Wieder in der Gosse

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Das Wetter war nicht dazu angetan, Peter für eine weitere Nacht in Kostheim zu begeistern. Es schüttete wieder. Der einzige Trost war, dass der Wind nachgelassen hatte und so keine Gefahr bestand, von herabfallenden Ziegeln oder Mauersteinen erschlagen zu werden, und es gab ihm einen Vorwand, jede Deckung zu nutzen, die sich ihm bot. Kleine Pausen in Hofeinfahrten oder Hauseingängen waren üblich, und man teilte sie nicht selten mit anderen Schutzsuchenden.

Sein erstes Ziel war der Häuserblock, in dem Sanker verschwunden war. Das schien ihm die vielversprechendste Möglichkeit, einen Schritt weiterzukommen. Entweder würde Sanker ihn zur Sekte führen, oder der Fuchs tauchte auf, und er konnte ihm zu seinen Etablissements folgen, in denen er Katharina zu finden hoffte.

Neben dem Holzschuppen gab es einen Eingang mit einer lose in den Angeln hängenden Tür. Das Haus schien unbewohnt zu sein, aber das erwies sich als Trugschluss. Aus dem Obergeschoss hörte er Stimmen, kaum dass er das Gebäude betreten hatte. Weiter hinten im Hausflur hustete jemand erbärmlich. Der Raum zum Hof hinaus war leer. Es handelte sich um einen Anbau, dessen Dach halb eingestürzt war und in dem das Regenwasser knöcheltief stand. Als zeitweiliger Beobachtungsposten war der Raum jedoch ausreichend, denn durch die beiden kaputten Fenster konnte Peter die Straße und den Hof überblicken.

Er stellte sich dennoch auf Warten ein und fing an, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, was er wusste. Paul hatte sich erboten nachzuforschen, wohin man die restlichen Druckpapier- und Farbbestände der Firma aus Königshofen verkauft hatte, damit Peter früher aufbrechen konnte. Er wollte auch in Erfahrung zu bringen, ob sein Freund noch bei der Bauaufsicht arbeitete oder bereits die Gnade einer sicheren Pension für getreue Staatsdiener genoss.

Pauls Geständnis, mit Frauen nichts anfangen zu können, kam ihm wieder in den Sinn, und Peter gestand sich ein, dass er so etwas schon vermutet hatte. Paul war schon immer weich gewesen, vom Äußerlichen wie von seinem ganzen Verhalten. Eher mädchenhaft. Obwohl Paul der Ältere war, hatte er immer wieder Peters Hilfe gegen die Rüpel an der Schule gebraucht. Insgeheim bedauerte Peter seinen Bruder wegen dieses Problems, konnte er doch niemals ungestraft seiner Leidenschaft nachkommen und aufkeimende Triebe befriedigen, außer indem er Hand an sich selbst legte. Ihm selbst standen da deutlich mehr Wege offen. Natürlich waren Prostitution und ihre Nutzung strafbar, aber im Zweifelsfall bekamen die Freier nur einen erhobenen Zeigefinger zu sehen, während die Frauen ins Gefängnis wanderten. Bei gleichgeschlechtlichen Paaren wanderten beide hinter Gitter, egal ob es ein gekauftes Stelldichein war oder ein freiwilliges unter gleichgestellten Partnern. Doppelmoral, wohin man auch schaute, besonders zu Lasten der Frauen. Diesen Gedanken schob Peter aber schnell wieder beiseite, damit er nicht die gesamte Wartezeit damit verbrachte, fruchtlos über das Elend dieser Welt zu philosophieren.

Insgeheim war Peter froh, seinen Bruder im Haus zu haben. Paul hatte keine Laster und daher ein stattliches Guthaben auf der Bank. Er würde sich auch um die notwendigen Reparaturen kümmern und kannte eine Menge Handwerker, die ihm noch den einen oder anderen Gefallen schuldeten. Peter war sicher, dass Paul wieder auf die Füße fallen würde. Mit diesen Handwerkern als Stütze und Auftraggeber konnte er als freier Architekt sein Auskommen finden.

