr Aufmerksamkeit von den Wächtern erforderten, aber die beiden Zaungäste mussten sichergehen, dass sie nicht bemerkt wurden. Als die beiden Agenten verschwunden waren, rannten sie los und duckten sich zwischen die Kistenstapel. Von dort hasteten sie zur Halle und verbargen sich hinter einem Stapel Gerüststangen.

Unweit ihres Standortes war ein Seitentürchen, vor dem ein uniformierter Wächter stand. Der Mann war aber nicht besonders aufmerksam und eher gelangweilt, da er noch nicht viel zu tun hatte. Peter zog zwei Röhren und eine kleine Schachtel aus Konstantins Rucksack. In der Schachtel waren kleine Brocken eines fürchterlich stinkenden Käses, von denen Peter zwei Stücke hinter dem Wachmann vorbeiwarf. Dann öffnete er die Röhren und zog sich weiter zurück.

Zwei entsetzlich entstellte, riesige Ratten wanden sich wie Schlangen aus den viel zu engen Röhren und schnupperten. Der Duft des Käses zog sie magisch an, und sie machten keinen Hehl aus ihrer Anwesenheit, als sie an dem Wächter vorbeiflitzten. Der Mann drehte sich erschrocken um. Ihm entfuhr ein leiser Schrei. Dann sah er sich um. Nicht weit entfernt schlenderte ein elegant gekleidetes Paar vorbei, und dem Mann war klar, dass er keine Panik verursachen durfte.

„Fantastisches Timing!“, flüsterte Konstantin. „Die kommen wie gerufen!“

„Die beiden sind gerufen. Das ist mein Bruder mit meiner Braut!“, gab Peter zurück.

Der Wächter zog seinen Schlagstock vom Gürtel und näherte sich den Ratten. Er zielte nicht richtig, sondern drosch wild auf das erste Tier ein. Er traf die Ratte am Rücken, aber sie schoss mit einem Quieken an der Wand entlang davon. Auch die andere Ratte, erschrocken über diesen Angriff, hetzte auf missgestalteten Pfoten weiter. Der Mann folgte den Tieren und versuchte, sie mit dem Schlagstock zu erwischen, was ihm bei der verkrüppelten zweiten Ratte auch gelang.

Peter und Konstantin schlüpften derweil ungestört in den schattigen Eingang und probierten die Tür. Sie war nicht abgeschlossen, und die beiden gelangten ungehindert ins Innere.

In der Halle war es finster, die kleinen Scheiben an der Decke ließen kaum Sonnenlicht durch, und der massige Schiffskörper warf groteske Schatten an die Wände, die nicht mehr so vollgestellt waren wie bei ihrem ersten Besuch. Die vordere Hallentür, durch die das Luftschiff später die Halle verlassen sollte, stand schon weit offen. Es sollte demnach nicht unspektakulär durch das Hallendach entschweben, sondern sich in voller Pracht und Schönheit langsam nach vorne durch das Hallentor präsentieren. Fähig, ohne eine Hundertschaft von Helfern an Seilen eigenständig aus der Halle zu fahren. Natürlich durfte kein Besucher in die Nähe der Tür kommen, das Gelände war weiträumig abgesperrt. Weit entfernt konnten die beiden ungebetenen Besucher der Halle die Festgäste sehen. Menschen aller Schichten, die sich aber nie vermischten, sondern immer für sich blieben. Dafür sorgte schon die große Zahl livrierter Diener und Leibwächter.

Das gewaltige Bauwerk, das sich wie eine gotische Kathedrale gen Himmel erhob und dessen Dach in weiter Ferne zu sein schien, führte bei Peter ebenso wie der gewaltige Leib des Luftschiffs zu Beklemmung. Er fühlte sich winzig und für einen Moment machtlos. Es erschien ihm mit einem Mal ein wahnsinniges Unterfangen.

