Erste Erkenntnisse
Peter gab nichts auf Träume. Für ihn waren es Hirngespinste, die man am besten vergaß, sobald man die Augen öffnete. Bisher war ihm das auch immer gelungen, weshalb er sich als ausgeglichenen Menschen betrachtete. Doch diesmal brachte ihm der Schlaf keine Erholung, und die Alpträume wirkten auch nach dem Erwachen noch fort.
Nachdem er eine Weile wie betäubt auf die Karten an seiner Pinnwand gestarrt hatte, war er in sein Schlafzimmer gegangen, um die verpasste Nachtruhe nachzuholen. Wie viel, oder besser: wie wenig Schlaf ihm vergönnt war, wurde ihm bewusst, als er schweißgebadet erwachte und auf den anachronistischen, ungenauen Wecker mit dem mechanischen Uhrwerk und den Messingschellen starrte. Mehr als zwei Stunden Ruhe hatten ihm die Alpträume nicht gegönnt, und er fühlte sich erschöpfter als zuvor. Verwirrt setzte er sich auf und begann sofort zu frieren, weil das Nachthemd nass geschwitzt am Leib klebte, als hätte er mit ihm im Regen gestanden.
Schnell riss er sich das Hemd über den Kopf und huschte ins Badezimmer, den einzigen Raum, in dem die Dampfdruckheizung den ganzen Tag lief. Jedenfalls sofern seine Mieter ihren Verpflichtungen nachkamen und im Keller regelmäßig den Brenner nachfüllten. Doch auch dort wurde ihm nicht warm. Aus einem Kohleneimer füllte er die Brennkammer des Badeofens und heizte Badewasser an. Als die Wanne volllief, füllte sich das Badezimmer schnell mit feuchtem Dunst. Peter saß noch immer die Kälte in den Knochen, die der Alptraum dort hineingepflanzt hatte.
Er hockte nackt auf dem Badewannenrand, die Arme um den Körper geschlungen, und starrte ins Leere, während seine Gedanken die letzten Erinnerungen an den Traum zu ordnen versuchten. Das meiste schwand bereits aus seinem Gedächtnis, aber ein paar Bilder blieben haften, und er hielt sie fest, um sie genauer zu betrachten.
Der Baron oder zumindest sein Kopf war am deutlichsten. Der Körper verschwamm im Dunkel, doch es war kein menschlicher, sondern der eines Oktopus mit acht mächtigen Armen, die in alle Richtungen griffen. Sie umfingen Fabriken und Menschen und zerstörten sie, während der Baron bösartig lachte.
„Er ist ein Krake, hat seine Tentakelfinger überall. Das ist bekannt“, murmelte Peter. „Ich habe genug darüber gelesen. Man bringt ihn zwar selten in Zusammenhang mit dem großen Elend, aber wenn man eins und eins zusammenzählt ... an der Stahlkrise ist er sicher nicht unschuldig, und wenn ich seine Beschreibungen des Luftschiffs richtig verstanden habe, ist er dabei, Alternativen zum guten alten Eisen zu finden, die ihn noch reicher machen werden, weil er ein Monopol darauf aufbaut. Hoffentlich ist die Alternative nicht schlimmer als der Stahl. Chemie … viel Gutes hat sie nicht gebracht.“
Ein anderes Bild war vage, kaum mehr als Schatten, aus denen sich der zigarrenförmige Körper eines Luftschiffes schälte. Das letzte Bild seines Traumes. Als das Schiff explodiert war, war er erwacht. Wenn man etwas von Sabotage an einem Luftschiff hörte, waren solche Assoziationen völlig normal, und doch wollte die Furcht nicht weichen. Um seiner inneren Kälte zu entkommen, glitt Peter in das heiße Wasser, ohne sich langsam daran zu gewöhnen. Ihm schwindelte sofort, weil sein Kreislauf diese Rosskur nicht hinnehmen konnte, aber der Schwindel vertrieb auch die düsteren Bilder. Mit ihnen schwand die Kälte, und er konnte sich endlich entspannen.
Aufatmend lehnte er sich zurück. „Vielleicht hätte ich den Auftrag besser ablehnen sollen. Ich fürchte, es ist mir zu hoch. Vielleicht kann ich ihm ja ein paar Informationen liefern und dann aussteigen. Sicher bekomme ich auch ein paar neue Erkenntnisse frei Haus, die mir in anderen Fällen weiterhelfen können.“
Die Erkenntnis, dass er mal wieder Selbstgespräche führte, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Paul hatte ihn immer so sonderbar angesehen, wenn er mal wieder seine Gedankengänge ausformulierte, anstatt sie nur in seinem Hirn zu wälzen. Aber er hatte so schon oft Fehler in eben jenen Gedankengängen entdeckt. Obwohl das Grübeln nicht ganz die erhoffte Beruhigung brachte, stieg er deutlich munterer und erfrischter aus der Badewanne. Während er sich rasierte, überlegte er, wie er weiter vorgehen sollte. Sein erster Gedanke war, Sonnemann aufzusuchen. Von seinem ehemaligen Vorgesetzten würde er vielleicht ein paar wichtige Details erfahren, schließlich hatte der ihm die Suppe auch eingebrockt.
Als er sich wieder selbst im Spiegel erkennen konnte, starrte er eine Weile sein Gegenüber an, das immer noch Ringe unter den Augen hatte. „Siehst aus wie einem Grabe entstiegen. Aber das wird sich nicht ändern, bevor du nicht weißt, was hinter diesem ganzen Auftrag steckt. Der Baron verschweigt dir etwas! Für diese Erkenntnis bedarf es keiner Hellseherei.“
Mit einem Ruck wandte er sich ab und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Ein Blick aus dem Fenster ließ ihn wissen, dass es noch immer regnete, das Wasser aber bereits klar war, ohne weiteren Schmutz aus der Luft. Der Wetterfrosch in seinem Kopf verkündete daher, das Unwetter werde bald enden. Trotzdem nahm er seinen zweiten Wachsmantel zur Hand, ehe er das Haus verließ, denn eine weitere Folge solcher Wetterwechsel war eiskalter Wind. Den eleganten Wachsmantel, denn in der Innenstadt würden ihn er ständig übereifrige Polizisten überprüfen, wenn er im Räuberzivil auftauchte. Auf die hohen Arbeiterstiefel wollte er allerdings nicht verzichten, denn angesichts des Zustands der Straßen waren sie sogar für die bessere Gesellschaft das einzig vernünftige Schuhwerk. Sofern die Herrschaften überhaupt das Haus verließen.
Mit tief ins Gesicht gezogenem Hut und hochgeschlagenem Kragen machte er sich auf den Weg. In der Moritzstraße erwischte er eine Dampfbahn, die ihn trockenen Fußes bis zum Michelsberg brachte. Als er an der Marktstraße ausstieg, ließ der Regen tatsächlich nach, und der Wind frischte auf. Mit einem Mal roch es nach Schnee, aber es war nicht zu erwarten, dass dieser auch wirklich fiel. Schon seit Jahren hatte man im Groß-Stadtkreis keine reine, weiße Schneeflocke mehr gesehen, das Äußerste war schmutziger Matsch.