Ein weiterer Vorteil für ihn war, dass Paul ein echter Gentleman war, ohne Allüren oder – was bei seinem weichlichen Äußeren nahegelegen hätte – ein dandyhaftes Auftreten. Das würde Paul bei seinen Nachforschungen Türen öffnen, ohne dass irgendjemand Verdacht schöpfen würde, dass er für seinen Bruder Ermittlungen anstellte.

Ein Geräusch auf der Straße riss Peter aus seinen Gedanken, und er spähte hinaus. Der Fuchs stand mit zweien seiner Schläger im Hof und starrte auf das Haus, in dem Sanker in der vergangenen Nacht verschwunden war. Jemand kam aus der Haustür. Peter glaubte, Sanker zu erkennen, und spannte sich an.

Sanker entdeckte das Empfangskomitee und wollte flüchten, als ihn schon zwei weitere Personen schnappten, die neben dem Hinterhaus gelauert hatten. Sie schleiften ihn vor den Fuchs und drückten ihn auf die Knie.

„Na, Fritze?“, fragte der Fuchs mit einer fast schmeichlerischen Stimme. Doch diese Stimme täuschte weder Sanker noch den heimlichen Lauscher, denn der Unterton war schneidend wie ein Skalpell. Sanker wand sich wie ein Aal, aber er konnte den beiden Schlägern nicht entkommen. „Erzähl ma, was des für Typen sin, für die de jetzt schaffst. Will wisse, ob die nich mein Geschäft schade könne.“

Sanker gab auf und blickte zu Boden. „Da brauchst dir kaa Sorsche mache. Die ham andere Ding im Sinn.“

„Was‘n Scheenes?“ Die Stimme des Fuchses wurde ungeduldig. Das gab ihm die bösartige Anmutung eines schmollenden Kindes. „Wer sin eischentlich die Oberste vonnem Haufen? Immer noch de verrücke Pfaffe? Und wer sin die andere? Ham die aa son Dubbe wie de Schwarzrock, odder ham die Hern?“

„Der Pfaffe ist noch da, ja, und er hat nichts anderes im Sinn als unser aller Seelenheil, wassen sonst, und die anneren? Du glaubst doch ned im Ernst, dass die uns klane Lichter viel über sich erzählen tun? Namen gibts keine. Da ist nur n Typ, der Gregor genannt wird, kommt wohl aus Königsberch und ist achentlich Russ. Den halde se all für dod, weiler ne Bomb bastele wollt un die is mit seem Schuppe inne Luft gange. Der spielt sich als Boss auf, isser aber nich. Viel zu wenisch Hirn, jeder Ratz is schlauer. Dann is da noch der ‚Graf‘. Der is, mein ich, der wahre Chef, zusammen mittem alten Nager, weißt schon, dem Hannes, un nem Riesen, dem Johann. Aber vonnem ‚Graf‘ kennt niemand des Gesicht. Habben ma gesehen, hat immer nen schwarzen Mantel mit Kapuze an, siehst nicht, wie er aussehe tut“, sprudelte es aus Sanker heraus. „Was se wolle? Na, guck auf de Fetzen, die ich verteilt hab. Kannst doch lesen, oder? Mehr scheints echt nich zu sein, wasse wollen. Nix mit dein Geschäft. Mehr wees ich nich!“

Der Fuchs schwieg zu lange, um Sanker beruhigen zu können. „Na schee, ich will ma versuche, dir zu glauben … aber du begleitest jetzt ma meine Freund hier un mich zu deine Leute! Ihr habt doch irschendwo nen Treffpunkt, odder?“

„Kann ich nich, die mache mich platt!“, rief Sanker entsetzt und zuckte zusammen, als plötzlich ein scharfes Messer vor seinem Gesicht aufklappte.

