Flucht aus der Gosse

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Paul kam am Abend nicht zurück, und Peter hatte auch kaum damit gerechnet. Ein fieses Grinsen zog sich um seine Mundwinkel, als er daran dachte, was sein Bruder wohl gerade trieb. Der Gedanke, dass er sich wissentlich als Kuppler betätigt hatte, focht ihn hingegen überhaupt nicht an.

Da gab es ganz andere Leute, Leute wie Baron von Wallenfels, der seine minderjährige Tochter einzig aus eigenen Machtinteressen mit dem wohl übelsten Heuchler der ganzen sogenannten feinen Gesellschaft verkuppelte. Ohne Rücksicht auf die Gefühle und das Lebensglück der schönen und intelligenten jungen Frau, die wahrlich Besseres verdient hatte. Etwas deutlich Besseres als einen schmierigen, untersetzten und deutlich zur Fettleibigkeit neigenden und schon bald haarlosen Mann mit Schweinsäuglein und schiefem Blick. Einen Mann, der ohne seine guten Verbindungen und seine Adelstitel nicht mehr Beachtung bei den Damen gefunden hätte als ein Pferdeapfel und der zudem einen äußerst verstörenden Charakter besaß. Aber das war es wohl, was Menschen wie die Baronesse statt Arbeit, Hunger und Krankheiten hinzunehmen hatten: die Sklaverei des hohen Standes. Nicht selbst entscheiden zu dürfen, wer als Lebensbegleiter angemessen war. Nicht frei wählen zu dürfen, sondern sich Konventionen unterzuordnen.

Peter spuckte auf das Straßenpflaster. Paul war ein erwachsener Mann, der selbst wusste, worauf er sich einließ. Dass er seinen Bruder in diese Richtung geschubst hatte, konnte man kaum als Kuppelei betrachten. Eher war es ein Tritt in den Hintern, damit er eine Chance nicht verpasste. Paul hatte ein Stück Glück bitter nötig, nachdem man ihn bis zum Hals in den Dreck gestoßen hatte. In Valerians Armen fand er vielleicht für eine Weile Vergessen.

„Auch hinter Pauls Elend steckt Wallenfels. Es war sein Architekturbüro, seine Baufirma, die diesen Pfusch gemacht hat, und es ist sein Chemiewerk, das die Ratten ausgespuckt hat. So langsam könnte man Hass auf ihn entwickeln. Worin hat dieser Mann eigentlich nicht die Finger? Sogar in der elendsten Form der Kuppelei – den Orgien im Haus seiner Eltern. Schön, dafür ist möglicherweise Heinrich verantwortlich, aber ob das ohne Wissen des Vaters geschieht? Kaum. Eher ist es ein perfider Plan, Leute ohne Rückfahrkarte ins Elend zu schicken oder fester an sich zu binden.“

Zu Fuß schlug er sich nach Kastel durch, um so wenigen Menschen wie nur möglich zu begegnen. Vor allem wollte er keinem seiner neuen Bekannten aus Biebrich über den Weg laufen. Auf dem Paulusplatz sah er sich missmutig um. Die Häuser waren früher von der besseren Sorte gewesen. Massive Ziegelbauten hatten einstmals die Facharbeiter der Werke am Rhein beherbergt. Inzwischen waren auch sie verfallen und zu Rattenlöchern geworden.

Wie aufs Stichwort sprang vor ihm eine Ratte aus einem Kellerfenster. Ein normales Tier, das sofort floh. Er atmete auf und vergewisserte sich, dass er die Flasche mit dem Jod dabeihatte. Er wollte jeder Gefahr aus dem Weg gehen. Auch der durch die Ratten.

Dass diese Gefahr sehr real war, wurde ihm bewusst, als er hinter einer Hausecke einen Schrei vernahm und vorsichtig nachsah, was vor sich ging. Ein kleiner Junge versuchte verzweifelt, sich einer riesigen Ratte zu erwehren, während seine Mutter hilflos danebenstand und nicht wusste, wie sie ihrem Kind helfen sollte. Das Tier hatte sich im Arm des Kindes verbissen. Peter sah sich um und fand einen Ziegelstein. Er packte ihn, sprang hinzu und griff der Ratte in den Nacken, die aber nicht losließ. Peter drückte das Tier zu Boden und schlug ihm mit aller Kraft den Ziegelstein auf den Kopf. Der Widerstand des Tieres erstarb, und Peter konnte die Kiefer aus dem Arm des Jungen lösen.

Die Mutter sprang hinzu und versuchte, die Blutung zu stoppen, aber Peter hielt sie zurück, als er sich daran erinnerte, was der Sektenführer zu den Vorsichtsmaßnahmen bei Rattenbissen gesagt hatte. „Lass es bluden, Frau, der Ratz hat vielleicht de Krankheit. Wenns noch blutet, gehts raus.“

Die verzweifelte Frau heulte mit ihrem Kind um die Wette. Peter packte sein Jod aus und träufelte davon etwas auf die Wunde. Der Kleine schrie noch mehr, weil es brannte, aber darauf achtete Peter nicht. „Jetzt kannsts verbinnen. Dürft nichts mehr drin sein.“

Dankbar sah ihn die arme Frau an, während Peter die Ratte am Schwanz packte und stirnrunzelnd in die Höhe hob. Das Tier war nicht ganz so groß wie die lebende Ratte im Käfig des Mannes bei der Sekte, aber größer als die aus Pauls Beschreibung, trotz zerschmettertem Schädel. Angewidert warf er den Kadaver in einen offenen Kanalschacht.