Peter hastete durch die ältesten Teile der einstmals unbedeutenden Stadt, die nur durch ihre Thermalquellen zu Bedeutung gekommen war, die Marktstraße entlang zum Gebäude der Reichskriminalpolizei an der Ecke Friedrichstraße.
Vor dem protzigen Sandsteingebäude in der Nähe der Marktkirche, wo sich auch das Stadtschloss des hessen-nassauischen Herzogsgeschlechtes befand, herrschte wie immer ein großes Aufgebot an Fahrzeugen und Angehörigen der Polizei vor, das nahezu undurchdringlich schien. Ein älterer Polizist hielt Peter auch sofort an, als der auf eine Seitentür zulief, und blies sich gewaltig auf.
Peter rollte mit den Augen. Ihm gingen die unteren Ränge der Reichskriminalpolizei gehörig auf die Nerven, hielten sie sich doch für etwas Besseres als die Beamten der Gendarmerie.
„Sie haben hier keinen Zutritt!“, herrschte er Peter an.
„Wirklich? Ich glaube, Hauptkommissar Sonnemann ist da anderer Meinung. Wenn Sie die Güte hätten, ihn zu fragen, ob er bereit für ein kleines Gespräch mit Peter Langendorf ist …“, gab Peter giftig zurück.
Der Polizist machte keine Anstalten, mit dem Haustelefon eine Anfrage zu machen, sondern stellte sich nur breitbeinig in Peters Weg.
Peters Gesicht verfinsterte sich. Er wollte gerade unfreundlich werden, als ein weiterer Uniformierter erschien. „Peter? Schön, dich zu sehen!“
„Ganz meinerseits, Karl, aber könntest du bitte den Kettenhund wieder in den Zwinger bringen?“, grüßte Peter zurück und wies auf den Polizisten, der sich überrascht umgedreht hatte, weil er die Stimme offensichtlich kannte.
„Wachtmeister Hartmann – machen Sie, dass Sie hier verschwinden!“, herrschte Kriminalkommissar Goerdeler den Mann an. „Ihr Auftrag lautete, keine Unbefugten ins Gebäude zu lassen. Damit war aber nicht gemeint, dass Sie alle Bürger verjagen sollen, nur weil Ihnen die Nase nicht passt! Sagen Sie Schmitt, er soll Sie ablösen!“
Wie ein geprügelter Hund zog der Mann ab. Peter umarmte Goerdeler herzlich und dankte ihm für sein Eingreifen.
„Was führt dich denn an deine alte Wirkungsstätte? Willst du doch wieder einsteigen? Du weißt, wir können einen guten Schnüffler immer gebrauchen.“
„Du weißt, dass ich eurem Haufen abgeschworen habe, solange General von Reiffenberg Polizeipräsident des Groß-Stadtkreises ist. Da er leider noch immer keinem Herzinfarkt erlegen ist, werde ich weiter als Privatschnüffler arbeiten. So schlecht ist das nicht. Ist Sonnemann da? Ich müsste ihn wegen eines Auftrags belästigen. Die Sache hat einen gewaltigen Haken, den ich aber noch nicht zu fassen bekommen habe.“
„Sonnemann ist anwesend. Wir glauben, er schläft hier oder hat in seinem Büro Wurzeln geschlagen. Er wird aber keine Zeit für dich haben. Im Moment geht hier vieles drunter und drüber, vor allem, weil der Kaiser überraschend mit Hofstaat anrückt, angeblich um zu kuren. Normalerweise kommt er immer erst im Sommer. Da aber die Kaiserin nicht dabei ist und einige Staatsgäste aus aller Herren Länder ihr Kommen angekündigt haben, geht es bei dieser ‚Kur‘ wohl eher um ein paar Abkommen, die neu geschmiedet werden müssen, und um die Rohstoffkrise. Abgesehen davon habe ich gehört, dass die Rohstofftransporte aus den Kolonien verstärkt von Piraten bedroht werden und auch Eingeborene immer wieder versuchen, die Lieferungen zu sabotieren. Die Rede ist von Aufständen. Ich habe keinen Überblick und verstehe auch nicht, warum das ausgerechnet hier besprochen werden muss. Wir haben nur mehr Arbeit.
In Berlin sind sie solche Zusammenkünfte gewohnt. Da gibt es eine eigene Polizeieinheit, die nichts anderes zu tun hat, als auf Staatsgäste und den Kaiser aufzupassen. Wir haben dafür einfach nicht das Personal, und Sonnemann springt im Karree, weil es einen Anschlag auf einen hohen Diplomaten gab und der Tatverdächtige behauptet, Teil einer Gruppe zu sein, die dem Kaiser hier das Leben zur Hölle machen will. Viele glauben zwar, er sei nur ein armer Irrer, weil er auch von vergiftetem Thermalwasser faselt, andere aber halten eine groß angelegte Verschwörung durchaus für möglich“, erklärte Goerdeler geduldig.
Peter nahm diese Information aufmerksam auf und legte sie im Hinterkopf ab. Da er mit einer Sekte zu tun haben würde, von der er noch gar nichts wusste, nahm er Gerede von einer neuen Anarchistengruppe ernst. Es musste mit seinem Fall nichts zu tun haben, aber möglicherweise waren beide Gruppen identisch. „Ich muss es trotzdem versuchen, fünf Minuten reichen mir schon. Ich will nur wissen, ob er mehr weiß als ich.“
„Na schön, dann lass uns schauen, wo Sonnemann steckt.“
Peter folgte Goerdeler, der ihm in der Hierarchie der Reichskriminalpolizei nachgerückt war, als er drei Jahre zuvor den Dienst quittiert hatte. Goerdeler sprang in den Paternoster, Peter nahm die nächste der engen Kabinen und sprang im vierten Geschoss wieder hinaus, wo Karl auf ihn wartete. Man hatte die Räumlichkeiten seit seinem Weggang saniert und neu belegt, so dass Peter froh über die Führung war. Er hätte Sonnemann erst mühsam suchen müssen. Doch wo genau sich Sonnemann befand, brauchte er nicht zu fragen, denn der war deutlich in seiner schlimmsten Stimmung zu vernehmen.
„… und wenn ihm nicht einmal das gelingt, dann will ich seinen Arsch auf einem silbernen Tablett. Mit einem Apfel in der Spalte!“, brüllte ein wohlbekannter Bass zwei Türen weiter. Die Tonlage Sonnemanns ließ Türen vibrieren und Fenster klirren. Aus dem Büro kam ein junger Mann rückwärts heraus. Die blauen Augen stachen aus dem blassen Gesicht hervor, als wollten sie aus den Höhlen fallen.
Peter sah zu Goerdeler, der grinsend die Achseln zuckte. „Wie immer in Hochform, der Alte“, flüsterte Peter.
„Gebe Gott, dass er seine Stimme nie verliert!“, gab Goerdeler leise zurück. In der Stille nach dem Ausbruch trug sein Flüstern aber weit genug.
„Das habe ich gehört, Goerdeler!“, tönte es aus dem Büro, und Sonnemann erschien im Türrahmen. Sein Gesicht war hochrot angelaufen, und er wirkte derart angespannt, dass man befürchten musste, er würde im nächsten Augenblick explodieren. Doch dann fiel der Blick seiner kleinen Augen auf Peter, und er ließ deutlich Luft ab.