„Wenn nich die, denn ich. Hast die Wahl!“

Peter hatte aus seinem Versteck einen guten Blick auf Sankers Gesicht, da es von der Karbidlampe beleuchtet wurde, die einer der Begleiter des Fuchses in Händen hielt. Sankers Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, aber der spöttische Zug um seine Mundwinkel widersprach der Angst, die er empfinden musste. Er schien hektisch zu überlegen, welches die angenehmere Alternative war. Es gehörte nur zum Spiel, dass er sich diese Zeit nahm, es würde sonst auf den Fuchs nur halb so glaubhaft wirken. Peter vermutete, dass die anderen, für die Sanker arbeitete, einen Notfallplan hatten, der in Kraft trat, sobald Sanker mit seinen Bewachern auftauchte. Dem Fuchs dagegen schien das nicht aufzufallen.

„Na schön … was soll ich mache?“ Sanker sackte demonstrativ in sich zusammen.

Für den heimlichen Beobachter war das Spiel zu schnell beendet. Peter vermutete, dass Sankers Freunde so etwas wie ein Wächtersystem hatten und er sich Chancen auf ein sicheres Entkommen ausmalte, wenn er tat, was der Fuchs verlangte.

„Sag denen, die beeden da wolle auch der Trupp beitreten. Des langt. Wo sin die Herrschaften denn?“

„Am Rand von Biebrich, wo de Stinkhütt war, neben de alte Halle im Werk Amönebursch“, nuschelte Sanker ergeben. „Frankenfurter Straß.“

„Na denn“, rief der Fuchs und klatschte in die Hände, „lasst uns ma aufbreche. Mir ham unnerwechs aber noch was zu erledische.“

Die Gruppe brach auf. Als sie sich in ausreichender Entfernung befanden, verließ Peter sein Versteck. Es war riskant, aber er musste der Gruppe folgen, wenn er etwas über die Machenschaften des Fuchses erfahren wollte. Die Sekte lief ihm dank Sankers Angaben nicht davon. Der Regen hatte aufgehört, dafür wallte leichter Nebel vom Fluss in Fetzen durch die Seitenstraßen und hing immer wieder wie eine Gardine zwischen ihnen. Ausnahmsweise begrüßte Peter den Nebel als brauchbaren Helfer, denn so war er unsichtbar, bis er den nächsten Hauseingang erreicht hatte.

An der Schwarzen Brücke machte der seltsame Trupp halt, und Peter zog sich in eine Hofeinfahrt zurück. Der Fuchs sprach mit einem Zuhälter und dessen Damen, die sich ängstlich zusammendrängten – nicht ohne Grund, denn die Schläger, die nicht auf Sanker aufpassten, zerrten eine der Frauen in den Hof. Peter schluckte, als er sie schreien hörte wie ein waidwundes Tier. Dann wurde es still.

Totenstill.

Die beiden Schläger kamen zurück, dem einen hing die Hose um die Knie, und er ließ sich Zeit, sie wieder hochzuziehen. Der andere leckte die Klinge eines blutverschmierten Klappmessers genüsslich ab und steckte es wieder in seine Hosentasche. Die Männer lachten, als sie sahen, wie sich die Huren kreidebleich aneinander festhielten und still weinten. Ihr Gelächter durchbrach schrill die Ruhe, die nach den Schreien der Hure eingetreten war. Was auch immer diese Frau verbrochen haben mochte, sie hatte mit ihrem Leben gebüßt.

Peter schloss die Augen. Ihm war klar, was mit ihm geschehen würde, sollte er bei seiner Observation nicht vorsichtig genug sein. Abgesehen davon hatte ihm diese Szene erschreckend deutlich gemacht, dass der Fuchs seinen Machtbereich auf Kostheim ausgeweitet haben musste und nicht nur geduldeter Gast war. Die „Graue Eminenz“ hatte demnach an Boden verloren – oder ihr Leben, was sogar naheliegender war. Auch Sanker war bleich. Er hatte gerade eine Demonstration dessen bekommen, was ihm blühte, wenn er nicht spurte oder den Fuchs in eine Falle lockte.

Die Gruppe setzte sich wieder Richtung Kastel in Bewegung. Der Nebel erwies sich Peter auch weiterhin gewogen. Der Weg führte zur Reduit, und Peter suchte wieder einmal Deckung.

