Der Auftrag

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Der Nebel wurde schlagartig so dicht, dass Peter kaum mehr seine ausgestreckte Hand erkennen konnte. Seine Hoffnungen, der allabendliche Dunst möge nicht kompakter werden, erwiesen sich wieder einmal als frommer Wunsch. Die Kälte kroch ihm unter die fadenscheinige, zerschlissene Kleidung, und seine Gelenke wurden steif. Jede Bewegung wurde zur Qual.

Nie verhielt sich das Wetter so, wie es die Gazetten prophezeiten. Diese Schreiberlinge blickten nach Peters Meinung immer kurz vor Drucklegung ihrer Blätter aus dem Fenster und machten sich einen Spaß daraus, wie die Seher vergangener Zeiten den Vogelflug zu deuten. Auf Hygro- und Barometer zu blicken und sich in einer Berechnung der Wahrscheinlichkeiten zu versuchen war mühsam und fiel bei diesen Dilettanten auch nicht genauer aus.

Mit den Vögeln war es ohnehin so eine Sache: Außerhalb der nobleren Viertel einem zu begegnen grenzte schon an ein Wunder. Alles, was fliegen konnte, schien dem Moloch der Stadt schleunigst zu entfliehen. Mit einer gewissen Berechtigung, wie Peter fand.

Vielleicht lasen die Redakteure ja ihren Kaffeesatz, das war auch nicht unzuverlässiger. Oder nutzten eine Kristallkugel, wie diese uralte Frau auf dem Andreasmarkt eine besaß.

Für die ländlichen Gegenden fern der Stadt waren die Prognosen halbwegs stimmig. Dort reichten aber auch Bauernregeln aus, um etwas über den nächsten Tag aussagen zu können. In der Stadt hatte nicht einmal Hellseher eine Chance. Das Wetter unterschied sich oft von einem Häuserblock zum nächsten, je nachdem, was für Lasten die Flüsse mit sich schleppten oder wie stark die Schornsteine der Fabriken gerade rauchten. Alles zusammen ergab ein unberechenbares Gemisch in den verdreckten Gebieten an den Ufern von Main und Rhein.

Nachdem er zum fünften Mal über Müll und Schutt auf der Straße gestolpert war, den der Nebel gnädig verhüllte, und sich fast der Länge nach in den Schlamm gelegt hätte, gab Peter auf. Bedächtig tastete er sich an einer bröckligen Hauswand entlang, bis er einen überdachten Hauseingang mit Treppenstufen fand. Er setzte sich auf die kalten, ausgetretenen Sandsteine und zog seinen Mantel fester um sich. Zerknirscht musste er sich eingestehen, dass er die Orientierung verloren hatte. Das Herumtasten im Nebel hatte ihn in eine Gasse geführt, die ihm unbekannt war. Zumindest soweit er Details erkennen konnte. Er konnte sich nicht einmal mehr auf sein Gehör verlassen, um herauszufinden, wo er sich befand. Das Geratter der unentwegt über die Hochgleise donnernden Züge hatten ihm einen akustischen Stadtplan eingegeben, doch der Nebel schluckte sogar diesen stetigen, ohrenbetäubenden Lärm.

Der Tag war verloren. Pech, denn damit würde auch das Geld ausbleiben, das ihn bis zu einem besser entlohnten Auftrag über Wasser halten sollte. Kopfprämien wie die für Schrottdiebe waren so unberechenbar wie das Wetter. Abgesehen davon war ihm ein guter Fang bislang verwehrt geblieben. Die dicken Fische hinter den armen Hunden, die er gelegentlich zu fassen bekam, blieben in Deckung und rührten keinen Finger für ihre Untergebenen. Obwohl nahezu jeder Polizist die Namen der Hintermänner kannte und wusste, wo man sie in den Armenvierteln ausfindig machen konnte, überließ man ihnen das Feld.

Ohne Beweise und Zeugenaussagen konnte man diesen Gaunern nicht das Handwerk legen, geschweige denn, einen Polizisten dazu bringen, sich den Flüssen zu nähern, wo sie herrschten wie die Kaiser. Die kleinen Fische, die Peter auf frischer Tat ertappte, schwiegen meist beharrlich. Sie gingen lieber ins Gefängnis, als ihr Leben oder das ihrer Angehörigen in Gefahr zu bringen.