„Halt dich von denen fern. Sin kaa Schoßhündchen!“, empfahl er dem Jungen und tippte an seinen Mützenschirm, bevor er sich schleunigst aus dem Staub machte. Das Geschrei hatte sicher die gesamte Umgebung auf das Geschehen aufmerksam gemacht.

Dann wurde ihm schlagartig bewusst, dass etwas nicht stimmte. Trotz des guten Wetters waren extrem wenige Menschen unterwegs. Ihm kam es vor, als halte Kastel den Atem an. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Er musste auch nicht lange nach dem Grund forschen, denn er konnte ihn deutlich auf dem einzigen beleuchteten Platz von Kastel, dem Bahnhofsvorplatz, erkennen. Der Bahnhof war mit massiven Zäunen und Stacheldraht gesichert, und es gab zweifellos diverse Scheußlichkeiten modernster Waffentechnik, um die Anlage gegen massiveres Vorgehen zu verteidigen. Auf dem Dach war eine Batterie dünner Röhren angebracht, die Peter unschwer als Dampfdruckgewehre erkennen konnte, die Kugeln oder Pfeile wie aus einer Armbrust verschossen. Hinter den Zäunen gab es sicher Auslöser, verborgen im Gestrüpp und im Pflaster der Bahnsteige. Aber es bestand auch kein Grund, den Bahnhof zu betreten, denn Personenzüge hielten dort schon lange nicht mehr. Hier wurden nur noch Güterzüge abgefertigt. Zwei riesige Zugmaschinen rangierten im Licht vieler Gasbrenner. Die gewaltigen Brennkammern schickten Dampfwolken in die kühle Nachtluft, die den Vorplatz einhüllten wie der Nebel vom Fluss. Dieser Dunst bot ein gespenstisches Bühnenbild für das Drama vor dem Bahnhof.

Sie standen einander gegenüber wie Gladiatoren in einer Arena, bewegungs- und lautlos, so dass man sie zunächst gar nicht bemerkte. Auf der einen Seite der Fuchs und ein gutes Dutzend seiner Leute, auf der anderen ein dunkelhäutiger Hüne mit ebenso vielen Bundesgenossen. Noch standen sie zwanzig Schritt voneinander entfernt und läuteten das Schauspiel ein, indem sie einander unflätig beleidigten. Doch das würde sich bald ändern, das konnte Peter an den gereizten Mienen deutlich erkennen. Das Streitgespräch nahm immer mehr an Heftigkeit zu und erinnerte an ein Spiel mit festen Regeln.

Dieses Ritual erforderte Geduld. Entweder verlor eine Seite die Nerven und schickte ihre Kämpfer vorzeitig in die Schlacht, was nicht gerade zum Ansehen beitrug und meist in einer Niederlage mündete, oder aber einer von beiden erkannte eine Schwäche auf der anderen Seite und nutzte die an einem bestimmten Punkt aus. Wie auch immer diese Schlacht ausging, der Sieger würde die Führung übernehmen, der andere landete im Fluss.

Der Fuchs war schon lange im Geschäft und hatte daher schon eine ganze Reihe solcher Schlachten erlebt. Ihn herauszufordern war ein Risiko. Aber es gab immer jemanden, den die Macht und das Geld des Fuchses anzogen. Die Kunde von seiner Niederlage in Biebrich ließ Schwäche vermuten, denn es war in diesen Kreisen absolut unmöglich, so etwas zu verschweigen. Doch auch diesmal würde es sicher zu seinen Gunsten ausgehen, davon war Peter fest überzeugt. Der Fuchs blieb ruhig, während sein Gegner immer wütender wurde. Einer der Männer des Herausforderers wurde unruhig, und als er einen halben Schritt vortrat, war das wie ein Startschuss.

Die Gladiatoren stürmten aufeinander zu. Der Fuchs jedoch blieb, wo er war. Der Herausforderer kam nicht bis zu ihm durch, er rannte einem der Männer des Fuchses direkt ins offene Messer und krachte wie ein gefällter Baum vor dem Fuchs in den Dreck des Bahnhofsvorplatzes. Seine Männer zuckten zurück und nahmen die Beine in die Hand. Der Kampf war beendet, ehe er richtig begonnen hatte, und der Fuchs hatte keinen Finger gerührt. Dafür wurde er nun umso emsiger. Er trat auf den Toten zu und trat ihm in die Seite. Dann lachte er, breitete die Arme aus und forderte seine Männer auf, mit ihm eine Runde feiern zu gehen.

Sie zogen gen Kostheim ab, was Peter sehr erleichterte. Einerseits war er sicher, dass der Fuchs ihn nicht gesehen hatte, als er ihm den Zugriff auf Sanker entzogen hatte. Aber es war sicherer, wenn der Fuchs nicht in seinem Bau war, wenn er versuchte, etwas daraus zu stehlen.

Nachdem der Fuchs mit seinen Leuten in der Dunkelheit verschwunden war, eilte Peter zur Reduit. Er hastete über den Bahnhofsvorplatz, auf dem die Leiche des Herausforderers lag, als Mahnung oder Warnung für alle anderen. Niemand würde sich um den Toten kümmern oder ihn bestatten. Dafür sorgten die Ratten, die Totengräber dieser grausamen Gesellschaft.

Der Rhein hatte kaum Hochwasser, so kam Peter bis an die Pfeiler der Kaiserbrücker heran, um sich ein Bild zu verschaffen. Schilder, die die Rheinkilometer markierten, gab es schon lange nicht mehr, aber er wusste, dass der Marker 498,4 den Bootsanleger östlich der Brücke nach Mainz gekennzeichnet hatte.