„Ich will keinen von euch Pennern hier mehr in der Nähe meines Büros sehen. Allesamt. Peter, komm rein. Bin dir eine Erklärung schuldig.“
Peter reichte Goerdeler die Hand, als Sonnemann wieder vom Flur verschwunden war, und grinste. Dem jungen Polizisten, der immer noch blass vor der Tür stand, klopfte er aufmunternd auf die Schulter. „Wenn Sie nicht der Grund für den Ausbruch sind, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen! Tun Sie nur, was man Ihnen gesagt hat ... auch das mit dem Arsch“, raunte er grinsend und betrat das Vorzimmer von Sonnemanns Büro.
Sonnemanns Sekretärin saß hinter ihrem Schreibtisch und hackte mit stoischer Ruhe auf einer wuchtigen Dampfschreibmaschine herum. Es war so still, dass man nur noch das sachte Zischen der dampfunterstützten Typen der Schreibmaschine vernahm. Die Sekretärin würdigte Peter keines Blickes, hatte ihn aber durchaus registriert.
„Einen wunderschönen guten Tag, Fräulein Kaltwasser“, grüßte er sie mit einer knappen Verbeugung und einem schmeichlerischen Tonfall, wobei er sich den Hut vom Kopf zog. Das brachte ihm einen huldvollen Blick ein. Peter hatte gelernt, mit ihr umzugehen. Eine alte Jungfer par excellence.
„Vergeude deinen Charme nicht bei Helene!“, ordnete Sonnemann an.
Peter beeilte sich, zu ihm in das geräumige Büro zu gelangen und die Tür zu schließen.
Sonnemann ließ sich auf seinen wuchtigen Schreibtischstuhl fallen und wies auf den Stuhl ihm gegenüber. „Der Baron hat dir einen Auftrag erteilt. War er selbst bei dir oder nur einer seiner Stiefellecker?“
Peter setzte sich. „Er selbst. In aller Frühe, als ich aus Biebrich zurückkam. War heute leider erfolglos mit meiner Diebesjagd, das Wetter hat alle in ihren Löchern festgehalten.“
„Möge das Wetter die Ratten allesamt in ihren Löchern ersäufen!“, brummte Sonnemann. Es klang verbittert, aber gegenüber Peter ließ er sich zu solchen Dingen hinreißen, weil er sicher sein konnte, dass der verstand, dass er es nicht halb so brutal meinte, wie es klang. Auch Sonnemann dauerten die armen Menschen, die für ihre Leiden nicht die Verantwortung trugen und aus Not zu Verbrechern wurden.
Die beiden Männer waren trotz ihres ursprünglichen Rangunterschiedes per du, weil Peter Sonnemann einst bei einer Hausdurchsuchung, die in einer Schießerei endete, das Leben gerettet hatte. Zudem waren sie ein eingespieltes Team gewesen, das sich ohne Worte blind verstanden hatte. „Ich wünschte, du würdest wieder direkt in unserem Auftrag arbeiten.“
„Keine Chance …“
„Von Reiffenberg, ich weiß. Wenn es nur an diesem Herrn liegt, dann besteht ja Hoffnung!“
Peter horchte auf. „Wie das?“
Sonnemann zuckte die Achseln. „Der General säuft sich gerade zu Tode, und beim Kaiser ist er in Ungnade gefallen. Soll ziemlich ... angeheitert gewesen sein bei der letzten Audienz. Gerüchten zufolge war er sternhagelvoll. Warum er sich so gehen lässt, weiß niemand. Dafür wird das Gerede lauter, es krisele in seiner arrangierten Ehe. Was da zuerst war, Ei oder Huhn, das bleibt den Spekulationen der Zeitungsschmierfinken überlassen. Die Rede ist von Seitensprüngen seiner Frau. Was ich sogar verstehen kann. Hübsches Ding, zu schade für den alten Affen. Die Affäre soll auch erst angefangen haben, nachdem er sie im Suff verprügelt hat. Wenn er so weitermacht, können wir dich bald zwangsverpflichten.“
Diese Nachricht war Balsam auf Peters Seele. „Wenn er abspringt, springe ich wieder auf, das hatte ich ja versprochen. Aber jetzt zu der anderen Sache. Warum hast du den Baron an mich verwiesen? Ich soll zwar bald den Bericht der Pinkertons kriegen, aber mein kleines Männchen im Kopf sagt, an der Sache ist was faul.“
„Dein Männchen könntest du mir gelegentlich ausleihen. Manche Leute hier haben einen Ratgeber dringend nötig. Von den Pinkertons wirst du nicht viel bekommen. Deren Ermittlungen machen an der Bahnlinie zwischen Wiesbaden und Biebrich halt. Was darüber hinausgeht … mein Gott, da könnte man sich ja die Finger schmutzig machen. Ich bin sicher, von denen ist keiner jemals auch nur in Spuckweite an den Rhein oder den Main herangekommen. Im Rheingau eventuell. Aber du kennst das Spiel ja.
Was faul? Ganz im Vertrauen – bei den Geschäften des Barons ist immer etwas faul. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass an den Händen des Barons so viel Blut und Dreck klebt, dass man ganz Sonnenberg damit verschütten könnte. Die kleinen Gauner aus Kastel sind mir da lieber. Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat, aber bei mir hat er nicht viel durchsickern lassen. Ich kann dir nur ein paar Dinge berichten, die ich aus anderen Quellen habe.“
„Fang an. Mich interessiert vor allem, was du über dieses Luftschiffprojekt weißt, was daran so ungewöhnlich ist, dass so viele es zerstören wollen, und was es mit dieser Sekte auf sich hat.“
Sonnemann lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Dieses Verhalten kannte Peter. Es bedeutete, dass alles, was von nun an aus seinem Mund kam, unter Vorbehalt stand. Es waren Fakten, die er mit eigenen Vermutungen zu einem großen Ganzen zusammengefügt hatte. Da Peter aber um Sonnemanns Überblick bei großen Zusammenhängen wusste, lag der Hauptkommissar mit seinen Vermutungen selten völlig daneben.
„Über das Luftschiff dringt nichts durch. Natürlich kann man davon ausgehen, dass er Angst vor Werksspionen hat. Es soll neue Werkstoffe enthalten, die der Rohstoffkrise geschuldet sind. Kein Stahl mehr. Dazu ein neuer Kesselantrieb, natürlich Äther. Eine neue Form der Lastaufnahme soll er ebenfalls entwickelt haben, um große Dinge flexibler transportieren zu können. Ein ganzer Stall voller neuer Patente, auch wenn es manche Dinge schon gab. Sie sind nur ausgefeilter.
Um die neue Steuerung wird großes Tamtam gemacht, und da gibt es wieder so ein großes rotes Fragezeichen. Was das für eine Erfindung sein soll, weiß ich nicht, aber irgendwas scheint durchgedrungen zu sein, das manche Leute stört. Irgendwas Ungesetzliches, aber was an einer Maschine ungesetzlich sein soll – frag mich nicht. Man munkelt, der Baron habe die Pleite der Luftschiffingenieure noch forciert, deren Gesellschaft er später aufgekauft und die Teilhaber ausbezahlt hat. Auch der Tod des Geschäftsführers, der nicht für den Baron weiterarbeiten wollte, ist ungeklärt. Es sah wie ein Unfall aus – war aber sicher keiner. Für mich sieht es eher aus, als wäre da jemand zum Schweigen gebracht worden, und der Gerichtsmediziner ist der gleichen Ansicht, allerdings kann er mir keine stichhaltigen Beweise liefern, die auf einen Mord hinweisen und vor Gericht Bestand hätten. Abgesehen davon: Wen sollte ich dem Gericht denn als Mörder oder Auftraggeber präsentieren? Die anderen halten den Mund, man spürt, wie eingeschüchtert sie sind.