Die Reduit war trotz der Inbesitznahme durch die Armen noch immer öffentlicher Raum und Liegenschaft des Herzogtums Hessen-Nassau, seit das Großherzogtum alle rechtsrheinischen Gebiete abgetreten hatte. Gelegentlich kam Polizei vorbei, um dort aufzuräumen, bisher jedenfalls. Allerdings musste jedes Mal die Anzahl der Männer aufgestockt und ein immer größeres Arsenal an Waffen mitgeschleppt werden.

So etwas konnte eigentlich nicht das bevorzugte Umfeld des Fuchses sein. Die Gruppe lief denn auch an der Brücke nach Mainz vorbei und hielt auch nicht an der Reduit an. Tatsächlich hatte sich, wie er schon vermutet hatte, die Reduit schon wieder verändert. Der Fluss war über die Ufer getreten und hatte die um des Baumaterials willen ausgehöhlte Front der Festung einstürzen lassen. Über diesen Schutthaufen kam man trockenen Fußes in die Elendsviertel dahinter, aber das riskierte Peter nicht. Zu viele Augen hätten ihn beobachten können, also nahm er den Weg hinter der Reduit entlang, auch wenn er damit Gefahr lief, den Anschluss zu verlieren. Der Einsturz der Frontmauer war vielleicht auch der Grund, warum sich der Fuchs dort relativ sicher fühlte. Die Regierung hatte für zerstörtes Eigentum in den Bereichen am Fluss weder Interesse noch Verwendung, so dass sich auch ein Polizeieinsatz an dieser Stelle erübrigte. Der Freihafen Maaraue war wichtiger, und der war durch das giftige Wasser der Flüsse rundum gesichert. Zudem baute man die beiden anderen Rheinauen, die weiter entfernt vom Ufer lagen, zu ähnlich massiven Festungen aus. Peter hatte die gigantischen Dampfkräne von Biebrich aus sehen können, die die Fahrrinne ausbaggerten und ohne Rücksicht auf das üppige Grün des letzten zusammenhängenden Auenbereiches den Aushub auf die beständig von Überschwemmung bedrohten Inseln kippten. Natur störte nur.

Während er sich über den Weg hinter der Reduit kämpfte, kreisten seine Gedanken um diesen Punkt, um sich nicht ständig zu fragen, was er für Sanker oder die Sekte tun konnte, um ihnen näher zu kommen. Denn das konnte nur ein Zufall entscheiden. Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte er in der Dunkelheit die Kräne erkennen. Sie waren von einer Unzahl von Gaslampen taghell erleuchtet, und der Westwind trug ihr Dröhnen unangenehm laut an seine Ohren. Doch er schien der Einzige zu sein, den das störte.

Peter war nicht allein auf der Straße zwischen Festung und Bahnhof und ließ sich trotz der gebotenen Eile einfach im Strom übelriechender Leiber treiben. Hauptsache, die Richtung stimmte, für alles andere konnte er nur beten. Er nahm sich die Zeit, die Gesichter der Menschen zu betrachten, soweit er sie in der sehr spärlichen Beleuchtung aus improvisierten Fackeln und einigen Öllampen erkennen konnte. Einige schienen sich über irgendetwas zu freuen. Peter erkannte den Grund, als er auf einem Platz zwischen den Hütten den anachronistisch wirkenden Ochsenkarren sah. Der Fahrer verteilte Kistchen mit Kleidung, und Menschen balgten sich um die Fetzen darin.

Mit finsterem Gesicht sah Peter die Aufschrift auf den Kisten. Hospiz des Paulinenstifts. Das Sterbehospital, in dem vor allem arme unheilbar Kranke ihrem Ende entgegensiechten. Nicht selten auch Menschen, die in Quarantäne lagen, sich selbst überlassen bis zum bitteren Ende. Ihre Leichen verbrannte man unter strengen Hygienemaßnahmen, ihre Habseligkeiten kamen in diese Holzkisten – eigentlich, um sie mit ihren Besitzern dem Feuer zu überantworten. Immer wieder gelangten diese Kisten aber auf den falschen Weg – zu den Leuten, die für die Krankheiten, die in den ungewaschenen Stoffen steckten, am empfänglichsten waren. Ein weiterer Teufelskreis begann.