Tatsächlich war in diesem Bereich eine Mauer mit einem Einstieg in die Tiefe, aus der zwei Männer stolperten, gefolgt von einem bulligen Kerl, der einem der Männer in den Hintern trat. Die beiden fluchten, machten sich aber davon, während Peter scheinbar ziellos auf den Zugang zu schlenderte.

„Was willst?“, schnauzte ihn der Mann an.

„Hab gehört, hier könnt mer sich amüsieren?“

„Haste Geld?“

„N bisschen“, brummelte Peter, griff in seine Manteltasche und zog einige Groschen und zwei halbe Silbermark heraus.

Der Mann grinste. „Dafür darfst dich hier amüsieren, auch mitten Weibern.“ Er trat zur Seite. „Bitte. Hier darfst alles.“

Peter tappte unsicher hinunter. Um eine plausible Erklärung zu bieten, bemühte er sich um einen schwankenden Gang, als habe er sich Mut angetrunken. Die Treppe führte von außen in einen Keller der Reduit. An ihrem Fuß wartete ein anderer Mann und streckte die Hand aus. Peter gab ihm sein Geld und wartete.

„Des reicht für alles – dafür bekommst Bier, soviel de willst, Drogen kannst ooch bekommen und n Weib darfst ebbe benutze wie du willst. Da lang.“ Der Mann ging ihm voraus eine weitere Treppe hinunter. Ein betäubender Fäkalgeruch umwehte Peter und seinen Führer durch die Unterwelt, und sie gelangten in einen Kanal, in dem das Abwasser wie ein Sturzbach rauschte. Auf einem schmalen Bord balancierten sie bis zu einem breiten Durchgang in andere Kellerräume. Die Ziegelwände des Kanals waren aufgebrochen und führten in ein Labyrinth kleinerer und größerer Räume und weiterer Kanäle. Betäubende Dunstschwaden hingen überall, eine widerwärtige Mischung aus Körpergerüchen, Fäkalien und Rauschmitteln. Peter begann, sich Sorgen zu machen, wie er an diesem Ort nüchtern bleiben konnte.

„Das also ist das Reich des Fuchses in der Unterwelt, wo er seine Mädchen verbrät, wenn sie für andere Aufgaben nicht mehr geeignet sind“, dachte Peter verblüfft. Es war ein großes Reich, viele emsige Hände hatten Kastel unterhöhlt, Keller und Kanäle miteinander verbunden. „Wie soll ich sie hier finden und vor allem, wie hier herausholen? Wenn mir das gelingt, dann nur mit Glück. Eine Odyssee durch dieses Labyrinth ist zum Scheitern verurteilt.“

„Hier gibts was zu saufen, da hinne gibts was zu rauchen, und Weiber kannst dir aussuchen. Wenn de eine willst, dann nimm sie dir. An Ort und Stelle oder in ihrem Loch“, erklärte der Mann mit einer ausladenden Handbewegung und verschwand, nachdem er einem dicken, schmierigen Kerl hinter einem roh gezimmerten Tresen ein Zeichen gegeben hatte.

Peter blieb unschlüssig stehen, bis der Kerl, der als Wirt fungierte, ihn heranwinkte und ihm einen Krug auf den Tresen knallte, eine Aufforderung, der er gern nachkam. Er lehnte sich an den Tresen, griff nach dem Bier und sah sich um. An groben Tischen aus Lattenkisten saßen grobschlächtige Kerle und kippten ein Bier nach dem anderen. Es gab sogar Musik, ein Mann spielte auf einer Mundharmonika getragene Melodien ohne Konzept. Qualm von billigem Tabak hing in der Luft, und Peter wollte wissen, wie viel sein Geld hier wert war. Er zog seine Pfeife hervor und hielt sie dem Wirt hin. „Haste was dafür?“

„Was willst? Nur Tabak oder was zum Durchziehe ragemischt?“

„Hm, erst mal nur Tabak, sonst kriech ich nachher kein hoch, wenn ich bei den Mädels bin“, gab er grinsend zurück, und der Wirt grinste ebenfalls mit seinem schadhaften Gebiss. Er reichte Peter einen Beutel.

Der Geruch des Tabaks war besser, als Peter befürchtet hatte. Offensichtlich wurden hier Männer mit einer gewissen Hochachtung betrachtet, wenn sie ihre gesamten Ersparnisse in diesem Etablissement verschleuderten. Er stopfte sich die Pfeife und griff dann zum Bier, um sich zu den anderen Männern zu gesellen, zumindest in ihre Nähe. Manche der Kerle stanken so, dass sogar die Kanalratten vor ihnen die Flucht ergriffen hätten. Sie schienen ziemlich frustriert zu sein. Den Grund erkannte Peter, als sich ein weibliches Wesen im Raum zeigte.

Zumindest etwas, das dieses Geschlecht innehatte.

Die Frau mit den fauligen Zähnen und der wenig weiblichen, verbrauchten Figur wurde trotz ihres unangenehmen Äußeren sofort von den Anwesenden mit großem Hallo begrüßt. Ein paar Mienen blieben aber finster, offensichtlich hatten diese Männer nicht den entsprechenden Obolus entrichten können, der nötig war, um wenigstens eine Frau dieser Art haben zu können. Im Schatten des Ganges sah Peter einen Mann, der hinter ihm stehenden Personen Anweisungen gab. Ein Finger mit schwarzem Nagel richtete sich auf Peter und dann mit einem Zeichen nach hinten, das Peter nicht verstand. Er vermutete, dass er damit auch für die besseren Mädchen freigegeben war.