Diesmal bewahrte Konstantin einen klaren Kopf und übernahm die Führung. „Kommen Sie! Valentin ist schon ins Schiff eingebaut, aber die Besatzung ist noch nicht an Bord. Wahrscheinlich ist der Luftschiffkapitän noch bei der feinen Gesellschaft und lässt sich hofieren. Er hat ja auch noch ein paar Stunden Zeit bis zu seinem großen Auftritt.“

Konstantin zog Peter mit sich zu einem Treppenlauf, der zu einer Plattform auf halber Höhe der Halle führte. Von dieser ragte ein wackeliger Steg zur Kabine des Schiffes hinüber. „Woher wissen Sie das?“, zischte Peter und sah sich aufmerksam um, ob sie nicht geradenwegs einer Wache in die Arme liefen, aber die Halle schien menschenleer zu sein.

„Valentin sagt es. An Bord werden beim Abflug nur der Kapitän, ein Offizier und ein Techniker sein. Keiner der drei ist bereits an Bord. Valentin muss es wissen, denn es ist niemand an der Steuerung zugange, die er überwachen soll. Allerdings kann auf der Kommandobrücke eine Wache sein. Das kann er nicht spüren.“

Peter sparte sich den Protest. Konstantins Aussage war zu fantastisch, um sie begreifen zu können. Dennoch vertraute er auf die Verbundenheit der Zwillinge und folgte Konstantin. Der Laufsteg wurde für ihn allerdings zur größeren Herausforderung, denn Peter war nicht ganz schwindelfrei. Lieber wäre er durch einen engen Kanal gekrochen, als so ins Schiff zu gelangen. Sein Blick folgte Konstantin, der über das Brett zur Kabine huschte und dort auf ihn wartete.

Konstantin wies mit den Fingern auf seine Augen, dann nach unten und schüttelte den Kopf. Peter begriff, dass er auf keinen Fall nach unten sehen durfte, während er den Steg passierte. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder, fixierte Konstantins Gesicht und lief so schnell es ging ebenfalls ins Schiff. Es waren nur wenige Schritte, aber sein Herz raste.

„Wohin jetzt?“, fragte er, als er den trügerisch festen Boden der Passagierkabine unter seinen Füßen spürte.

Konstantin legte den Finger auf die Lippen und zeigte nach oben. Was ihn beunruhigte, hörte Peter nach einem Augenblick der Stille genau. Jemand lief in den Räumen über ihnen hin und her.

„Meine Aufgabe!“ Peter nahm wieder eine Röhre und die Köderdose aus dem Rucksack. Er schlich zu einer Wendeltreppe, die nach oben führte. Vorsichtig lugte er über die letzte Stufe in den Flur und sah den Rücken eines Wachmannes in Uniform, der aus einem Fenster starrte und sich offensichtlich langweilte. Peter warf einen Köder und ließ die Ratte frei.

Das hastige Trippeln des Tieres entging dem Wächter nicht. Er drehte sich um und erstarrte, als er die Ratte sah, die genüsslich den stinkenden Käse verspeiste. Auch dieser Mann zog seinen Schlagstock, fiel aber nicht einfach über das Tier her, sondern schlich sich an. Als Peter sicher sein konnte, dass die ganze Aufmerksamkeit des Mannes dem Tier gehörte, eilte er mit zwei schnellen Schritten auf ihn zu und hieb ihm die Rattenröhre über den Kopf. Mit einem erstickten Laut sackte der Mann zusammen, und die Ratte floh in weiter entfernte Räume.

Konstantin kam die Treppe hoch, beachtete den Wachmann aber nicht, während er an Peter vorbei nach vorn hastete. Sein Blick hatte wieder etwas Abwesendes, als nähme er seine Umwelt nur wie durch Nebel wahr. Er ging einfach weiter, ohne auf Peter oder Gefahren durch weitere Wachmänner zu achten.

Peter sah sich hektisch um und entdeckte eine Gardine, die statt einer Tür die Räume trennte. Der Stoff interessierte ihn weniger als die lange Zugschnur. Er riss sie ab, fesselte den Wachmann und stopfte ihm sein Taschentuch in den Mund, da er davon ausging, dass die Betäubung des Schlages nicht lange anhalten würde. Dann folgte er Konstantin.