„Milde Gaben“, brummte Peter. Dann riss er sich von dem Anblick los und hastete weiter.

Das Glück war auf seiner Seite, denn er entdeckte die Gruppe nicht weit entfernt auf einem anderen kleinen Platz inmitten der ärmlichsten nur irgendwie vorstellbaren Hütten. Menschen waren nicht zu sehen, Peter vermutete, dass sie sich verzogen, sobald die Schläger des Fuchses auftauchten, der sich in dieser Umgebung wie ein kleiner Kaiser des Drecks zu fühlen schien. Aus einer Hütte kam eine Gruppe Frauen, die nicht recht in die Umgebung passen wollten, denn sie hatten sich herausgeputzt, als wären sie auf einen kaiserlichen Ball eingeladen. Zumindest kam es dem flüchtigen Betrachter so vor, ehe man erkannte, dass die Kleider nicht passten und ziemlich fadenscheinig waren.

Sie stellten sich auf Brettern im Schlamm in eine Reihe und rafften die Röcke, damit sie nicht verschmutzen konnten. Die Handlanger des Fuchses entzündeten zwei Sturmlaternen, und er ging die Reihe entlang. Er sah sich die Gesichter der Frauen an, die seltsam leer und puppenhaft wirkten. Alle waren stark geschminkt, und ihre Augen reagierten kaum auf das blendende Licht.

Peter zuckte zusammen, als die Lampe das Gesicht des letzten Mädchens erhellte. Es war Katharina, die gesuchte Frau. Die Halbschwester des Künstlers. Auch sie reagierte nicht auf den Fuchs, der sie am Kinn packte und ihren Kopf brutal drehte. Die weiße Schminke in ihrem Gesicht verbarg nur mäßig die blauen Flecken und die Narbe einer Platzwunde an der Augenbraue.

„Drogen … sie haben die Mädchen unter Drogen gesetzt“, dachte Peter entsetzt und überlegte, ob er eingreifen sollte. Aber ihm wurde klar, dass er nicht den Hauch einer Chance hatte, sie aus dieser Situation zu befreien. Er wäre ein toter Mann, denn die Gruppe war nicht das einzige Problem. Er rechnete damit, dass sich mindestens ein Dutzend weiterer Männer in der Nähe befand. Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als eine Handvoll Männer aus der Hütte kam und die Mädchen vor sich her Richtung Hauptstraße drängte. In der Hütte musste es einen Zugang zu anderen Schlupfwinkeln geben, denn sie war kaum groß genug, als dass eine Handvoll Menschen dort aufrecht stehen konnte. Ein alter Geräteschuppen. Peter prägte sich den Standort der Hütte für spätere Nachforschungen ein.

Der Fuchs blieb mit seinen Leuten zurück und erteilte einem weiteren Mann Anweisungen. Zu Peters Leidwesen sprachen sie sehr leise, so dass er nicht hören konnte, wohin man die Mädchen bringen wollte. Der Mann verabschiedete sich, doch dann blieb er noch einmal stehen. „Was dürfe de Herrschaften mitten Weibern mache? Allet? Odder komme alle wieder her?“

„Eher nich. Rechne ma mitter Hälfte Ausschuss. War abgemacht, dass se mache könne, wasse wolle. Acht nur druff, dass de Rest wieder schwebt, wenn er zurückkommt. De Weiber wern immer so schnell hysterisch, wenn se Leiche sehe. Muss net sei, wenn se in der Geschend sind. Is zwar ne einsame Ecke, aber wer weiß …“, gab der Fuchs abwinkend zurück. „Vergiss nich, die Extra-Kohle für jede dod Nutt zu kassiere, und bring de Klamotte wieder mit. Aufräum tun andere, die von de Herrschaften geholt wern.“

Beinahe hätte sich Peter mit einem entsetzten Ausruf verraten, er konnte sich gerade noch die Hände vor den Mund schlagen. Er hatte schon davon gehört, dass wohlhabende Adlige Mädchen für orgiastische Feiern bestellten. Auch, dass diese Frauen alles über sich ergehen lassen mussten, was man von ihnen verlangte – und dass nicht wenige dabei ihr Leben verloren. Dennoch erschreckte es ihn, den Beweis für diese Gerüchte kalt serviert bekommen zu haben. Aus dem Munde des Fuchses glaubte er die Aussage sofort, die er bis dahin als Märchen abgetan hatte.