„Hoffentlich ist sie dabei“, betete er innerlich. Er hatte sich längst eingestanden, dass er in die Frau, die Valerian so geschickt porträtiert hatte, verliebt war. Neben dem Wunsch, sie möge noch am Leben sein, keimte sofort auch die Befürchtung auf, man könne sie schon fertig gemacht haben. So sehr heruntergezogen, dass aus ihr eine ebenso hässliche Matrone wie die Frau geworden war, die als Erste in den Raum gekommen war. Die billige Nutte, die sich nun mit einem lallenden Lachen auf den Schoß eines Mannes fallen ließ. Bis über die Oberkante der Reste schwarzer Zähne in ihrem Unterkiefer zugedröhnt.

Andere Frauen kamen herein, aber sie gesellten sich nicht zu den Männern, sondern gingen erst einmal zum Tresen. Dabei bemühten sie sich um eine möglichst vorteilhafte Pose, obwohl ihnen Angst ins Gesicht geschrieben stand. Sie mussten das tun, um ihre Chancen auf einen Freier zu erhöhen, sonst würden sich ihre Bewacher an ihnen vergreifen. Wer nicht mehrfach benutzt wurde, der hatte seine Existenz verwirkt. Peter kannte die Regeln und hätte am liebsten alle Mädchen aus ihrem Elend befreit. Aber was sollte aus ihnen werden? Viele Augen waren trübe, der Ausdruck ihrer Gesichter trotz der Angst abgestumpft. Was immer die Kerle mit ihnen tun würden, es bedeutete Erlösung. Entweder starben sie im Rausch oder überlebten wenigstens den nächsten Tag ohne Prügel durch die Zuhälter, weil sie Geld eingebracht hatten.

Ein letztes Mädchen kam durch den Vorhang, der den Gang in ein weiteres Kellerloch verdeckte. Peter musste sich beherrschen, um nicht sofort aufzuspringen und zu ihr zu stürzen. Dass er trotz aller Selbstbeherrschung von ihrem Anblick wie vom Blitz getroffen zusammengezuckt war, konnte dem Zuhälter nicht entgangen sein. Er deutete es aber zu Peters Glück falsch, denn er hielt das Mädchen zurück und raunte ihr etwas zu. Daraufhin schritt sie mit einer gewissen Würde auf Peter zu, doch der Blick ihrer Augen war leer.

Peter versuchte, in seine Rolle zurückzufinden, und betrachtete sie abschätzig von Kopf bis Fuß. Sie blieb vor ihm stehen und drehte sich, wobei ihr das viel zu große Flatterkleid von den Schultern rutschte und mehr enthüllte als verbarg. Von den Kerlen, bei denen Peter saß, kamen abwertende Bemerkungen, was das Mädchen für ein Hungerhaken sei, nichts dran, an dem man sich festhalten konnte, aber Peter hörte nicht darauf.

„Genau mein Fall“, gab er zurück und winkte sie herrisch heran, während er das halbwegs schmackhafte Bier kippte.

Die Frau kam zu ihm, und er zog sie auf seinen Schoß. Mit einem Seitenblick auf die ältere Frau sagte er an seinen Tischnachbarn gewandt: „Sieht halbweschs gesund aus und hat noch alle Beißer in der Klappe.“

„Hast recht. Wo hasten des Geld für die gute Nutte her?“, gab der Alte zurück, der gierig auf den Ausschnitt des Mädchens in Peters Armen sah.

Peter zuckte die Achseln und machte eine unbestimmte Handbewegung, die der Alte nicht missverstehen konnte. Er deutete an, es jemandem entwendet zu haben.

„Wenn sie mir keine Arbeit geben, dann hol ichs mir eben so“, gab er auf das Grinsen des Alten gleichmütig zurück. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Mädchen zu.

Die Stimmung im Schankraum wurde durch die Anwesenheit der Frauen gelöster, auch wenn nach wie vor einige Männer frustriert schienen, dass sie an dem anschließenden Vergnügen mit den Mädchen keinen Anteil haben würden. Peter sah der Frau auf seinem Schoß in die Augen, die die Arme um seinen Hals geschlungen hatte und sich an ihn drückte. Alles geschah mechanisch, als sei sie eine Puppe mit Dampfantrieb, wie man sie auf Jahrmärkten bewundern konnte. Es waren eingeprügelte Verhaltensweisen, denn bei allem blieb sie völlig leidenschaftslos. Ihre auf dem Porträt so ausdrucksvollen grünen Augen waren glanzlos und verquollen. Die Pupillen waren geweitet, die Augäpfel rot. Das kastanienfarbene Haar hing wie Heu auf ihre Schultern, verfilzt und nur halbherzig frisiert. Im Gesicht und auf allen unbekleideten Hautstellen konnte er mit Puder überdeckte blaue Flecken erkennen. Die zarte Haut war von Narben und Pusteln übersät, das billige Parfüm überdeckte kaum den Geruch der Kanäle.

Aber sie lebte, und solange sie lebte, gab es Hoffnung, sie auch aus den Kanälen herauszuholen. Die körperlichen Wunden konnten heilen, die Drogen wieder aus ihrem Körper gespült werden. Es war eine qualvolle Prozedur, das wusste Peter, da man sie aber noch nicht so lange unter Drogen hielt, würde es nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Schlimmer wog, wenn sie sich bei ihren Freiern mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt hatte.