Peter war sein eigener Wetterprophet. Ein ätzender Geruch zog durch die Straßen und hinterließ im Nebel einen düsteren, giftig grünen Schleier. Sofort zog er die Schutzbrille vor die Augen, die bis dahin nur an einem Lederband um seinen Hals gehangen hatte. Die Schweißerbrille mit dem Messingrahmen, den Gummiringen, die dicht mit der Haut abschlossen, und den großen, runden Gläsern schränkte sein Gesichtsfeld zusätzlich ein. Aber sie verhinderte, dass der ätzende Dunst seinen Augen schadete. Das Brennen auf den offenen Hautstellen war schon schlimm genug. Die Brille besaß eigentlich auch doppelschichtige Gläser, die mit Äther gefüllt waren. Dadurch konnte man bei Nebel und Dunkelheit besser sehen, weil der Äther das Restlicht wie bei einem Katzenauge verstärkte. Doch der Äther war verflogen, so dass er auch mit Brille wie blind war. Eine neue konnte er sich nicht leisten.

Das Atmen fiel ihm schwer, und die giftigen Dämpfe verätzten seine Nase und den Hals, aber eine Atemschutzmaske mitzunehmen schadete seiner Tarnung, denn so etwas konnte sich kein einfacher Arbeiter leisten. Ein Halstuch musste genügen.

Der Nebel verdichtete sich immer mehr, weil er sich in den Gassen staute. Früher waren alle Straßen durchgängig gewesen, durchflutet von der frischen Luft, die von den Taunushängen oder den Flüssen einströmte. Doch die Wohnungsnot hatte kunstvolle Blüten in Form bizarrer Bauten getrieben. Wenig vertrauenserweckende Konstrukte aus krummen Balken, Ziegelsteinen und allem möglichen gesammelten Schutt und Treibgut überspannten die Straßen und ließen nur kleine Durchgänge. Die Innenhöfe waren ohnehin alle vollständig überdacht. Dabei war dieser Stadtteil noch relativ offen. Es gab deutlich schlimmere Ecken im Städteverbund.

Ein Windhauch vom Fluss komprimierte den Nebel zu kompakter Watte, die nahezu greifbar erschien, nasser und schwerer wurde. Das kleine Männchen in Peters Kopf sagte ihm voraus, er werde keine trockene Faser mehr am Leib haben, wenn er nach Hause kam.

Als wollte das Wetter dies bestätigen, fing der Nebel langsam an abzuregnen. Die Luft war so feucht, dass sie an dem Ruß und stinkenden Dreck kondensierte und aus dem Himmel ausbrach wie aus einem lecken Wasserrohr. Es begann ein satter Regen, von dem Peter annehmen konnte, dass er für den Rest des Tages nicht mehr aufhören würde – bis der ganze Schmutz aus den Schloten der Fabriken, den dampfbetriebenen, kohle- oder ätherbefeuerten Transportmitteln und den Kaminen der Häuser vollständig aus der Luft gespült war.

Peter schlug den Kragen seines Wachsmantels hoch, drückte den Schirm seiner Mütze tiefer ins Gesicht und zog sich in den spärlichen Schutz des Hauseinganges zurück. Der Nebel behinderte seine Sicht nicht mehr, dafür waren die Bindfäden aus Wasser, die vom Himmel hingen, so dicht wie eine Gardine. Peter sah auf seine Taschenuhr. Der Morgen war angebrochen, aber hell wurde es dennoch nicht.

Außer ihm war kein Mensch auf der Straße, und er zuckte resigniert die Achseln. Bei diesem Wetter blieben sogar die Schrott-räuber lieber in ihren Löchern. Niemand kam auf die Idee, auf die Suche nach Metallteilen zu gehen, die sich abmontieren und an die Stahlschmelzen verkaufen ließen. Keine Chance, jemanden auf frischer Tat zu ertappen und nach den Hintermännern der in Banden organisierten Metalldiebe zu fahnden, die sogar vor den gut bewachten Friedhöfen der Villengebiete nicht haltmachten. Das nahm Peter übel, denn auch die Grabstätte seiner Eltern war bereits geschändet worden. Diebe hatten die Bronzebuchstaben aus dem Granit gebrochen und die Metallkette mitgenommen, die den Zutritt auf das Grab verhindern sollte.

„Tja, neuer Tag, neues Glück“, knurrte Peter und warf noch einen Blick zum Himmel, an dem sich die düsteren Wolken ballten. „Was soll‘s, ich bin sowieso schon patschnass und durchgefroren, da kann der Regen nicht mehr schaden.“

Missmutig machte er sich zu Fuß auf den Weg nach Hause. In Biebrich würde er niemanden finden, der ihn heimbrachte, sei es mit einer Droschke oder einem Dampfwagen, denn wer ein solches Gefährt sein Eigen nannte, hatte die Gegend längst verlassen, um anderswo sein Glück zu versuchen. Die Transportmittel versprachen eine Art Garantie für den Lebensunterhalt. Sein Fahrrad hatte man ihm schon vor langer Zeit gestohlen, und auf den schadhaften Kopfsteinen Biebrichs hätte er es ohnehin zuschanden gefahren. Die ehemals gepflegten Arbeiterwohnhäuser entlang der Frankenfurter Straße blieben hinter ihm zurück, und er flüchtete sich für einen Augenblick unter die Unterführung der Bahntrassen.