Peter schüttelte sich und versuchte, den entsetzlichen Gedanken wieder loszuwerden. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass dieses Schicksal Katharina erspart bleiben möge, die er immer noch zu retten hoffte. Sie lebte und stand hoch genug im Kurs, für solche Feste genommen zu werden, wo nur die noch halbwegs unversehrten und hübschen Frauen verwendet wurden. Die Herrschaften waren trotz aller Abartigkeit ihrer Vorstellungen von Genuss doch anspruchsvoll und hatten keinen Bedarf, sich bei einer billigen Hure womöglich noch mit einer Krankheit anzustecken, die sie in Erklärungsnot oder vielleicht sogar in Lebensgefahr brachte. Eine kleine Chance.

„Lieber Gott, wenn es dich gibt und wenn dir diese armen Menschen noch etwas bedeuten, dann gib, dass sie stark genug ist, zu überleben, und zeige mir einen Weg, sie zu retten“, murmelte Peter und versuchte zu erkennen, wohin die Frauen gingen. Auf der Hauptstraße stand eine Kutsche mit vier gesund aussehenden, dunklen Pferden, in die sich die Frauen mit ihren wallenden Kleidern drängten.

Peter unterdrückte den Drang, sich an die Räder der Kutsche zu heften. Das würde ihm nicht gelingen, und er hatte noch einen anderen Auftrag, der ihm im Moment leichter zu erfüllen schien. Die Gruppe um den Fuchs stand noch einen Moment lachend beisammen, dann setzte er mit Sanker seinen Weg fort. Sie diskutierten leise, und anhand der Gesprächsfetzen konnte sich Peter zusammenreimen, dass sie sich über die Perversionen der Reichen amüsierten, die ihnen die Mädchen abkauften. Die Worte „Landschloss“ und „Weingut im Rheingau“ fielen. Peter war nicht ganz sicher, ob auch die Bezeichnung „Baron“ fiel, weil er sie nur zu gern gehört hätte. Ein Weingut, das im Rheingau lag und einem Landschloss glich – davon gab es einige, aber nicht so viele, dass es unmöglich war herauszufinden, welches sich besonders für eine Orgie eignete.

Der Fuchs erwies sich als faul. Bis an die Grenzen zwischen Amöneburg und Biebrich wollte er nicht laufen und weckte einen Kutscher, der unter seinem Wagen schlief. Der aufkeimende Protest des Alten wurde sofort erstickt, indem er ein Messer an die Kehle bekam. Leise maulend schirrte er sein Pferd an, um die ungebetenen Fahrgäste an ihr Ziel zu bringen.

Peter seufzte. Auch das lahme Pferd des Mannes war immer noch schneller als er zu Fuß, und der Fuchs hielt den Kutscher dazu an, ihm die Peitsche zu geben. Peter hörte deutlich, dass Sanker noch einmal das Ziel Frankenfurter Straße nannte. Es bestand also die Chance, sie wiederzufinden, wenn er sich beeilte. Peter beschleunigte seinen Schritt, bis seine Lungen brannten, und beglückwünschte sich innerlich, dass er noch immer gut in Form war und sich auch so hielt. Andere Männer in seinem Alter setzten längst einen Bauch an. Das hatte er mit harter Arbeit an sich selbst bislang verhindert. Jetzt kam es ihm endlich einmal zugute, dass er den Drill des Polizeitrainings auch nach seinem Weggang weiter durchgehalten hatte. Auf diesen Drill hatte Sonnemann immer bestanden, wenigstens bei seinen wichtigsten Männern für die schweren Einsätze. Peter erinnerte sich nur zu gut daran, wie Sonnemann immer von den Bow-Street-Runners geschwärmt hatte, jener Truppe, aus der später Scotland Yard hervorgegangen war. Die hatten ihren Namen „Runner“ nicht von ungefähr gehabt, und die Männer der Reichskriminalpolizei sollten das auch können.