Der Wirt brachte Schnäpse für die Männer, die sich mit einer Frau vergnügen durften. Der Hochprozentige sollte die Herren ein bisschen mehr in Stimmung bringen, damit sie richtig über die Damen herfielen, doch Peter entsorgte den Inhalt unauffällig auf den Fußboden. Die Männer um ihn herum bemerkten es nicht, sie waren zu sehr damit beschäftigt, das Letzte für sich aus dieser Nacht herauszuholen, und die ersten verschwanden mit ihren Mädchen in dem Gang hinter dem Vorhang.

„Wo können mir zwei Hübsche uns amüsieren?“, fragte Peter das Mädchen lallend, als zeige der Schnaps Wirkung.

Sie rutschte von ihm herunter und zog ihn zu dem Gang. Aufmerksam registrierte Peter jedes Detail seiner Umgebung. Er wusste, dass er mit dem Mädchen nicht den Weg nehmen konnte, den er gekommen war, denn dort lauerten die Wachhunde des Fuchses. Die Frauen durften den Kanal sicher nicht verlassen. Aber die vielen Kanäle hinter dem Schankraum boten möglicherweise einen anderen Ausstieg. Von irgendwoher wehte ein leichter Hauch frischer Luft durch die Gänge, ohne den die Mädchen an diesem Ort sicher schon erstickt wären.

Katharina zog ihn an Nischen vorbei, in deren Düsternis lüsterne Geräusche verrieten, was hinter den Sackleinenvorhängen geschah. In einer davon brannte ein Kerzenstummel und verriet, dass sich die Männer dort mit ihren auserwählten Gespielinnen auf Decken vergnügten, die auf dem rohen Boden lagen. Die Kammern hatte man von einem trockengelegten Kanalschacht aus in die angrenzende Erde gegraben. Dann hatte man sie mit Holzplanken grob verschalt, damit die darin Befindlichen nicht verschüttet werden konnten, wenn der Boden des Schwemmlandes ins Rutschen kam. Vor allem wunderte es Peter, dass es in den Kammern trocken blieb, obwohl das Grundwasser nicht weit sein konnte.

Plötzlich konnte er sich einen Reim auf das beständige unterschwellige Wummern in den Gewölben machen. Es war ihm schon aufgefallen, als er an der Reduit in den Untergrund abgetaucht war. Es musste eine funktionstüchtige, große Dampfwasserpumpe geben, die im Dauerbetrieb die gesamte Gegend trocken hielt. Der Fuchs hielt seinen Bau sauber.

Beim Bau der Festung Maaraue hatte man mehrere solcher Pumpen installiert, um das Grundwasser und die ständigen Überschwemmungen aus den Gebäuden herauszuhalten. Die Schlote der Dampfkessel, die zum Betrieb dieser Pumpen nötig waren, hatten Ausmaße angenommen, die sie zu einem fragwürdigen Wahrzeichen des industriellen Wahnsinns stilisierten. Sie waren weithin sichtbar, höher als die Marktkirche. Auch in der Reduit hatte man kurz nach dem Bau eine solche Pumpe eingerichtet. Bislang war Peter davon ausgegangen, man habe sie mit Verlassen der Reduit wieder demontiert. Falsch gedacht …

Doch das Dröhnen der Pumpe warf neue Fragen auf. Der Unterhalt einer solchen Maschine war teuer und aufwändig. Die Unmengen Kohle, die ein solches Monstrum tagtäglich verbrauchte, konnte eigentlich nur beschafft werden, wenn man viel Geld hatte und einen Zugang zum Güterbahnhof – oder zum Freihafen Maaraue. Ein Ding der Unmöglichkeit für einen Kriminellen wie den Fuchs. Aber die Klärung dieser Fragen war nicht seine Aufgabe, daher verschob Peter sie auf ein anderes Mal.

„Wie ein Ameisenhaufen“, schoss es Peter durch den Kopf. „Ob die Kasteler wissen, was unter ihren Füßen vor sich geht und wie unsicher der Boden ist, auf denen ihre Häuser stehen? Ich könnte mir gut vorstellen, dass hier ein ums andere Mal der Boden wegbricht und auch ein Haus oben mit einstürzt.“

Das Mädchen drängte ihn in eine Kammer, die in einem besseren Zustand war als die Erdlöcher der anderen Frauen. Es war ein alter Aufstiegsschacht, den man nach oben mehrfach gesichert hatte. Im Licht der Öllampe, die dort rußig vor sich hin blakte, erkannte Peter ein Eisengitter, das man in die Schachtwände eingemauert hatte, und dass der Schachtdeckel zugeschweißt war, damit es nicht hineinregnete. Durch diesen Schacht war ein Entkommen unmöglich, und es erschien Peter auch zu früh, um einen Versuch zu wagen. Erst wenn alle richtig abgefüllt waren und sich mit ihren Weibern vergnügten, wurden die Wächter wahrscheinlich nachlässiger.

Katharina begann mit mechanischen Bewegungen, Peter zu entkleiden. Es war eine antrainierte Verhaltensweise, wie das Schöntun im Schankraum. Peter war nicht sicher, was er tun sollte. Einerseits drängte ihn alles, der Frau seiner Träume beizuwohnen. Doch in diesem Moment, an diesem Ort und in einem Geisteszustand, in dem sie unfähig war, sich über ihre Situation und ihre Gefühle klarzuwerden und frei zu entscheiden, wollte er es nicht. Auch wenn er sicher war, dass sie eigentlich nicht mitbekam, was mit ihr geschah, weil die Drogen ihren Verstand benebelten, hielt er es für keine gute Grundlage, wenn es ihnen gelingen sollte zu fliehen. Konnte er ihr noch guten Gewissens in die Augen sehen, wenn sie wieder gesund war, und vielleicht sogar um sie werben, und woran würde sie sich erinnern?