Ratternd näherte sich eine der letzten archaisch wirkenden Pferdebahnen, die im Groß-Stadtkreis nur noch in den Armenvierteln ihren Dienst verrichteten. Die Gleise verliefen über die Kasteler Straße auf den Biebricher Berg. Peter erkannte sein Chance, ein Stück des Weges im Trockenen zurücklegen zu können, und rannte der Bahn winkend entgegen. Die Wagen hielt nicht, aber die Türen öffneten sich für einen Augenblick, als Peter ihn erreichte. Das Dampfventil, das die Türen per Knopfdruck hätte öffnen sollen, war bei der alten Bahn natürlich defekt. Peter sah, wie der Fahrer für den einsamen Fahrgast den Handhebel herumwarf, ohne die Pferde zu zügeln. Wahrscheinlich wären die Tiere einfach stehengeblieben, und nicht einmal ein Donnerwetter hätte sie dann noch zur Weiterarbeit anspornen können.

Die beiden klapprigen Arbeitspferde zuckelten kaum schneller über die Gleise, als er zu Fuß unterwegs gewesen wäre, aber wenigstens war es trocken, und er konnte in dem leeren Wagen sitzen. Seufzend ließ er sich auf eine der harten Bänke sinken und sah in den Regen hinaus.

Nach wie vor blieben die Straßen leer. Die Abwasserkanäle waren inzwischen nicht mehr imstande, die Mengen an Regen mit Ruß und anderem Dreck aufzunehmen. In den Straßenrinnen wuchsen die Abwässer zu reißenden Strömen an, die Einläufe verstopften, und das Wasser überschwemmte die Straßen. Selbst die Bahn musste sich durch das schlammige Wasser kämpfen, das bereits so hoch in den Gleisen stand, dass es den Pferden die Fesseln umspülte.

„Die Lage scheint mit der Pleite der Düngemittelfabrik und dem Rückzug von Albrechts Chemikalienwerk wirklich katastrophal geworden zu sein. Biebrich und Amöneburg kommen immer mehr runter. Bald sehen sie aus wie Kastel und Kostheim, die Armenhäuser im Westen des Stadtkreises. Es fehlt nicht mehr viel, selbst wenn die Leute hier noch versuchen, einen letzten Rest Würde zu wahren. Kein Wunder, dass die Menschen klauen. Eigentlich tun mir die Kerle leid, sie wollen schließlich nur ihre Familien ernähren. Die Zustände in der Stadt machen wenigstens mich nicht arbeitslos“, dachte er, während sie die verlassenen Industrieanlagen hinter sich ließen.

Die Chemiefabriken standen still oder waren verlassen und verpesteten die Luft nicht mehr. Der berüchtigte Gestank der „Stinkhütt“ war Vergangenheit, da man die Herstellung des Düngemittels Thomasmehl weiter nach Norden verlegt hatte. Näher an die Quelle des Ausgangsstoffes heran, denn Stahlhütten, die die Schlacke für das Düngemittel lieferten, gab es in unmittelbarer Umgebung nicht mehr.

Warum auch die Folienfabrik an einen anderen Standort bei Höchst übergesiedelt war, konnte Peter allerdings nicht nachvollziehen. Die geschäftlichen Interessen der Fabrikbesitzer waren ihm völlig unverständlich. Dass es trotzdem in Biebrich noch so stank, war ebenso seltsam. Schlote, die nicht mehr rauchten, konnten auch nicht stinken. Was die Luft dennoch so dick machte, dass man sie kaum atmen konnte, entzog sich Peters Vorstellungskraft.

Dabei hatten die Liegenschaften am Rhein von Gustavsburg bis Schierstein einst einen immensen Wert gehabt. In den Zeiten der wie wahnsinnig voranschreitenden Industrialisierung zu Beginn des Jahrhunderts, das nun kurz vor der Vollendung stand, waren die sumpfigen Auenlandschaften plötzlich zu Filetstücken der städtischen Bauherren geworden. Wo zuvor nur Flöße vorbeigeschippert oder Frachtkähne mit Pferden auf der anderen Rheinseite vorbeigetreidelt worden waren, waren innerhalb kürzester Zeit gigantische Fabriken errichtet worden, die man von neu gebauten Häfen aus mit Rohstoffen versorgte. Wer dort Land besessen hatte, war über Nacht reich geworden. Aus kleinen Landjunkern waren reiche Adelige geworden, die den Pomp vergangener Tage wieder aufleben ließen, während ihre Reihen durch Geldadel anschwollen: Familien, die durch den Erfindungsreichtum eines Mitgliedes reich geworden waren.