Er gelangte zu den Industriegebieten Biebrichs und sah die Kutsche an der Einmündung der Frankenfurter Straße stehen. Peter zuckte zurück, als er nur noch einen der Schläger auf dem Kutschbock sah. Der Mann hatte ihn noch nicht entdeckt, und Peter legte auch keinen Wert darauf, das zu ändern. Schnell kletterte er die Böschung zur unteren Bahnlinie hinab, da das Tragwerk der oberen Gleise keine Deckung bot und leidlich beleuchtet war. Unten drängte er die Gleise im Schutz der Büsche entlang, bis er zur nächsten Straßenkreuzung gelangte. Mit schmerzenden Gliedern und völlig erschöpft umging er so den lauernden Posten. Der arme Kutscher hatte sein Leben bereits verloren. Als Peter an der Straßenkreuzung vorbeigekommen war, hatte er den Leichnam mit durchschnittener Kehle im Gestrüpp an der Böschung liegen sehen.

Im Schutze der wenigen verkrüppelten Straßenbäume, die noch nicht für die Verwendung als Feuerholz gefällt worden waren, spähte er die Straße entlang und wünschte sich, der Nebel wäre ein kleines bisschen dichter. Aber der nahe Rhein hatte es aufgegeben, weitere Schwaden zu schicken. Dafür stank es barbarisch aus den stillgelegten chemischen Fabriken. Peter fragte sich, was da noch schwelen mochte, obwohl die Produktion der Werke schon seit Monaten eingestellt war. Vielleicht waren es auch noch die Ausdünstungen der alten Stinkhütt, die damit ihrem Namen noch immer alle Ehre machte und den Anwohnern das Atmen schwer.

Unweit seines Standortes konnte Peter den Fuchs und seine Schergen erkennen, aber es war unmöglich, sich ihnen zu nähern. Sie hatten den armen Sanker in ihrer Mitte und schlugen ihn. Peter konnte nicht jedes Wort verstehen, aber was er hörte, ließ ihn wissen, dass sie die Leute nicht vorgefunden hatten, die Sanker hier zu treffen gedachte.

Peter nahm eine Bewegung hinter einer Fensterscheibe im zweiten Stock des Hauses wahr, in dessen Hofeinfahrt sich der Fuchs mit Sanker aufhielt. Aus den Augenwinkeln erspähte er zudem einen Schatten, der sich von der gegenüberliegenden Straßenseite näherte. Nach und nach wurden es immer mehr.

Das bemerkten nun auch seine Handlanger, aber der Überraschungseffekt lag bei den Angreifern, die auch zahlenmäßig überlegen waren. Der Fuchs reagierte schnell. Ein Messer schnappte aus seinem Ärmel, und er zerrte Sanker zu sich. Mit der Hauswand im Rücken und dem Messer an Sankers Kehle zog er sich zurück, während seine Männer überwältigt wurden. Sie wurden aber nicht umgebracht, wie sie es ihrerseits mit den Angreifern getan hätten, sondern nur unschädlich gemacht.

„Bleibt, wo ihr seid, sonst ist Sanker tot!“, brüllte der Fuchs. Zwei seiner Männer nutzten die Tatenlosigkeit der Angreifer, um aufzuspringen und mit ihrem Boss die Flucht anzutreten, die anderen waren noch bewusstlos.

Was hinter ihm geschah, bemerkte der Fuchs nicht, und seine Männer waren noch zu benommen. Sie kamen an Peters Schlupfwinkel vorbei, und der sah eine Möglichkeit, sich bei Sankers Auftraggebern beliebt zu machen.