Sie forderte ihn nicht heraus und sah ihn nur verwirrt an, als er so gar nicht reagierte. Peter vermutete, dass bald einer der Zuhälter nach dem Rechten sehen würde, dann durfte er nicht mehr dastehen wie ein Ochse im Joch. Er nahm sie in den Arm, als habe er Angst, sie zu zerbrechen, und küsste sie. Ihren Mund drehte sie weg, wie man es einer Hure beibrachte, daher strich er mit seinen Lippen an ihren Wangen und dem Hals entlang immer tiefer, bis zum Ansatz ihre kleinen, festen Brüste.

Trotz der Örtlichkeiten und ihrer Situation schien sie seine Zärtlichkeiten mit einem Mal zu genießen, denn ihre Bewegungen hatten plötzlich nichts Puppenhaftes mehr. Ihre Hände strichen sanft über seinen nun halb entblößten Körper, und mit einer schlangenartigen Bewegung ihres Leibes half sie ihm, sie des Kleides vollständig zu entledigen. Nun lag sie nackt in seinen Armen, aber er hütete sich, über sie herzufallen wie ein wilder Stier, obwohl jede Faser seines Körpers danach schrie. Er hatte schon lange nicht mehr das Vergnügen des Beischlafs auskosten dürfen und begann, Paul zu bewundern und zu bedauern. Der musste sich länger als er selbst kasteien, weil es für ihn noch viel weniger Möglichkeiten gab, seinen Trieben freien Lauf zu lassen. Er begehrte Katharina, aber er hielt sich zurück, um keine unangenehmen Erinnerungen zu verursachen, die ihm später im Weg stehen würden. Sofern es ihm gelingen sollte, eines schönen Tages um sie freien zu können.

Er spürte ihren nackten Leib an seinem und liebkoste sie, küsste ihre Brüste und ihren Leib und fiel vor ihr auf die Knie. Sie stieß einen wohligen Seufzer aus, den sie so mit Sicherheit noch bei keinem ihrer Freier von sich gegeben hatte, und kraulte sein Haar, während er mit seinen Lippen an den Innenseiten ihrer Schenkel entlangfuhr. Unendlich langsam zog er sie zu sich hinunter und in seine Arme. Sie löste den Gürtel seiner Hose und fuhr mit der Hand hinein, um sein steifes Glied zu umfassen. Auch Peters Kehle entrang sich ein Seufzer, und er schloss die Augen, genoss das Ziehen in seinen Lenden und wünschte sich nichts sehnlicher, als es an einem anderen Ort als diesem stinkenden Moloch mit ihr zu treiben.

Katharina legte sich vor ihm auf die zerschlissenen Decken und zog seine Hose weiter herunter. Dabei ließ ihre Rechte nicht von seinem Glied ab. Peter glaubte, platzen zu müssen, wenn sie nicht aufhörte oder er sie einfach nahm. Da ihre Erregung auch zunahm und nicht nur gespielt war, drückte er ihre Schenkel auseinander und legte sich dazwischen. Es kostete ihn unendliche Kraft, nicht sofort in sie einzudringen, sondern sie weiterhin zu erregen, indem er ihre Brüste küsste und mit dem Finger über ihre Scham strich.

„Komm ...“, hauchte sie. „Ich bin bereit!“

Etwas in ihm gab nach, und der letzte Damm brach. Er glitt in sie, und sie schien mit ihm zu explodieren. Ihr Becken bewegte sich in seinem Rhythmus, und ihrer beider Stöhnen hallte durch den Kanal. Peter fühlte sich, als sauge sie ihm den Lebenssaft aus und lasse ihn als leere Hülle zurück. Genau so sank er schließlich keuchend neben ihr auf das harte Lager. Er war völlig erschöpft, aber auch zutiefst befriedigt und erfüllt. Bevor er es verhindern konnte, zog sie eine Decke über sich und ihn, und er schloss die Augen zu einem kurzen Schlaf.

Lange hatte diese Ruhe nicht gedauert, da war er sich sicher. Der Saft seiner Lenden verklebte sein Schamhaar, war aber noch nicht völlig eingetrocknet. Ein Schrei hatte ihn und seine Gespielin geweckt. Ein weiterer, schmerzerfüllter Schrei hallte durch den Kanal. Dann vernahmen sie laut und deutlich das Wort: „Ratten!“

Lautes Jammern folgte, es klatschte, als jemand der schreienden Frau eine gesalzene Ohrfeige verpasste. Sie ließ sich nicht beruhigen. „Die Bestie hat mich gebissen, sie war riesig“, konnte Peter unter Schluchzen deutlich vernehmen.

Dem folgten ein überraschter Ausruf und wildes Getümmel. Jemand versuchte wohl, mit einem Knüppel auf etwas einzuschlagen, traf aber immer nur Holz oder Stein. Peter sprang halbnackt auf und sah den Gang entlang. Dabei zog er seine Hose hoch, die ihm in den Kniekehlen schlabberte.

„Ist es eine von den Monsterratten?“, fragte die junge Frau hinter ihm mit fester Stimme.