Dazu kam, dass für den Zustrom an Arbeitern vom Lande, der die Ausmaße einer zweiten Völkerwanderung angenommen hatte, schnell und billig Wohnraum geschaffen werden musste. Also hatte man riesige Wohnblocks aus dem feuchten Boden gestampft. Dadurch waren beschauliche Dörfer wie Kostheim und Kastel nahezu von der Landkarte verschwunden und vollständig überbaut worden.

Peter dankte im Stillen den Behörden, die zumindest dafür gesorgt hatten, dass diese Wohnkasernen nicht völlig gesichtslos geworden waren. Wenigstens äußerlich boten sie einen halbwegs angenehmen Anblick. Allerdings wusste er selbst am besten, dass die Ziegelsteinfassaden eben das waren: Fassaden, hinter denen sich die wahren Dramen abspielten, nicht in der Kulisse davor.

Die Pferdebahn zockelte über die Wiesbadener Allee den Biebricher Berg hoch. Auch wenn es fast unmöglich erschien, die Bahn wurde noch langsamer, weil die Pferde die Steigung kaum schafften. Peter hörte, wie die Pferde schnauften und hin und wieder fast panische Geräusche von sich gaben, weil sie auf dem nassen Pflaster ausrutschten. Hufeisen waren Mangelware, und kaum ein Bahnkutscher konnte es sich leisten, seine Tiere beschlagen zu lassen.

Sie überquerten die Wilhelmsbrücke mit den mittlerweile zehn parallel verlaufenden Eisenbahngleisen und tauchten unter der Hochtrasse der Schnellbahn durch, die an einer Stelle gerade mal eine Handbreit Platz über dem Dach der Tram ließ. Danach passierten sie das prächtige Gebäude der Sektkellerei, das mehr einem Schloss als einem Zweckbau glich, sah man von dem gigantischen Lagerhaus ab, das den Berghang dominierte. Von der Biebricher Straße aus sah man das Lagerhaus nicht, nur das große Rund der Vorfahrt zum Hauptgebäude.

Auf der Kiesfläche standen ein paar große Automobile mit wuchtigen Dampfturbinen. Peter vermutete, sie gehörten der betuchten Kundschaft, die am Vorabend wohl den neuen Jahrgangssekt hatte verkosten dürfen und nun ihren Rausch ausschlief. Irgendwann würden diese Leute sich von ihren Chauffeuren wieder in die Villen fernab des Molochs der Fabriken jenseits der Bahnlinien bringen lassen. An die Hänge des Taunus, wo der Wind alle Abgase vorbeitrieb, so dass sie den Nasen der hochwohlgeborenen Gesellschaft nicht schaden konnten.

„Ich bieg jetzt zum Paulinenstift ab, die Biebricher runter dürfe de Kleppertrams seit neustem nich mehr fahren. Is aber grad e Dampfbohn da!“, rief der Kutscher zu ihm nach hinten, und Peter machte sich seufzend auf, an der Kreuzung zum zweiten Wiesbadener Stadtring, hochtrabend Nassauer-Ring genannt, auszusteigen.

An der Haltestelle war ein kleines Häuschen, in dem ein Polizist saß, der alle Personen kontrollieren sollte, die in die Innenstadt wollten. Ohne Ausweis oder Wohnungsnachweis kam man nicht hinein. Das zementierte die Trennung der besseren Stadtviertel im Tal von Wiesbaden. Peter fragte sich ernsthaft, ob man am zweiten Stadtring nicht bald einen Zaun oder gar eine Mauer bauen würde, um Arm und Reich endgültig und unüberwindbar voneinander fernzuhalten.

Der Polizist sah flüchtig auf den Ausweis, den Peter ihm an die Scheibe des Häuschens hielt, und winkte ihn durch. Bei dem Wetter hatte der Mann wenig zu tun, aber auch genauso wenig Lust, sich mehr als unbedingt nötig zu bewegen. Nichtsdestotrotz war der Posten auf dem Sprung. Wer versuchte, sich unbefugt den Berg hinunterzubewegen, würde nicht weit kommen. Der Wächter wäre schnell mit der Waffe in der Hand hinter ihm her. Das Waffenarsenal in der Hütte war groß genug, auch eine größere Gruppe aufzuhalten, selbst wenn diese ihrerseits Waffen mit sich führte. Das träge Pfannkuchengesicht des Mannes konnte Peter nicht täuschen, denn die wachen Augen und zackigen Bewegungen verrieten den Soldaten. Diese Wachposten entstammten unteren Rängen des Militärs und kannten keine Gnade.