Ich kann dir eine Liste der Leute geben, die mit dem Luftschiff zu tun haben, aber es wird dir nicht gelingen, auch nur einen davon zum Reden zu bringen. Alle haben Angst. Wenn irgendwas durchsickert, wird der, der geredet hat, per Rufmord mundtot gemacht und kann in die Gosse verschwinden. Dort wird er bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verbleiben, denn er wird nirgendwo mehr Fuß fassen. Sogar die Konkurrenz fürchtet derart verbranntes Menschenmaterial und wagt nicht, sie anzustellen.
Bei Wallenfels paart sich Geld mit Macht. Er hat sie alle in der Tasche. Angeblich hat sogar der Kaiser bei ihm Schulden. Obwohl, was heißt hier angeblich? Bei welchem Reichen in diesem Land hat der Kaiser keine Schulden? Diese Herrschaften, Hochadel, Geld- genau wie Wirtschaftsadel, sie haben unser Staatsoberhaupt in der Hand. So viel zu einer unabhängigen Regierung. Aber ich schweife schon wieder in die Politik ab. Das ist nicht mein Metier.“
Sonnemann verfiel in brütendes Schweigen, aber Peter drängte ihn nicht. Er wusste, dass er gleich noch mehr hören würde, und zog derweil seine eigenen Schlüsse. Peter war sicher, dass man bei einer Person wie von Wallenfels niemals eine Sache von der großen, umfassenden politischen Bühne trennen konnte. Alles, was der Mann tat, beeinflusste das politische Tagesgeschäft. Mal unbemerkt, mal mit einem Paukenschlag.
„Diese Sekte …“, fuhr Sonnenmann schließlich fort, „nun, ich habe dem Baron zwar gesagt, sie sei unbekannt, aber das bezog sich nur auf ihre Wirkung nach außen. Nicht darauf, dass wir sie nicht kennen und beobachten. Hast du dir wahrscheinlich schon gedacht. Zeitweise gab es Rangeleien zwischen den Polizeibehörden, wer denn nun zuständig sei bei der Beobachtung einer neuen Gruppe, die möglicherweise anarchistische Tendenzen hat. Wir sollten es machen, sahen aber keine Veranlassung, weil kein Gewaltverbrechen zu erkennen war. Die Ordnungsbehörde sah sich überfordert, und den Geheimen war da noch nicht genug Substanz. Die Gruppe existiert schon lange. Die Wirkung ihrer in kurzen Abständen aufeinander folgenden Anführer war sehr unterschiedlich. Der Gründer ist ein verwirrter katholischer Priester, der die Verbindungen seiner Kirche mit den Reichen und Mächtigen anprangerte. Er fing nach dem Krieg 70/71 damit an, in dem er als Kompaniegeistlicher gedient haben soll. Vielleicht haben ihm die Granaten, die ihm da um die Ohren flogen, das Gehirn vernebelt. Danach wurde er eine Art neuzeitlicher heiliger Franz, jedenfalls betrachtete er sich als solcher und predigte ein Leben in Armut als das einzig Gottes Gnade würdige Leben. Keine Ahnung, ob er noch lebt. Ist aber möglich, denn er war noch nicht sehr alt, als er mit seiner Missionierung begann, gerade mal Ende zwanzig. Die Kirche hat ihn exkommuniziert und einfach mit Schweigen und Verachtung gestraft. Von da kommt nichts nach, die Kuttenbrunser wissen nicht, was aus ihm geworden ist. Natürlich hatte er unter den Armen Zulauf.
Dann kam ein aus dem Gefängnis entlassener Kommunist dazu, der wortgewaltig gegen die Reichen anredete und damit auch Zuhörer fand. Alles blieb harmlos, weil den Worten keine Taten folgten. Deshalb verloren die beiden Agitatoren bald wieder Anhänger, weil sich nichts an der Situation änderte. Wir hatten immer ein Auge auf die Leute. Sahen Anhänger und Anführer kommen und gehen. Der Kommunist ist tot, er wollte zur Tat schreiten, aber seine Bombe ging mit seiner Hinterhofwerkstatt und ihm selbst hoch. Wir haben lange nichts mehr von Lebenslicht gehört, und zwei Jahre lang war nicht einmal mehr ein Flugblatt im Umlauf. Aber jetzt hat sich jemand der Sekte angenommen und baut sie neu auf – und ist in einen Untergrund gegangen, in den wir ihm nicht mehr folgen können. Die alte ‚Sekte‘ war immer greifbar, das ist sie jetzt nicht mehr.
Der Name stand jedenfalls unter einem ominösen Flugblatt, das du sicher von den Pinkertons bekommen wirst. Was sie wollen, ist unklar, aber eines ist sicher: Sie kennen unsere Strukturen und wissen, wie sie sich unserer Beobachtung entziehen können. Das ist mein Hauptproblem, denn die erste Vermutung des lieben Barons war natürlich, dass jemand von denen Kontakte zu uns unterhält und immer wieder gewarnt wird. Als würde ich einen Spion bei mir dulden! Sobald sich da etwas abzeichnet, kann sich der Betreffende warm anziehen. Aber da ist nichts.
Hauptaugenmerk der neuen Sekte scheinen die Umtriebe des Barons zu sein, und da kommst du ins Spiel. Die Sekte ist irgendwo ganz unten und versteckt sich, wo keiner von uns stochern kann oder mag.
Noch was. Aber das muss nun wirklich komplett unter uns bleiben, du weißt von nichts, klar? Der Baron deutete an, aus seiner eigenen Familie käme Gegenwind, er könne nur noch nicht bestimmen, aus welcher Richtung. Aus dieser Ecke sollen auch die finanziellen Mittel der Sekte kommen. Aber da wollte er selbst einen Riegel vorschieben. Als er das sagte, bekam ich wirklich Angst. Wenn er rausbekommt, wer aus seiner Sippschaft in der Mannschaft seiner Gegner mitspielt, dann Gnade Gott dem armen Kerl.“
Peter hatte schweigend zugehört, während sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Der letzte Hinweis war für ihn von höchster Wichtigkeit, aber er schob ihn in den hintersten Winkel seiner Ablage von Details. „Das verstehe ich. Mir war auch nicht wohl, als ich ihm gegenübersaß. Dieser Mann hat kein Herz.“
Sonnemann lachte freudlos. „Das kannst du laut sagen. Ich mag ihn nicht, für mich ist er nicht besser als seine Maschinen. Ich frage mich, wie seine Familie es mit ihm aushält. Seine Frau ist so ein nettes Wesen, seine Töchter sind die Königinnen jedes Ballsaals, selbst die Kleine, die eigentlich noch ein Kind ist. Seine Söhne waren auch ganz in Ordnung. Der Älteste, Heinrich, kommt inzwischen aber ganz nach dem Baron. Ist genauso eiskalt und sieht ihm auch sehr ähnlich, fast wie eine jüngere Ausgabe des Alten. Der jüngere, Konstantin, ist seltsam. Der hat sich immer mehr zurückgezogen, seit sein Zwillingsbruder vor ein paar Jahren bei einem Unfall ums Leben kam. Seitdem scheint die Familie langsam, aber sicher zu zerbrechen. Sie zeigt sich zwar noch zu jedem Anlass zusammen, aber es scheint immer eine Mauer zwischen den Beteiligten zu schweben. Eine unsichtbare Grenze, die der Baron nicht mehr zu überschreiten in der Lage ist. Das habe ich auf dem letzten Polizeiball so empfunden. Ich hatte noch versucht, etwas herauszufinden, und es geschafft, die Baronin zu einem Tanz zu bewegen. Aber da ist Schweigen im Walde. Gerade so, als hätte sie die Sprache und ihren Geist verloren. Zwar schwebte sie wie eine Feder über das Parkett, aber nur wie eine leere Hülle, die ich führen musste.