Peter sah sie überrascht an. Tatsächlich hatten sich ihre Augen geklärt, und sie sah ihn fragend an. „Weißt du, wohin der Gang führt?“, fragte er und wies in die der Gaststube entgegengesetzte Richtung.

„In den Hauptsammler von Amöneburg. Es ist aber gefährlich, dorthin zu gehen.“

Peter sah zu dem Menschenauflauf im Schankraum. Weitere Schreie kamen vor dort, nicht nur von Frauen. „Eine ganze Rotte der Bestien!“, hörte Peter einen Mann jammern.

„Zieh dich an. Wir versuchen, dort rauszukommen! Alles konzentriert sich auf die Ratten. Wir können uns dieser Gefahr ebenfalls aussetzen, oder wir nutzen die Situation.“

„Warum soll ich mit dir gehen?“, fragte sie, tat aber, was er von ihr verlangt hatte, und streifte sich das schlecht sitzende Kleid über.

Peter raffte wortlos seine Kleidung zusammen und zog sich schnell an. Dann prüfte er den Inhalt seiner Manteltaschen und spähte erneut hinaus. „Die Luft ist rein. Die spielen alle mit den Ratten.“

Er packte sie am Arm und hastete mit ihr auf dem Bord entlang, so schnell es die Dunkelheit zuließ. Ihre Augen gewöhnten sich an die Düsternis, die nicht so allumfassend war, wie man gemeinhin annehmen durfte. Das Wasser und die Ziegelwände schienen Licht auszustrahlen, gerade so, als hätten sie das Sonnenlicht gespeichert, als sie sich noch an der Oberfläche befanden, und würden es nun langsam wieder abgeben.

„Weißt du, wo wir hinmüssen?“, wisperte das Mädchen hinter ihm.

„Ich habe keinen blassen Dunst, aber irgendwo muss es Schächte an die Oberfläche geben, die nicht zugeschweißt sind!“ Peter blieb stehen und zog Katharina mit sich in einen halb verfallenen Seitenschacht. Aus der Manteltasche förderte er ein Schnappmesser zutage und hielt es bereit, für den Fall, dass man sie entdeckte. In einer solchen Situation hatte er nicht die geringsten Skrupel, das Messer zu benutzen. Schließlich wäre die Alternative ihrer beider Ableben.

Stimmen kamen von vorn schnell näher. Eine Gruppe von fünf Männern hastete am Versteck der beiden vorbei. Die Männer unterhielten sich nicht, nur einer bellte ständig kurze Befehle, die der letzte Mann in der Reihe ebenso kurz und knapp beantwortete.

„Die Verstärkung zum Rattenjagen“, murmelte Peter und wartete noch einen Augenblick. Ihre Anwesenheit missfiel ihm, denn sie bedeutete, dass sich in ihrer Nähe noch ein Schlupfwinkel des Fuchses befand, in dem sich sehr wahrscheinlich noch weitere Männer aufhielten.

Sie kamen in einen Kanal, in dem das Wasser stärker floss und schlimmer stank. In ihn mündeten wie bei einem Y zwei Arme. Etwas weiter entfernt im ihnen zugewandten Arm des Kanals erhellte eine Grubenlampe die Ziegelmauer. Von dort waren die Männer gekommen, vor denen sie sich verborgen hatten. Der andere Arm lag in Dunkelheit.

„Da rüber!“, erklärte er dem Mädchen, das angefangen hatte zu zittern, obwohl es in den Kanälen seltsamerweise alles andere als kalt war. Peter ging davon aus, dass man die Abwärme und Abgase der Dampfpumpe in den Kanal leitete, damit dieser warm genug für seine Bewohner war. Dafür sprachen die nach Teer stinkenden Schwaden dichten Rauches, die an der Kanaldecke entlangzogen und das Atmen erschwerten. Katharinas Zittern schob er auf das Fehlen neuer Drogen. Er musste sich beeilen, wenn er sie vor dem Zusammenbruch in Sicherheit bringen wollte.

„Das ist gefährlich!“, flüsterte sie. „Das Wasser ist tief, da kann man nicht durch!“

Peter setzte sich und streckte den Fuß ins Wasser. Die Wassermassen hatten viel Kraft und rissen alles mit sich, aber der Kanal war nicht tief, er ging Peter nur bis in den Schritt. Sie hatte recht, gefährlich war es, aber sie mussten es versuchen. Er rutschte in das stinkende, schlammige Wasser und suchte mit den Füßen Halt. „Setz dich auf meine Schultern, ich trage dich!“

Erst schüttelte sie den Kopf, doch als sie einen weiteren Befehl durch den Kanal hallen hörte, beeilte sie sich, ihre Schenkel um Peters Hals zu klammern. Vorsichtig, Schritt für Schritt bewegte sich Peter wie eine Krabbe seitwärts in Richtung des gegenüberliegenden Kanalarmes.

Keine Sekunde zu früh setzte er Katharina auf dem Laufsteg ab und stemmte sich hoch, denn ein weiterer Trupp Männer kam aus dem Lichtschein in den Gang gehastet, schneller noch als ihre Vorgänger. „Diesen Gang bewachen sie sicher nicht. Sie haben euch Mädchen schließlich eingetrichtert, wie gefährlich er ist!“

Peter zog Katharina mit sich, die immer langsamer wurde. „Halte durch. Ich weiß, sie pumpen euch mit irgendetwas voll. Aber ich weiß nicht, ob ich dich lange schleppen kann.“

Doch ihre Kräfte verließen sie. Sie fiel mehr, als dass sie lief, und er setzte sie an die Wand des Kanals. „Geh ohne mich weiter, ich bin nur ein Klotz am Bein“, nuschelte sie, und ihr Kopf schwang hin und her wie an losen Marionettenfäden. Speichel lief ihr aus dem Mund, sie hatte ihre zitternden Glieder nicht unter Kontrolle.