Vorne angekommen, gelangte Peter in einen Raum, der vollverglast war und ihn an die Brücke eines Schiffes erinnerte, wenn auch verdächtig wenige Hebel, Knöpfe, Räder und sonstiges Stellwerk vorhanden waren. Weniger jedenfalls, als er es sich bei einem Transportmittel wie einem Luftschiff vorgestellt hätte. Lediglich ein großes Pult war in der Mitte angebracht, ein glänzender Kasten aus Messing mit einem runden Fuß aus dem gleichen Material. Darauf waren ein gutes Dutzend Hebel und ebenso viele Knöpfe aus schwarzem Bakelit angebracht, die seltsam unbenutzt wirkten, aber nach Metallputzmitteln rochen. Vor dem Kasten erhob sich eine zierliche Säule, an der ein kleines, hölzernes Steuerrad angebracht war. Die einzige Reminiszenz an eine Schiffsbrücke, die in diesem leeren, sauberen Kapitänsstand noch blieb. Verblüfft sah sich Peter um, doch er konnte außer ein paar Anzeigen, auf die der Blick des Kapitäns gerichtet sein würde, wenn er am Steuerrad stand, keine weiteren technischen Einrichtungen erkennen. Einen Kompass und ein Barometer konnte Peter identifizieren, die anderen Anzeigen erkannte er nicht. Misstrauisch machte ihn eine Anzeige, die er schon einmal im Zusammenhang mit Elektrizität gesehen zu haben glaubte. Sogar diese unbeliebte Technik war Wallenfels nicht zu gefährlich.

Sonst war der Raum leer bis auf ein fein gearbeitetes, hölzernes Stehpult mit Schrank darunter, durch dessen verglaste Tür Peter einen Stapel zusammengerollter Karten erkannte. Der Navigationsstand mit einem Kasten, in dem wahrscheinlich ein Sextant und andere Instrumente lagen. Alles wirkte unfertig und klinisch sauber. So ähnlich stellte sich Peter einen Raum in einer Irrenanstalt vor, wo nichts die Patienten über Gebühr ablenken durfte.

„Konstantin?“, rief er gedämpft. „Wo sind Sie?“

Ein Schluchzen führte ihn in einen schmalen Gang, der vor einer massiv wirkenden Tür mit gläsernem Bullauge endete. Dort fand er Konstantin, das Gesicht ans Glas des Fensters gepresst. Ein Weinkrampf schüttelte seinen Körper.

„Ein geschlossenes System!“, sagte er gepresst und schluchzte erneut. „Ich komme nicht an ihn heran!“

Peter zog ihn sanft von dem Bullauge weg und warf über seine Schultern einen Blick in den Raum hinter der Tür. Er musste sich erst an das Zwielicht gewöhnen, um etwas zu erkennen. Doch dann weiteten sich seine Augen voller Entsetzen.

Eine Gaslampe erhellte mit seltsam kaltem Licht einen dicht mit Maschinen, Röhren, Ventilen und undefinierbaren Metallgeräten vollgestopften Raum, in dessen Mitte eine ungewöhnliche Liege installiert war. Auf dem schmalen, langen Bett, von dem zwei Seitenteile rechtwinklig abgingen, lag wie ein Gekreuzigter ein nackter Körper mit ausgestreckten Armen. In allen Gliedmaßen, in der Brust und in allen Öffnungen des Gesichtes steckten zahlreiche Schläuche und feine Röhren, so dass der zierliche Knabenkörper fast mit der Maschinerie verschmolz. Ein Geflecht aus hauchdünnen, glänzenden Röhrchen war über den kahlgeschorenen Schädel geschraubt, überall arbeiteten kleine Pumpen, und es zischte aus vielen winzigen Ventilen.

Ein Meisterwerk der Technik, aber auch unvorstellbares Grauen, das den Körper des Halbwüchsigen umgab. Die Haut war blass und wirkte wächsern, die Augen waren geschlossen. Außer dass sich der Brustkorb im Takt eines Blasebalges in einer Glasröhre direkt neben dem Kopf mechanisch hob und senkte, war kein Lebenszeichen zu erkennen.