Die Dampfbahn wartete gnädigerweise am Christiansplatz auf den einzelnen Fahrgast der Pferdebahn, die rumpelnd auf den Ring abbog. Kaum hatte Peter den Wagen betreten, schlossen sich zischend die Türen hinter ihm, und die Bahn setzte sich in Bewegung den Biebricher Berg hinunter, wo sie am Hauptbahnhof auf den ersten Stadtring einbog. Auch in der Dampfbahn war Peter um diese Tageszeit fast allein, nur ein ältliches Dienstmädchen in adretter schwarz-weißer Uniform saß gähnend hinter dem Schaffner.

Am Gutenbergplatz sprang Peter wieder in den Regen und rannte über die freie Fläche vorbei an der Lutherkirche und der Gutenbergschule, die er einst selbst besucht hatte, bevor er seinem Bruder auf eine höhere Schule in der Innenstadt gefolgt war. Der Block mit den großen Bürgerhäusern wurde von seinen Besitzern krampfhaft in einem nach außen hin guten Zustand gehalten, doch auch hier war es schon zunehmend mehr Schein als Sein, denn südlich und westlich des ersten Stadtringes, innerhalb dessen sich die Großbürger der Stadt eingekauft hatte, wurde ebenfalls langsam die wachsende Armut deutlich, die den ganzen Groß-Stadtkreis Wiesbaden-Frankenfurt in der herrschenden Stahl- und Kohlekrise erfasst hatte.

Die Schere zwischen Arm und Reich klaffte immer weiter. Niemand war vor dem gesellschaftlichen Abstieg gefeit, auch die vielen Beamten und Angestellten im gehobenen Dienst nicht. Oder die Studierten und Handwerksmeister mit eigenen Werkstätten jenseits des Kaiser-Friedrich-Ringes. Ärzte, Apotheker, Ingenieure, Lehrer – wer noch nicht seine Schäfchen ins Trockene gebracht und Geld gehortet hatte, der konnte ganz schnell gezwungen sein, die Innenstadt zu verlassen. Sie siedelten sich zunächst jenseits des zweiten Stadtrings an. Wenn der Abstieg nicht aufzuhalten war, weil sie keine neue Arbeit fanden, dann dauerte es nicht lange, und sie wurden zu Bewohnern der Armenviertel.

Mit der Industrialisierung war der Verwaltungsapparat angeschwollen, und mit dem Niedergang durch die Krise war die Luft entwichen. Sogar Beamte wurden entlassen, zumindest die aus den niederen Rängen. Das Haus, das einst Peters Eltern gehört hatte, war ein gutes Beispiel für diese Probleme.

Als Peter noch ein Kind gewesen war, hatte seine Familie das Haus mit den vier Geschossen und der Mansarde alleine bewohnt. Sein Vater hatte es bauen lassen, als er vom einfachen Lehrer zum Studiendirektor aufgestiegen war. Peters Familie, das waren damals seine Eltern, seine Großeltern mütterlicherseits, die Schwester seiner Mutter mit Familie und er selbst mit seinem Bruder und seiner Schwester gewesen. Davon lebte nun nur noch er selbst dort. Deshalb hatte er die übrigen drei Geschosse und die Mansarde vom Erdgeschoss abgetrennt und als eigenständige Wohnungen vermietet. Das versetzte ihn in die Lage, das Haus behalten zu können, dessen Unterhalt zunehmend Geld verschlang, vor allem, weil es immer teurer wurde, das große Haus zu beheizen. Für eine der teuren, sparsamen Ätherheizungen fehlten ihm die Mittel, daher musste er noch immer einen Beitrag zur weiteren Verpestung der Luft leisten. Mit Schaudern dachte er an das drohende Gesetz, das alle Hausbesitzer innerhalb des zweiten Stadtringes verpflichtete, Ätherheizungen zu installieren, um die Luft im Kurgebiet sauber zu halten.

Peters Eltern und Großeltern waren verstorben und lagen in der Familiengruft auf dem Südfriedhof. Seine Tante und ihr Mann waren mit den drei Töchtern schon vor langer Zeit nach München weggezogen, woher der Onkel ursprünglich stammte. Aber auch von dort hörte Peter nicht viel Gutes, die Familie kam gerade noch so über die Runden. Eine seiner Cousinen hatte reich geheiratet und versorgte die Familie mit. Peters Schwester war mit einem Schiffbauingenieur aus Hamburg verheiratet und zu Beginn der Stahlkrise nach Amerika ausgewandert. Peter hatte schon lange nichts mehr von ihr gehört und machte sich Sorgen, aber alle seine Nachforschungen waren bisher ins Leere gelaufen.