Mit einem Satz war er beim Fuchs und entwand ihm das Messer. Der Fuchs schrie auf, als Peter ihm das Handgelenk verdrehte, bis die Elle mit einem scharfen Knacken brach. Peter stieß Sanker aus der Gefahrenzone und wehrte mit dem Messer des Fuchses die halbherzigen Versuche der beiden Begleiter ab, diesen vor dem neuen Angreifer zu schützen.

Als die anderen Männer ihre Chance sahen, ohne Gefährdung Sankers einzugreifen, rannten sie los. Der Fuchs und seine Männer hasteten zur Kutsche, die der Wartende bereits gewendet hatte, damit sie sofort Richtung Kastel flüchten konnten. Bei Peter und Sanker angelangt, hielten die Männer und winkten ab, als der Mann auf dem Kutschbock dem Pferd gnadenlos die Peitsche gab.

Peter atmete auf und warf das Messer des Fuchses angeekelt in den Rinnstein, als hätte ihn die Klinge gebissen. Einer der Angreifer trat zu ihm und hieb ihm mit seiner Pranke auf die Schulter. „Sauber, danke, dass de dem Fritze geholfen hast. War mutig. Wie heißt de?“

„Andreas“, log Peter. Er besaß falsche Papiere auf den Namen Andreas Weinreich und nutzte diese falsche Identität gern, wenn er in den ärmeren Stadtvierteln unterwegs war. Sie waren wie der Straßenkehrerausweis ein Überbleibsel aus seiner Zeit bei der Kriminalpolizei und einer der Gründe, weshalb er sich mit dem Polizeipräsidenten überworfen hatte. Schon allein deswegen hütete er sie wie seinen Augapfel und drängte Sonnemann regelmäßig auf Verlängerung der Gültigkeitsfristen. „Mutig? Ich weiß nich, wo ich den Mut her hab, vor allem, wenn mer vorher den armen Kutscher im Gebüsch gesehen hat.“

„Wa...“ Ein anderer Mann rannte zur Bahnlinie, um Peters Worte zu überprüfen.

Sanker gesellte sich dazu und gab Peter die Hand. „Danke, der hätt mir den Hals abgetrennt.“

„Keine Ursache …“

„Wo lebst denn, Andreas?“

„Im Parkfeld, ich war unne in Kastel bei meiner Schwester. Hab kaa Arbeit, aber des is ja normal. Hab gehofft, sie könnt mir Arbeit bei denen Leut verschaffen, wo se als Hausmädchen schafft. War aber nich. Dein Glück, sonst wär ich jetzt nich hier! Was seiden ihr fürn Haufen?“ Peter sah den Mann an, der ihm auf die Schulter geschlagen hatte.

Der Riese, dessen Gesicht man im milchigen Licht des Halbmonds leidlich erkennen konnte, sah ihn mit einem milden Lächeln in seinem bärtigen Gesicht an. „Mir versuche, hier in Biebrich trotz allem Elend noch en bissl für Ordnung zu sorsche, damits hier nich bald ooch aussieht wie in Kastel oder so. War ma en gedieschenes Viertel hier. Mer helfe en paar Leut, die was verbessern wolle.“

Peter schaute fragend, doch statt des Riesen antwortete Sanker: „E bissl Revolution, im Klaane, und noch nich sonderlich wirkungsvoll, aber des wird. Spätestens wenn de Leut auch von de Rieseratte gemeuchelt wern.“

„Kannst ja ma vorbeikommen, wenn de nix zu tun hast, Andreas. Gibt immer was Warmes zu esse“, fügte der Riese an. „Übermorschen treffe mir uns wieder, kannst bei Einbruch der Dunkelheit rüber zur 28 kommen. Mir dackele dann zu nem Treffpunkt zum Esse und dann weiter, weil mer uns was Wichtisches erzähle will. Aber bring nen Ausweis mit. Oder irschendwas, was bestätigen tut, dass de bist, wer de bist.“

Peter dachte demonstrativ darüber nach. Dann zuckte er die Achseln. „Warum nich? Fürn warmes Essen hab ich schon ganz anneren Sachen gemacht. In Ordnung, ich komm.“