Wenn du eine Vermutung von mir hören willst, dann ist es womöglich einzig der Verdacht, dass jemand aus seiner Familie ihm schaden will, der den Baron umtreibt. In diese Kreise kannst du nicht hinein. Was du machen kannst, ist herauszufinden, über welche Wege die Sekte Unterstützung von weiter oben bekommt und ob sie tatsächlich hinter den Anschlägen steht, also die Saboteure rekrutiert. Oder ob alles nur darauf abzielt, dem Baron mit der Zerstörung seines momentanen technischen Lieblingskindes einen Denkzettel zu verabreichen.
Wusstest du, dass er hinter der Lendi-Pleite steckt und die Düngemittelfabrik aus Amöneburg vertrieben hat? In Hattersheim hatte er die Folienfabrikation besser unter Kontrolle und konnte den Besitzern ein Grundstück völlig überteuert verkaufen. Das ist sicher, aber genauso wenig beweisbar wie die Hintergründe der Schließung des Farbenwerkes in Biebrich. Als Standort für chemische Werke sind Biebrich und Amöneburg gestorben.
Die Stinkhütt musste nicht schließen, weil sie keinen Rohstoff mehr bekam, sondern weil die Frachter mit dem Thomasmehl nicht mehr im Hafen von Amöneburg und an der Maaraue anlegen dürfen. Angeblich ist das Zeug plötzlich hochgiftig. Als ob das was Neues wäre! Seit wie vielen Jahren verseuchte die Stinkhütt denn schon den Rhein? Ich möchte auch nicht wissen, was da sonst noch im Wasser ist. Andere Quellen berichteten mir, der Hafen Maaraue habe wegen der Lieferungen des Thomasmehls einfach nur keine Kapazitäten mehr freigehabt – die für die Firmen des Barons aber dringend erforderlich waren. Da weiß man nicht recht, ob man nicht auch die Brände in den Lagern des Zollspeichers Biebrich, die angeblich von dem gefährlichen Thomasmehl ausgingen und später auch die Hafenanlagen des Werkes in Amöneburg völlig zerstörten, eher dem Baron als diesem verwirrten Teufel in die Schuhe schieben sollte, der dafür in die Irrenanstalt kam. Man stelle sich das vor – Thomasmehl leicht entflammbar? Noch Fragen, wie groß der Hass auf diesen Mann ist?“
„Ich nehme an, die Anzahl derjenigen, die ihm die Pest an den Hals wünschen, steigt exponentiell stärker, als unsere wirtschaftliche Leistung derzeit prozentual fällt“, gab Peter zynisch zurück und speicherte auch dieses Detail in seinem Gedächtnis. Unwillkürlich kamen ihm seine Traumbilder in den Sinn, in denen er den Baron als Krake gesehen hatte, der alles umklammerte und auffraß.
Wieder lachte Sonnemann. „Jetzt weiß ich, was mir hier wirklich fehlt: deine Schlagfertigkeit. Hoffentlich holt der Teufel bald unseren Polizeipräsidenten, damit ich endlich wieder fähige Leute wie dich hier einstellen kann.“
„Danke für die Blumen, aber Leute wie der General haben die Angewohnheit, ewig zu leben und ihre Posten auch bis zum bitteren Ende zu behalten. Da müsste ich mir schon beim Baron so viele Sporen verdienen, dass er höchstselbst den General absägt.“
„Den soll vorher der Teufel holen!“, knurrte Sonnemann und seufzte tief. „Sei’s drum, an die Arbeit, Peter. Stochere im Dreck, aber nicht zu tief. Es lohnt sich nicht. Vor allem: Bring dich nicht in Gefahr!“
„Werde ich nicht. Aber danke für deine Erklärungen. Jetzt weiß ich, woher der Wind weht, und kann mich vorbereiten.“ Peter erhob sich und gab Sonnemann zum Abschied die Hand.
„Die Sache stinkt zum Himmel, aber der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken. Die schlimmsten Gossen des Stadtkreises können nie so viel Pest verbreiten wie die Leute ganz oben.“
***
Peter schwirrte der Kopf, aber Sonnemanns Informationen hatten ihm weitergeholfen. Dadurch wurde sein Schlaf auch ruhiger. Die Alpträume kehrten nicht zurück.
Er hatte sich mit Goerdeler noch auf ein Bier verabredet und dabei eine Menge erfahren, was bei seiner alten Dienststelle zurzeit alles geschah. Der Besuch des Kaisers war das Thema Nummer eins gewesen. Alle verfügbaren Leute waren abgestellt, das Kurviertel und die Villengebiete am Neroberg und östlich der Kaiserstraße zu sichern. Am meisten Unmut erregte die Urlaubssperre. Auch Goerdeler war davon betroffen. Seine Frau erwartete zum dritten Mal Nachwuchs, und die Hebamme behauptete, zwei Herzschläge hören zu können. Goerdeler wollte zur Niederkunft bei seiner Frau sein, doch das wurde ihm nicht gestattet. Im Grunde war Peter froh gewesen, dass er nicht mehr im Dienst war. Er konnte seine Zeit wenigstens frei einteilen.
Halbwegs erholt erwachte er vor Morgengrauen und schlich in seine Küche. Wie erwartet, hatte der Wind aufgefrischt und tobte nun heulend durch die verkrüppelten Straßenbäume. Die Fensterläden klapperten, und unheimliche Geräusche im einzigen noch offenen Kamin, dem des Salons, ließen auf ein ganzes Heer Poltergeister schließen. Die Kinder des Mieters in der zweiten Etage schliefen nicht und jammerten in einem fort. Es war kalt im Haus, offensichtlich hatte man die Kohleschütte der Dampfheizung noch nicht wieder gefüllt. Ein Blick auf den Haushaltsplan löste das Rätsel schnell. Der Scherenschleifer, der in der Mansarde hauste, war mit Kohlendienst an der Reihe. Doch der stand erst auf, wenn es hell wurde. Es würde also noch eine Weile dauern, bis die Dampfheizung wieder lief. Peter hoffte nur, dass dieses Versäumnis nicht bedeutete, dass er wieder etwas an der Heizung reparieren musste. Der alte Dampfkessel lief hervorragend, solange man ihn in Betrieb hielt. Wenn er allerdings keinen Brennstoff bekam und das Feuer erlosch, reagierte er wie ein alter Hochofen. Ihn erneut unter Dampf zu setzen war eine zermürbende Angelegenheit, die nicht selten dazu führte, dass Teile des spröden Gussstahls, aus dem das Ungeheuer bestand, durch die Temperaturunterschiede platzten.