Der einzige, der sich nicht weit von seinen Wurzeln entfernt hatte, war sein zwei Jahre älterer Bruder Paul. Der war studierter Bauingenieur und bekleidete als Architekt eine gute Anstellung in Frankenfurt. Auf Paul konnte er auch zählen, wenn er Hilfe bei Renovierungsarbeiten brauchte, denn Paul hatte ein seltsam inniges Verhältnis zu dem Haus seiner Kindheit. Er würde es Peter nie verzeihen, wenn der auch nur kurz mit dem Gedanken spielte, das Haus zu verkaufen. Peter war sich sicher, dass Paul seinen letzten Pfennig dafür opfern würde, das Gebäude im Besitz der Familie zu belassen und seinen Bruder zu unterstützen. Doch für solche Hilfe war Peter zu stolz.

Auch in diesem, noch als „besser“ zu bezeichnenden Viertel waren die Kanäle mit dem anfallenden Straßendreck und den Wassermassen überfordert. In den Rinnen sammelte sich die schmutzige Brühe zu tückischen Fluten, über die Peter mit weiten, im Voraus berechneten Sprüngen setzte, um nicht auch noch in seinen Schuhen das Wasser zu sammeln. Innerlich triumphierte er über seine weise Voraussicht, in der vergangenen Woche einen halsbrecherischen Ausflug auf das Dach seines Hauses unternommen zu haben, um die Regenrinne zu reinigen. So konnte das Wasser wenigstens nicht wieder an der Fassade herunter- und durch die Fenster ins Haus laufen.

Er bog in die Schenkendorfstraße ein und blieb trotz des Regens erstaunt stehen, als er die Limousine vor seinem schmalen Vorgarten sah. Das Automobil war eines der neusten Modelle. Es hatte nichts mehr gemein mit den umgebauten Kutschen, die nach der Entwicklung des Dampfmotors auf derartiges Interesse gestoßen waren, dass sich die verschiedenen Motorenhersteller mit immer neuen Entwürfen überschlugen. Aus den pferdelosen Kutschen waren neuartige, geschlossene, massive Metallgebilde geworden, die auf Rädern aus Kautschuk durch die Straßen rollten und das Werk der Stellmacher durch ein neues Handwerk ersetzten: Das des Gummikochers. Im Gegensatz zu den kohle- oder holzbetriebenen Dampfautomobilen hatte dieses Fahrzeug nur einen kleinen Kessel, der sich im Vergleich zu dem wuchtigen Chassis fast zierlich ausnahm. Ein Hinweis darauf, dass es ein sehr teures Modell war, das Äther als Treibstoff benötigte. Erhärtet wurde diese Annahme von den beiden Auspuffrohren, die auch als Trittbretter dienten und sich chromglänzend bis zur hinteren Stoßstange zogen. Für einen normalsterblichen Menschen war ein solches Fahrzeug unerschwinglich, der Besitzer gehörte demnach zu einer Schicht, die sich eigentlich nur selten in eine Gegend wie diese verirrte.

In der Hinterhofzufahrt des Nachbarhauses und des Hauses gegenüber standen so ziemlich alle Kinder, die in dieser Straße wohnten, und ein paar mehr, die Peter noch nie gesehen hatte. Sie gafften das außergewöhnliche Fahrzeug an, wagten es jedoch nicht, sich ihm zu nähern. Das lag nicht zuletzt an dem Mann in Chauffeuruniform, der mit einem großen Regenschirm bewaffnet neben dem Wagenschlag stand. Der Mann hatte die Statur eines Preisboxers und offensichtlich auch entsprechende Erfahrungen. Die Nase in dem fleischigen Gesicht hatte einen deutlichen Knick, der Mund war schief. Eine Narbe zog sich von seinen Lippen bis unters linke Augenlid und hob den Mundwinkel zu einem teuflisch wirkenden Grinsen, da der Zahn darunter fehlte und ein schwarzes Loch hinterlassen hatte.

Wie immer in ungewohnten Situationen zog Peter seine Pfeife aus der Tasche und steckte sie zwischen die Lippen. Bei diesem Wetter hatte er natürlich keine Chance, sie zu entzünden, aber auf dem Mundstück herumzukauen beruhigte ihn. Er musterte den Chauffeur, der seinen Blick nur ungerührt, aber mit alarmierter Wachsamkeit erwiderte. Die Muskeln unter dem dünnen Stoff der Uniform strafften sich.

Fast wären Peter die Gesichtszüge entgleist, die eigentlich nur milden Spott für den Chauffeur beibehalten sollten, als er beim Weitergehen in seine eigene Hinterhofzufahrt sah, die gut fünf Fuß unterhalb des Straßenniveaus lag. Natürlich hatten die Wassermassen trotz des hohen Bordsteins nicht vor der abschüssigen Zufahrt haltgemacht, doch dafür gab es eigentlich einen Hofablauf an der tiefsten Stelle. Trotzdem staute sich das Wasser bereits hüfthoch. Mit einer solchen Katastrophe hatte Peter nicht gerechnet. Er schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass die zugemauerten Kellerfenster dicht gehalten hatten und er nicht auch noch seinen Keller würde leerpumpen müssen. Um sich vor dem Chauffeur keine Blöße zu geben, musste er sich krampfhaft bemühen, nicht an die defekte, rostige Wasserpumpe zu denken, die er für die Behebung des Schadens dringend benötigen würde.