Wut stieg in Peter auf. Wut auf Wallenfels, der seine Opfer nicht einmal in Frieden sterben lassen konnte. Selbst ein toter Körper war für ihn noch von Nutzen, wenn ein funktionierendes Gehirn darin ruhte. Der eigene Sohn, sein eigen Fleisch und Blut, bedeutete ihm nichts. Er hatte ihn großgezogen und nun, nachdem die Investition in seine Ausbildung durch den Unfall zum Fenster hinausgeworfen zu sein schien, sollte der Junge sich auf andere Art rechnen. Ein rein monetäres Denken, akribisch aufgerechnet wie von einem Lohnbuchhalter. Menschliche Werte schienen für Wallenfels nicht zu existieren. Sollte der Baron jemals so etwas wie Menschlichkeit besessen haben, dachte Peter, so hatte er diese mit seinen Körperteilen bei dem Unfall verloren und gegen blanken, kalten Stahl getauscht. Ein seelenloser Roboter, eine Maschine, mehr war Wallenfels nicht. Ein Mann mit einem Herzen aus Stahl. Oder war da mehr? Wenn der Baron seinen Sohn am Leben erhalten konnte, verdammt dazu, in einem nicht ausgewachsenen Körper seinen Verstand reifen zu lassen, was konnte er noch wollen? Der Schluss, der sich für Peter daraus ergab, ließ ihn vor Angst erschauern. Es schien, als suche der von einer Explosion gezeichnete Mann nach einer Formel für das ewige Leben.

Peter legte Konstantin den Arm um die Schultern und versuchte, ihn von der Tür wegzuziehen. Nach einigem Widerstand ließ Konstantin es zu. Seine Tränen versiegten, machten wilder Entschlossenheit Platz. „Dann muss die Pazuzu eben mit Valentin untergehen“, knurrte er und drückte sich an Peter vorbei zur Brücke.

Unschlüssig stand er vor den Instrumenten, dann lächelte er. „Ich kann es, mit Valentins Hilfe kann ich sie steuern. Hauen Sie ab. Sorgen Sie dafür, dass niemand versucht, mich aufzuhalten, und lassen Sie mir Ihre Granaten hier.“

Peter betrachtete Konstantin. Die durchgeistigte Abwesenheit war verschwunden. Konstantin war bereit, seinen letzten Weg zu gehen. „Wie kann ich den Wachmann hier rausbringen? Über den Steg kann ich ihn nicht schleppen.“

„Im untersten Geschoss ist ein Evakuierungskorb. Seilen Sie sich mit ihm ab. Aber beeilen Sie sich, viel Zeit bleibt nicht, bis die Besatzung kommt! Valentin kennt den Zeitplan.“

Peter legte seine Granaten aufs Pult vor dem Steuerrad und gab Konstantin die Hand. „Gute Reise ... Ihnen beiden!“ Dann eilte er davon, damit Konstantin nicht sehen konnte, wie tief ihn der Anblick des menschlichen Körpers in der Maschine getroffen hatte – und die Tränen nicht sah, die er nicht mehr zurückhalten konnte.

Der Wachmann war noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Peter fasste ihn unter den Achseln und schleifte ihn zu einer Freitreppe ins unterste Kabinengeschoss. Der Evakuierungskorb wirkte wie ein Bergwerksaufzug. Peter schob die Gittertüren auf, zerrte den Wächter hinein, schloss die Türen und betätigte den Hebel, mit dem man eine Klappe im Boden öffnen konnte. Langsam setzte sich der Korb in Bewegung und schlug hart auf dem Hallenboden auf. Peter schleppte den Mann heraus und ließ den Korb hochfahren.