„Warte hier! Ich gehe ein Stück weiter und versuche, einen Ausgang zu finden.“

Sie nickte, dann fiel ihr der Kopf auf die Brust, und ihre Arme sanken herab. Peter vergewisserte sich, dass sie sicher saß und nicht in den Kanal fallen konnte. Dann rannte er den Gang entlang, bis er einen Lichtschimmer vor sich sah. Vorsichtig ging er darauf zu, bis er die Ursache erkannte. Es war ein Schacht, auf dem ein rostiges Gitter lag, durch das trübes Licht in den Kanal fiel. Hastig kletterte er die Steigeisen hoch, lauschte, ob er etwas Verdächtiges hörte, und stemmte sich dann gegen das Gitter. Es knirschte, aber es saß nicht so fest, dass er es nicht anheben und wegschieben konnte. Er steckte seinen Kopf aus dem Schacht und hätte fast gelacht, als er erkannte, wo er sich befand. Er sah über sich die Stahlträger der Bahnbrücke in der Nähe der Frankenfurter Straße von Biebrich. An der Brücke befand sich eine Gaslampe, die das Licht erzeugte.

Vorsichtshalber zog er das Gitter wieder über den Schacht und eilte zurück. Sie kauerte noch immer an der Wand und schlief, aber sie war nicht mehr allein. Neben ihr saß eine große Ratte, deren Augen im Dunkeln leuchteten wie zwei Sterne. Sie hatte Katharina noch nichts getan, sondern lediglich den reglosen Körper beschnuppert. Nun wandte sie ihre Aufmerksamkeit Peter zu, der wieder sein Messer aus der Tasche geholt hatte. Als die Klinge mit einem scharfen Klicken aus dem Griff schoss und einrastete, sprang das Tier auf seine Kehle los. Peter hatte sie nicht aus den Augen gelassen, duckte sich und riss das Messer hoch. Die Ratte wurde aufgeschlitzt und landete im Wasser des Kanals.

Peter zögerte keinen Augenblick, lud sich die leblose Frau auf die Schulter und eilte den Gang entlang, so schnell ihn seine Füße mit der Last trugen. Steigeisen für Steigeisen stemmte er sich mühsam mit ihr hinaus.

Oben blieb er keuchend sitzen, seine Beine baumelten in den Schacht. Die frischere Luft bewirkte, dass Katharina wieder zu sich kam. Sie sah sich verwirrt um. „Wo sind wir? Sind wir raus?“

Peter nickte lächelnd. „Ja. Meinst du, du kannst ein Stück laufen? Wir müssen im Schutze der Dunkelheit noch wenigstens auf die andere Seite der Gleise kommen, bis zu einem Freund, der uns mit seinem Karren zu mir nach Hause fahren kann. In dem Aufzug können wir uns nicht mal bis an die Grenze zur Innenstadt wagen, ohne verhaftet zu werden.“

Sie sah ihn verwirrt an, nickte aber. „Ein Stück weit wird es gehen.“

Peter zog das Mädchen hoch und umfasste seine Hüfte, um sie zu stützen. Sie durchquerten die düstere Unterführung mehrerer Eisenbahntrassen. Mit ohrenbetäubendem Lärm ratterte Zug an Zug über sie hinweg. Peter fragte sich unwillkürlich, was diese Güterzüge in dieser ach so schrecklichen Krise, in der es keine Rohstoffe und angeblich auch kaum mehr nennenswerte Produktionen mehr gab, transportierten. Um sich wachzuhalten, zählte er die Waggons, deren Radreifen jedes Mal einen Knall erzeugten, wenn sie über eine Weiche am Ende der Brücke fuhren.

Weniger Wagen pro Zug, aber die gleiche Anzahl der Durchgänge, schätzte er und schnupperte in der Luft, weil nicht nur Ruß umherwaberte, sondern auch die an Weihrauch erinnernden Abgase von Äther.

Sie liefen ein Stück den Bahndamm entlang bis zu den ersten Arbeiterhäusern am östlichen Güterbahnhof. Trotz der frühen Morgenstunde herrschte dort schon reges Treiben, und Peter scheute sich nicht, an einem flachen Steinhaus anzuklopfen.

Ein alter Mann öffnete und strahlte, als er Peter sah. „Kleiner, was führt dich zu mir? Wie siehst aus? Seh schon, ich muss dich heimbringe. So kannst ja nicht in dein nobles Viertel laufen, und die jung Dame da wohl auch?“

„Genau darum wollte ich dich bitten, soll dein Schaden nicht sein. Es wäre das Letzte, sie ihrem Zuhälter entrissen zu haben, nur um sie der Polizei zu überlassen.“

„Klein Augenblick, ich spanne nur die alte Rosi an, könnt euch ja schon mal reinlegen.“

Der Alte wies auf einen Planwagen voller Kohle. Peter führte Katharina dorthin, hob sie hinein und wies sie an, sich unter den Kutschbock zu legen. Er selbst schmierte sich mit einem Stück Kohle die Kleidung voll und setzte sich zu dem Alten auf den Kutschbock. Peter vergewisserte sich noch, dass man die junge Frau nicht sehen konnte, und war erleichtert, als er feststellte, dass sie bereits schlief.