Peter ging an dem Automobil vorbei und versuchte, einen neugierigen Blick hineinzuwerfen, aber die Vorhänge im Fond waren zugezogen. Also grinste er den Chauffeur frech an und trat zu seiner Haustür. „Der Wagen macht sich ganz schön breit – nachher kommt noch ein Pferdefuhrwerk, das die Gaststätten und Restaurants vorn am Ring mit Bier von der Germania-Brauerei versorgt!“, rief er über die Schulter und schloss die Tür auf.

Er war kaum im Hausflur, als der Chauffeur den Schlag öffnete und seinen Fahrgast mit dem Schirm vor den Unbilden des Wetters schützte. Der Mann hatte den Kragen hochgeschlagen, so dass Peter sein Gesicht nicht erkennen konnte. Da er sich von seinem Fahrer aber zur Tür geleiten ließ, hielt Peter diese auf und wartete, bis der Mann bei ihm im Hausflur stand.

„Sie wollen zu mir?“, fragte er, schob seine Schutzbrille hoch und entledigt sich seines durchnässten Wachsmantels, um ihn hinter der Tür an einen Haken zu hängen. Er sah den Mann bewusst nicht an, auch wenn es all seiner Kraft bedurfte, nicht der Neugier stattzugeben.

Der Mann, der so groß wie Peter, jedoch eher als dünn denn als schlank zu bezeichnen war, ließ die Kragenenden los und schickte den Chauffeur mit einer kleinen Geste weg. „Wenn Sie Peter Philipp Langendorf sind, der Privatermittler, dann ja“, erwiderte er mit leiser, seltsam rostig klingender Stimme, die Peter einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Peter drehte sich langsam um und musste sich sehr beherrschen, beim Anblick des Mannes nicht zusammenzuzucken. Er hatte ihn trotz des Zwielichtes im Hausflur, der nur von einer Gaslampe erhellt wurde, sofort erkannt. „Ja, der bin ich … Herr Baron?“

„Sie kennen mich – das ist gut, dann brauche ich keine lange Vorrede. Ich will Ihnen einen Auftrag erteilen. Aber die Angelegenheit erfordert Diskretion. Hier im Hausflur ist diese nicht gegeben.“

„Natürlich, wenn Sie mir bitte folgen wollen …“ Peter ging die Treppe voran zu dem etwas erhöht liegenden ersten Wohnungsgeschoss.

Diskretion ... dass er hier persönlich auftauchte und auffiel wie ein bunter Hund, war alles andere als diskret, dachte Peter, doch diese Tatsache beruhigte ihn nicht.

Seine Finger zitterten, als er den Schlüssel aus seiner Hosentasche fischte und die wuchtige Wohnungstür mit den kunstvollen Bleiverglasungen öffnete. Diese war ein Zeugnis alter, gutbürgerlicher Größe, wenn man nicht auf die abblätternde Farbe achtete. Innerlich beglückwünschte er sich dazu, in den letzten Tagen sein kleines Reich aufgeräumt und geputzt zu haben. So machte die Wohnung einen sauberen, gepflegten Eindruck, und er konnte guten Gewissens Gäste empfangen. Zumindest Gäste seines eigenen Standes. Bei diesem Gast ging er jedoch davon aus, dass dieser hinter ihm eher die Nase rümpfte.

„Mein Büro ist hinten rechts im letzten Raum zum Hinterhof. Wenn Sie gestatten, ziehe ich mir schnell etwas Trockenes an.“

„Nur zu, erkältet können Sie mir nicht helfen.“ Der Baron trat ein und verschwand in dem Flur, auf den Peter hingewiesen hatte.

„Danke, machen Sie es sich bequem“, rief Peter ihm nach. Dann beeilte er sich, in sein Schlafzimmer zu springen, um sich die Kleidung vom Leib zu reißen, die mit Sicherheit in ihrer verlotterten Ärmlichkeit einen befremdlichen Eindruck auf seinen hohen Besuch gemacht haben dürfte. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er seinen Anzug anziehen sollte, aber das kam ihm dann doch übertrieben vor. Wenn der Baron sich schon in derartige Niederungen herabließ, erwartete er sicher keine perfekte Kleiderordnung. Also zog er nur frische Hosen und einen sauberen Rollkragenpullover über.