Kaum hatte sich die Klappe geschlossen, wurde die Halle von einem ohrenbetäubenden Zischen erfüllt. Die automatischen Brennstoffzufuhren setzten die Turbinen unter Dampf, und die seitlichen Propellerchen sprangen an. Der gesamte massiv wie ein Berg erscheinende Rumpf des Luftgiganten erzitterte wie unter einem schweren Erdbeben und zerrte an seinen Verankerungen. Als Geschrei erklang, beeilte sich Peter, mit dem Wächter an den Rand der Halle zu kommen und sich hinter Kisten zu verbergen. Den Mann ließ er an die Wand gelehnt liegen und hastete zu einem Seitentor. Auf den Laufstegen über ihm tauchten Arbeiter auf und versuchten, an Bord zu gelangen, doch mit einem harten Ruck riss sich die Pazuzu von ihren Halteseilen und den Laufstegen los. Mit ohrenbetäubendem Knall rissen die letzten Haltetrossen, und die Laufstege stürzten auf den Hallenboden. Majestätisch schob sich der gewaltige, zigarrenförmige Körper auf das Hallentor zu, unaufhaltsam und bis auf das nervenzerfetzende Zischen der Dampfturbine nahezu lautlos. Die Propeller erzeugten allerdings einen schauerlichen Wind in der Halle, der alles mit sich riss, was nicht sehr schwer oder festgezurrt war. Ein majestätisch wirkender älterer Mann in Uniform rief die Männer auf den Laufstegen mit panisch gebellten Befehlen zurück. Peter verstand nur „Haupttriebwerk … tödlich … raus!“

Peter ließ sich das nicht zweimal sagen und schlüpfte durch die Tür ins Freie. Wie ein Aal schlängelte er sich geduckt hinter aufgewickelten Seilen und Kisten entlang zur Absperrung. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihm, dass die Pazuzu zu einem guten Drittel aus der Halle war. Unter ihr rannten Arbeiter planlos hin und her. Ein paar versuchten, herabhängende Trossen zu greifen, aber sie hatten keine Chance, das Schiff aufzuhalten. Auch sie wurden hastig zurückgeholt.

Die Besucher hielten das Spektakel für den offiziellen Beginn des Jungfernfluges und jubelten dem Luftschiff zu. Das Geschrei der Arbeiter und die Hoch-Rufe der Gäste gingen im Getöse des Haupttriebwerks des Schiffes unter, das am Heck angebracht war wie die Schiffschraube eines Ozeanriesen. Als dieser gewaltige Propeller ansprang, wurde die hintere Hallentür von dem irren Luftdruck mit Gewalt aufgesprengt. Das explosionsartige Geräusch des Hallentores ließ die Menge wieder verstummen, denn die zerstörten Türflügel machte wohl jedem Anwesenden klar, dass etwas nicht stimmte. Das Luftschiff schoss aus der Halle hervor wie eine jagende Muräne aus ihrer Unterwasserhöhle. Kaum hatte es das Tor hinter sich gelassen, hob sich das gewaltige Höhenruder hinter dem Heckpropeller, und das Luftschiff gewann an Höhe.

Fasziniert beobachtete Peter aus seinem Versteck heraus, wie das Luftschiff über die Wipfel der Bäume stieg, die den Flughafen umgaben. Immer höher, in Richtung Wiesbaden. Doch dann drehte es ab, und Peter wunderte sich, wie wenig Luftraum es dafür benötigte, fast als drehte es wie eine Eisenbahn vor dem Lokschuppen auf einem Teller. Die Pazuzu kam noch einmal zurück und schwebte über den Flughafen, verfolgt von den Blicken vieler hundert Augenpaare.

„Er fliegt zu den Kiesgruben ...“, murmelte Peter überrascht und bemerkte, dass er die Daumen gedrückt hielt.

Sein Versteck wurde zu unsicher, weil die Wachleute mit schweren Waffen über das Flugfeld hasteten. Die Pazuzu verschwand aus Peters Blickfeld, und er suchte nach einem Weg, sich unter die Schaulustigen zu mischen. Doch er kam nicht weg, und ein Trupp Pinkerton-Agenten näherte sich dem Kistenstapel.