Um wenigstens innerlich warm zu werden, entfachte Peter ein Feuer in seinem alten Herd, der noch nach Brennholz verlangte, und stellte einen Wasserkessel auf. Ernüchtert stellte er fest, dass nicht nur das Holz knapp wurde, sondern auch außer einem harten Kanten Brot und einem Stück Käse keine Lebensmittel mehr im Haus waren. So ermahnte er sich, erst einmal einkaufen zu gehen und nachzusehen, ob noch ein paar Bretter im Schuppen lagen, die er verheizen konnte. An Nachschub von anständigem Brennholz war nach diesem Winter nicht zu denken. Es war knapp wie Kohle und Stahl, und die Wälder waren ziemlich ausgedünnt.
Da er harte Ermittlungsarbeit vor sich hatte, durfte ihn nicht ständig Hunger aus dem Takt bringen. Ein wenig sehnsüchtig dachte Peter an die Zeiten zurück, in denen seine Familie noch Personal beschäftigt hatte. Er erinnerte sich an Ludwig, der kurz vor Peters Vater verstorben war. Ein Faktotum, das sich um all die Dinge gekümmert hatte, die ihm jetzt Kopfzerbrechen bereiteten. Ludwigs Tochter war das Hausmädchen gewesen und mit der Familie von Peters Tante nach München gezogen. Es hatte sogar ein Kindermädchen gegeben.
Es klingelte, und Peter warf einen Blick aus dem Fenster. Vor seinem Haus stand erneut eines der seltenen, geschlossenen Automobile, ein kleineres Fahrzeug diesmal, mit einem Holzgasantrieb, der in der feuchten Luft stark rußte. Der Regen hatte über Nacht aufgehört, seine feuchte Fracht über der Stadt zu entladen, aber der Wind trieb Nebel durch die Straßen, der einen nicht richtig gekleideten Passanten ebenfalls innerhalb kürzester Zeit bis auf die Knochen durchnässen konnte. Der Fahrer des Wagens stand am Tor.
Fast hätte Peter gelacht, denn der Mann tarnte sich nicht besonders gut. Wenn man nur genügend der billigen Kriminalromane las, mit denen sich so mancher arme Lehrer ein Zubrot bei schäbigen Kleinverlagen verdiente, erkannte man in ihm sofort den Privatdetektiv. Der Mann war die Karikatur eines Pinkertons, wie man dank ihrer literarischen Beschreibung glaubte, ihn aus Amerika zu kennen. Inklusive Melone.
Peter öffnete das Fenster. „Das Tor ist offen, ich lasse Sie rein!“ Er zog eine Jacke über und ging zur Haustür, weil er wusste, dass das Dampfventil, mit dem man die Tür von seiner Wohnung aus hätte öffnen können, garantiert nicht funktionierte, sobald die Außentemperatur einen gewissen Wert unterschritt.
„Privatdetektiv Langendorf?“, fragte der Mann mit einer Stimme, die einer defekten Nähmaschine würdig war, und baute sich in der Tür auf. Peter bewegte dieses Verhalten zu einem dreckigen Grinsen. Das Wort „Privatdetektiv“ hatte aus dem Munde des Pinkerton-Schnüfflers geklungen, als spucke er aus. Damit war klar, was der Mann von der Konkurrenz hielt.
„Genau der.“
Der Mann drückte ihm eine Mappe in die Hand, tippte an den Rand seiner Melone und wandte sich zum Gehen. „Schönen Tag“, grüßte er in einem Tonfall, der klang, als hätte er lieber „friss Dreck, du Ratte“ gesagt.
„Desgleichen“, gab Peter freundlich zurück und schlug die Haustür wieder zu, um den Wind auszusperren. Er war so neugierig auf den Inhalt der Mappe, dass er nicht bemerkte, wie die Tür hinter ihm wieder aus dem Schloss sprang, weil es nicht schnell genug zuschnappte.
Mit den Unterlagen kehrte er in die Küche zurück, wo der Wasserkessel bereits pfiff. Die Mappe warf er auf den Küchentisch und goss erst einmal Kaffee auf. Bevor er sich jedoch eine Tasse eingießen konnte, schlug die Neugier zu, und er blätterte die Akte durch. Er hatte nicht viel erwartet und war dementsprechend von dem mageren Inhalt nicht enttäuscht.
Viel hatten die Detektive nicht zu berichten. Es gab eine Liste der bislang versuchten Anschläge auf das Luftschiff mit den Ergebnissen der Ermittlungen dazu. Peter ging die Aufzählung durch, fand aber keine erste Spur. Die Namen der festgenommenen Saboteure waren ihm unbekannt. Es waren kleine Lichter, ungelernte Arbeitssklaven, die ihr Zerstörungswerk dilettantisch durchgeführt und sich selbst mehr geschadet hatten als dem Ziel. Am Rande verwunderte Peter neben der Anzahl der gefassten Akteure, dass es nirgends einen Hinweis auf deren Aburteilung oder Verbleib gab. Aber das ging ihn nichts an. Sie saßen wahrscheinlich in irgendwelchen Gefängnissen oder Irrenanstalten. Eingesperrt für den Rest ihres Lebens. Auch die Steckbriefe der Männer gaben keinen weiteren Aufschluss.
Erstaunlich war allein ihre Anzahl. Es hatte in drei Monaten dreiundzwanzig Anschläge gegeben, an denen je ein bis drei Personen beteiligt gewesen waren.
„Dreiundzwanzig in drei Monaten? Wie zum Teufel können die so viele Leute rekrutieren?“, rief Peter erstaunt, als ihm diese Dimension aufging. Um ein Haar hätte er die Kaffeekanne über die Papiere ausgeschüttet, aus der er sich gerade einschenken wollte. „Vor allem – die halbe Belegschaft der Werft scheint mitgemacht zu haben!“
Natürlich konnte man die Arbeiter jederzeit austauschen, es gab genug Erwerbslose. Aber so viele Menschen, die immer wieder auf der Luftschiffwerft anheuerten, um Anschläge zu verüben, das wurde ihm unheimlich. „Gut fünfzig Menschen so zu indoktrinieren, dass sie ihr Leben und ihre Freiheit für so was riskieren – der Anführer der Sekte muss wirklich ein charismatisches Wesen sein.“
„Oder inhaltlich überzeugend!“
Peter fuhr herum, als er die Stimme hinter sich vernahm. In der Tür zu seiner Küche stand eine Frau in einem wallenden, mintfarbenen Kleid, dessen Saum von den verschmutzten Straßen stark in Mitleidenschaft gezogen war. Die pelzverbrämte Kapuze des schwarzen Mantels hatte sie weit ins Gesicht gezogen, so dass Peter sie nicht erkennen konnte.