Da entdeckte er Johann und Paul am Geländer und stellte sich so, dass sie ihn sehen konnten. Katharina tauchte bei Paul auf und entdeckte Peter in seiner prekären Situation. Johann und Paul sahen einander kurz an, griffen in ihre Jackentaschen und beeilten sich, ihre Position zu verlassen. Nur wenig später ging ein Schuppen mit einem Knall in Rauch und Feuer auf. Sofort waren alle Pinkerton-Agenten auf dem Weg dorthin. Katharina verwickelte die neben ihr stehenden Besucher in ein Gespräch und wies auf irgendeinen Punkt weiter entfernt. Eine Rauchschwade trieb im gleichen Moment auf Peter zu, und er nutzte die Gelegenheit, sein Versteck zu verlassen.

Außer Atem erreichte er Katharina. Auch Paul und Johann kehrten wieder zurück und grinsten übers ganze Gesicht. Gemeinsam liefen sie in aller Ruhe in Richtung der Pavillons, die der Gesellschaft des Barons vorbehalten und von Wachleuten abgeschirmt waren. Es drängte Peter und die anderen, einen Blick auf das Gesicht des Barons zu erhaschen.

Von der Pazuzu war nichts mehr zu sehen und zu hören. Doch plötzlich gab es einen höllischen Knall und eine Druckwelle, die die Kronen der Bäume am Rand des Flugfeldes beugte. Feuerschein und öliger Qualm stieg hinter dem Wald auf, die Pazuzu verging in einem gleißenden Fanal.

Katharina hatte die Hand vor den Mund gehoben, und Tränen kullerten über ihre Wangen. Johann stand starr mit vor Schreck geöffnetem Mund da, und auch aus seinen Augen rannen Tränen, liefen in breiten Bächen in seinen Bart. Paul sah Peter fragend an, doch der konnte seinen Blick nicht von der schwarzen Wolke über dem Wald lassen.

„Möge Gott euch gnädig sein und Pazuzu euch nicht mit in die Hölle nehmen!“, murmelte er, und ein seliges Lächeln erhellte sein Gesicht. „Der Dämon des Südostwindes kehrt in seine Fieberhölle zurück. Möge er einen Fluch über den Baron legen, der seine Söhne in den Tod getrieben hat.“

Paul seufzte. „Mit der Pazuzu vergeht auch eine Menge neuer Errungenschaften, die durchaus nützlich hätten sein können.“

Als er die überraschten Blicke seiner Begleiter sah, fügte er an: „Doch was ist das gegen die Rettung zweier armer Seelen, die für schändliche Dinge missbraucht wurden? Sie haben hoffentlich Erlösung gefunden. Wallenfels hat Grenzen überschritten, die mit nichts im Einklang standen, woran ein Mensch nur glauben kann. Er wird schon wieder auf die Beine kommen, so etwas kann seinem Einfluss nicht schaden, und die anderen Patente sind ihm ja sicher. Um ihn tut es mir nicht leid. Nur um die beiden Männer.“

„Sie werden als Engel über alle künftigen Himmelsstürmer wachen. Es wird weiter Luftschiffe und andere Fluggeräte geben. Die technische Entwicklung schreitet fort. Aber hoffentlich mit menschlichem Antlitz“, sagte Katharina tröstend. „Wir sollten die beiden in unsere Gebete einschließen und hoffen, dass die Gesellschaft erfährt, warum alles so geschehen musste. Damit niemand auf die Idee kommt, die Gesetze zum Schutz der Menschenwürde in Zweifel zu ziehen.“

„Was wird eigentlich aus Bastian?“, fragte Peter.

„Kaa Bang, der ist sicher schon auf dem Weg no Haus. Ich hab dem gesagt, er soll nach m Mittachesse verschwinde. Een Spaziergang mache und ford!“

Peter wandte sich von dem feurigen Fanal ab und sah zu den Pavillons hinüber. Ein besonders großes Zelt hatte eine Art Veranda mit Zaun. Dort stand ein Mann und starrte wie eine Statue auf den Wald. Sein rechter Arm blitzte in der Sonne metallisch, ebenso seine rechte Gesichtshälfte.

„Wir haben das Ziel erreicht. Die Zwillinge sind erlöst von ihren Qualen, und die Rache am Baron ist vollzogen, wenn er vielleicht auch noch nicht begreift, wer sich rächt und wofür, und es womöglich nie verstehen wird.“