„Ich bitte um Vergebung für mein unangemeldetes Eindringen, die Türen standen offen. Ich muss Sie sprechen.“ Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich, als befürchte sie Lauscher. Dann erst zog sie ihre Kapuze vom Kopf. Noch immer war nicht viel zu erkennen, denn sie trug eine ausdruckslose Maske aus dünnem Leder mit getönten Gläsern über den Augen. Dies war die Variante der klobigen Schutzbrillen, die Damen trugen, um ihr Gesicht vor dem Wind und der schlechten Luft zu schützen. Sie zog sie über den Kopf ab und enthüllte rote Locken um ein fein geschnittenes Gesicht mit makelloser Haut. „Wissen Sie, wer ich bin?“
Peter starrte sie mit offenem Mund an. Er sprang auf und ergriff ihre Hand zu einem Handkuss, um sein Unwohlsein wegen seines bäuerlichen Aufzugs zu überspielen. „Baroness von Wallenfels! Bitte … setzen Sie sich doch, möchten Sie Kaffee?“
„Danke, gern.“ Sie sah sich in seiner Küche um, ohne dass ihre Miene verriet, was sie über die Art der schon leicht schäbigen Einrichtung oder den Bewohner dieser Liegenschaft dachte. Sie war sich auch nicht zu fein, an dem alten Holztisch Platz zu nehmen.
Peter eilte durch die Küche, um eine halbwegs unversehrte Kaffeetasse zu finden und sie zu füllen, nachdem er seinen letzten Rest Kandiszucker hineingegeben hatte. Dann setzte er sich ihr gegenüber.
Die junge Frau hatte ein zerknittertes Blatt aus der Akte gegriffen und las es. Es war das Flugblatt, von dem Sonnemann gesprochen hatte. Als Peter wieder saß, fing sie ohne Umschweife an, von ihrem Anliegen zu berichten.
„Ich muss Sie bitten, meine Anwesenheit hier aus Ihrem Gedächtnis zu streichen, sobald ich wieder verschwunden bin. Niemand, vor allem nicht mein Vater, darf erfahren, dass ich hier war und weiß, womit er Sie beauftragt hat. Ich will nur unverzeihliche Fehler verhindern. Ich hoffe sehr, Sie sind ein Mann, der nachdenkt, ehe er handelt, anders als die Vertreter der Detektei, die mein Vater beauftragt hat. Mir scheint, dass deren Waffen sehr locker sitzen.“
„Dort, wo mich der Auftrag Ihres Vaters hinführen wird, sollte man ausschließlich seinen Kopf benutzen. Waffen haben dort wenig Wirkung, außer man rückt mit einer Armee an. Man schießt auf einen und ist von hundert umzingelt. Dann bleibt nicht mehr viel von einem übrig. Verzeihung, wenn ich so deutlich werde, aber das ist der Grund, warum nicht die Pinkerton-Leute an diese Orte geschickt werden, sondern ich, und ich werde nur stöbern und nicht handeln. Danach werde ich meine Erkenntnisse weitergeben“, erklärte Peter, den die Neugier fast zerriss. „Außer ich erkenne, dass dies noch größeren Schaden anrichten könnte.“
„Das ist gut. Ich kann und will nicht viel zur weiteren Aufklärung der Dinge bezüglich des Standpunktes meiner Familie in dieser Angelegenheit beitragen und muss Sie leider über ein paar Zusammenhänge im Dunklen lassen“, seufzte sie. „Um es kurz zu machen: Mein Vater macht einen Fehler. Ich glaube, er weiß, wer der Anführer von Lebenslicht ist und warum diese Leute den Jungfernflug der Pazuzu verhindern wollen. Ich weiß es auch und stimme den Zielen der Sekte zu. Auch bin ich mir sicher, dass es kaum einen anderen Weg mehr gibt, meinen Vater von der Durchführung dieses entsetzlichen Fehlers abzuhalten, als das Objekt seines Wahnsinns zu vernichten. Das größte Problem sehe ich dabei in den Kollateralschäden. Es werden Menschen bei diesem Vorhaben den Tod finden. Aber man darf die Schuld dafür nicht bei den Menschen suchen, die die Pazuzu vernichten wollen. Mein Vater verstößt, um sein Vorhaben zu realisieren, gegen eine Menge Gesetze, die, wenn er Erfolg hat, nicht mehr weiter bestehen können und abgeschafft werden müssen. Dabei sind sie sinnvoll, weil ihr Ursprung im Gebot der Menschlichkeit liegt. Vater hat mit seinem Verstoß gegen diese Gesetze die letzten Reste seiner Unschuld und seines Anstandes verloren. Ich denke, Sie können eine Menge bewirken. In erster Linie möchte ich Ihnen raten, dafür zu sorgen, dass die Kollateralschäden gering bleiben. Verhindern Sie unschuldige Opfer und fügen Sie bitte dem Sektenführer kein Leid zu. Denn das hat mein Vater schon getan.“
„Sie kennen ihn.“ Es war keine Frage, sondern eine ernüchterte Feststellung. Er hatte die ganze Zeit ihr Gesicht beobachtet, um herauszufinden, welche Gefühle sie mit der ganzen Sache und speziell der bewussten Person verband.
Ihr gequälter Gesichtsausdruck strafte ihn fast körperlich dafür, so weit gegangen zu sein. „Ich kenne den Mann, der die treibende Kraft hinter dem Plan zur Vernichtung der Pazuzu ist, und ich wiederhole: Er hat schon genug unter meinem Vater gelitten. Dieser Versuch, meinen Vater zu stoppen, ist das Einzige, was ihn antreibt, und wird es auch bleiben. Wenn es vollbracht ist, wird er verschwinden. Deshalb – wenn es jemanden in dieser üblen Geschichte gibt, der die wahre Schuld an dem trägt, was geschieht, geschehen ist und noch geschehen wird, ist einzig und allein Wilhelm von Wallenfels.“
Eine Weile saßen sie einander stumm gegenüber und sahen einander in die Augen. Peter bewunderte die junge Frau, die mit solcher Inbrunst und innerer Stärke den Kampf gegen ihren eigenen Erzeuger führte. Den Verdacht, es könne sich bei dem Mann um einen heimlichen Geliebten handeln, verwarf er, als ihm Sonnemanns unter der Hand geäußerter Verdacht wieder einfiel, es könne sich um einen Verwandten handeln.
„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann. Der Auftrag Ihres Vaters gefiel mir von Anfang an nicht, und er gefällt mir immer weniger, das gestehe ich gerne ein. Ebenso muss ich aber gestehen, dass ich Geld brauche. Sonst hätte ich den Auftrag abgelehnt, wenn man mir dazu überhaupt eine Möglichkeit gelassen hätte. Ich habe von Hauptkommissar Sonnemann interessante Details gehört, die es mir nicht einfacher machen. Das Bild ist noch unklar. Ich kann Ihnen jedoch versprechen, dagegen vorzugehen, wenn ich einen Verstoß gegen geltende Gesetze entdecke. Egal wer ihn verübt. Opfer zu vermeiden versteht sich für mich von selbst. Abgesehen davon bin ich kein Pinkerton, der schon zum Schießeisen greift, wenn man ihn nur schräg ansieht. Ich besitze zwar eine Waffe und einen Waffenschein. Aber in dieser Gegend wäre ich ein toter Mann, sobald ich sie zöge. Daher benutze ich lieber mein Gehirn und nicht die Brechstange. Mein Gewissen steht mir zwar häufig im Weg, aber es hat bislang ganz gut geholfen, meine Würde zu wahren. Wenn ich das nicht mehr kann, gebe ich die Sache ab.“
Das Gesicht der Baronesse nahm einen fast erlösten Ausdruck an. Sie rang sich sogar zu einem Lächeln durch. „Ich danke Ihnen. Mehr kann ich nicht verlangen, und ich bin sehr erleichtert, dass Sie nicht zu den Leuten gehören, die erst zuschlagen und dann denken.“
Wieder entstand eine Pause, die beide dazu nutzten, einen Schluck Kaffee zu trinken. Peter wartete geduldig, denn er wurde den Eindruck nicht los, dass die Baronesse noch etwas auf dem Herzen hatte. Durch seine trockene Erkenntnis, dass sie den Sektenführer kannte, war ihr wohl klar geworden, dass Peter in der Lage war, seinen Kopf zu mehr zu verwenden als nur zum Tragen eines Hutes, und war entsprechend vorsichtig. Sie gab Obacht, dass nicht zu viele Leute von ihrem Wissen erfuhren, so dass es nachher doch ihrem Vater zu Ohren kam.
„Es ist besser für die Menschheit, wenn mein Vater mit seinen Plänen scheitert. Auch ohne diesen ganz speziellen Grund die Pazuzu betreffend“, seufzte sie schließlich.
Peter runzelte die Stirn, als er den beißenden Unterton in ihrer sonst so sanften Stimme vernahm. „Wie darf ich das verstehen? Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.“
„Hat Ihnen mein Vater erklärt, wozu die Pazuzu dienen soll?“, hakte sie mit einem spöttischen Lächeln nach. „Wahrscheinlich nur, dass man mit einem Luftschiff wie diesem ohne einen großen Flugplatz mit Landebahn schwere Lasten aufnehmen und absetzen kann. Das alles punktgenau und ohne besondere Infrastruktur. Ein hehres Ziel, das dem Wohle der Menschheit dienen kann. Wenn es etwa um Maschinen zur Fabrikation geht oder zur Schaffung fruchtbaren Landes in unwirtlicher Umgebung. Aber ich bin sicher, dass Ihnen auch andere Schwerlasten einfallen, die weniger wohltätigen Zwecken dienen und die man mit der Pazuzu über weite Strecken in unerschlossenes Gebiet liefern könnte, nicht wahr?“
Peter schloss gequält die Augen, als ihm ein Zeitungsbericht über ein weiteres Teilstück des Wallenfelsschen Imperiums ins Gedächtnis kam. „Rüstungsgüter. Waffen wie zum Beispiel dieses Monstrum von einem Kettenfahrzeug mit dem Geschütz auf einem drehbaren Turm. Es soll größer sein als die größte Dampflokomotive, vor allem dreimal so breit, so dass man es nicht auf Schienen transportieren kann. Im Krieg zählt Schnelligkeit, und wer seine Waffen, möglichst große und mit viel Zerstörungskraft, zuerst vor Ort hat ...“
Er verstummte. Sein Blick traf in schweigendem Einverständnis den der Baronesse. Peter kannte das Gerät, das die erste Last des Luftschiffes werden würde.
„Die Fette Molly“, stöhnte er.
Die Baronesse nickte. „Die größte selbstfahrende Kanone, die die Welt je gesehen hat. Wussten Sie, dass es völlig unerheblich ist, was den Dampf in ihren Kesseln zum Kochen bringt? Ihr Antrieb funktioniert mit allem, was man verbrennen kann, Äther, Kohle, Holz – man kann sogar Mist in ihrem Brenner verfeuern. Ihre Geschosse werden nicht von Explosivstoffen angetrieben, sondern von Dampf. Ein Ingenieur meines Vaters hat das Verfahren zur Komprimierung des Dampfes verfeinert, und jetzt dürfen Sie raten, wer auf diese wunderbare Idee gekommen ist.“
Peter enthielt sich einer Antwort. Er wusste, dass der Baron aus reinem Vergnügen an der Sache ein Ingenieursstudium im Fach Maschinenbau absolviert hatte. Summa cum laude. Er gehörte zu den Menschen, die bedingungslos an die Technik glaubten und der Ansicht waren, alles sei möglich, was menschliche Vorstellungskraft auszudenken vermochte. Langsam allerdings endete Peters Vorstellungskraft. Für ihn war der Baron wahnsinnig, und der dringende Wunsch, diesen Wahnsinn zu stoppen, keimte immer stärker in ihm auf.
„Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um diesen Fall mit dem größtmöglichen Erfolg abzuschließen und so viel Elend zu vermeiden wie nur irgend möglich.“
„Ich wünsche Ihnen dafür viel Erfolg und alles Gute für die Ermittlungen. Ich gestehe, dass ich mehr weiß. Dinge, die Ihnen helfen könnten. Aber ich darf sie Ihnen nicht sagen, weil ich nicht weiß, wie viel Schaden ich damit verursachen würde. Verzeihen Sie.“
„Sie haben schon viel gesagt. Vielleicht sogar mehr als geplant. Aber bei mir sind diese Dinge gut aufgehoben, und ich gebe nichts weiter. Ich muss nur sehen, was ich daraus mache.“
Sie erhob sich. Peter sprang auf, um ihr die Tür zu öffnen, jedoch nicht, ohne vorher in den Gang zu spähen, ob einer seiner Mieter von dem ungewöhnlichen Besuch Kenntnis bekommen hatte. Die Baronesse hatte Schutzbrille und Kapuze wieder über den Kopf gezogen und verbarg so ihr Gesicht.
Peter öffnete die Haustür und warf einen Blick in seinen Briefkasten, kontrollierte dabei, ob es ungewollte Beobachter gab. In der Hofeinfahrt gegenüber entdeckte er seinen jugendlichen Gelegenheitsspion Georg, der gerade seine Schutzbrille an seinem Hemdzipfel reinigte. Mit dem Finger unter der Nase holte Peter Luft und wies die Straße entlang: die stumme Frage, ob die Luft rein sei. Der Junge rannte kurz die Straße entlang und stellte sich dann tief durchatmend mit ausgebreiteten Armen am Kaiser-Friedrich-Ring in den Sturm.
„Keine Spione weit und breit!“, sagte Peter leise und öffnete die Haustür für seinen Gast.
„Danke für Ihre Gastfreundlichkeit … und Ihr Verständnis!“ Sie trat auf die Straße und eilte zum Ring, den Mantel eng um die schmalen Schultern gezogen, um dem Wind zu trotzen. Als ihr der Junge entgegenkam, drückte sie ihm etwas in die Hand. Georg starrte perplex auf die Münze und zog dann mit einer ausladenden Verbeugung die Mütze.
Peter sah ihr nach. Der Junge verschwand winkend in der Hof-einfahrt, und er winkte zurück. Ein prüfender Blick zum Himmel verriet ihm, dass er sich beeilen musste, wenn er an diesem Tag noch weitere Nachforschungen und Besorgungen erledigen wollte. Der Sturm brachte Wolken, die der Stadt ein weiteres Unwetter bescheren würden.