Ein Blick in den Spiegel mit dem verzierten Holzrahmen, der seiner Mutter gehört hatte, verriet ihm, dass er schrecklich übernächtigt wirkte. Sein braunes Haar stand wild in alle Richtungen vom Kopf ab, weil es viel zu lang war und sich wegen der Feuchtigkeit lockte. Gedanklich notierte er einen Besuch beim Barbier. Mit einer Drahtbürste versuchte er, des glanzlosen Gestrüpps Herr zu werden, was ihm aber nicht gelang. Den Stoppelbart befand er ebenfalls als unangemessen. Aber damit musste sein Gast einfach klarkommen, er hatte sich schließlich die Nacht um die Ohren geschlagen. Selbst ein Baron konnte nicht erwarten, dass man danach aussah wie aus dem Ei gepellt.

Als er sich wieder halbwegs menschlich fühlte, betrat er sein Büro. Sein adeliger Gast stand am Fenster und blickte in den Hinterhof. Er hatte sich weder seines Mantels entledigt noch seinen Zylinder mit dem massiven metallenen Hutband abgenommen, an dem eine ähnliche Ätherschutzbrille angebracht war, wie Peter sie besaß. Sie war heruntergeklappt und verbarg die obere Hälfte des Gesichtes seines Besuchers. Peter fragte sich, was der Mann dort so intensiv betrachtete, denn der zu seinem Haus gehörende Hof war der Kleinste von allen im Block, lediglich der Hof des Eckhauses zur Schule hin war noch etwas kleiner. Es gab dort nichts zu sehen als eine Ziegelwand, die den Hof von den anderen abtrennte und von struppigem Efeu überwuchert war. Der einzigen Pflanze, die dem verseuchten Regen widerstehen konnte. Halb in dem üppigen Laub verborgen standen unter einem schäbigen Dach die Blechbehälter zum Sammeln des Unrats. Selbst der Handwagen des Scherenschleifers, der bei Peter unterm Dach hauste, stand bei diesem Wetter geschützt im Schuppen oder in dem Raum, von welchem aus der Kohlenkeller beschickt wurde.

„Was kann ich für Sie tun, Herr Baron?“, fragte Peter, weil der Baron keine Anstalten machte, von sich aus das Gespräch zu beginnen, und es ihm dabei mulmig wurde.

„Sie wurden mir von Hauptkommissar Sonnemann empfohlen als einer, der sich in den, sagen wir, weniger gehobenen Vierteln des Groß-Stadtkreises gut auskennt und jeden Schlupfwinkel findet, in dem sich auch nur eine Ratte verstecken kann“, begann der ungewöhnliche Gast ohne große Vorrede. Er machte keine Anstalten, sich zu setzen, sondern blieb an die Fensterbank gelehnt stehen. Wenigstens hob sich jetzt mit einem hohen Zischen die Schutzbrille, die der Mann benutzte. Nach einer verstohlenen Berührung an der metallverzierten Krempe des Zylinders klappte sie von den Augen weg. Die dies bewirkenden Hebel waren eine Meisterleistung der Feinmechanik. Das Blitzen des hellen Materials ließ Peter vermuten, dass die ganze Konstruktion aus purem Gold war.

Peter musterte seinen Besucher. Es war extrem selten, dass jemand wie er von sich behaupten konnte, einen echten Baron zu Gast zu haben. Noch dazu einen, der nicht nur von altem Adel war, sondern auch ein Fürst der Industriellen. Einer der reichsten Männer Hessen-Nassaus, möglicherweise sogar des gesamten Deutschen Reiches oder gar der Welt. Dennoch machte dieser Mann im Moment nicht den Eindruck, als sei er in die gehobene Gesellschaft hineingeboren worden und dort aufgewachsen. Er verhielt sich Peter gegenüber vielmehr rein geschäftsmäßig. Peter ging davon aus, dass der Baron sich in so vielen Kulturkreisen und Gesellschaftsschichten bewegte, dass er je nachdem, was er erreichen wollte, bestimmte Verhaltensweisen und Sprachmuster an- und ablegen konnte. „Wenn Hauptkommissar Sonnemann das sagt, werde ich dem gewiss nicht widersprechen. Ich kenne mich aus und brauche von hier bis Fechenheim keinen Stadtplan. Aber ich gestehe, dass ich mir nicht vorstellen kann, was Sie, Herr von Wallenfels, an diesen Gegenden interessieren könnte.“

Der Detektiv hatte das Gefühl, der Blick des Barons durchbohre ihn. Dazu trug nicht zuletzt die körperliche Besonderheit des Barons bei. Der Baron war bei einer Kesselexplosion nur knapp mit dem Leben davongekommen. Spuren hatte der Unfall reichlich hinterlassen.

Seine linke Hand war eine Metallprothese, die bei jeder Bewegung ein leises Zischen von sich gab, wenn die winzigen Dampfpumpen die einzelnen Glieder bewegten. Peter versuchte vergeblich herauszufinden, wo die Motoren und die Behälter für den Treibstoff dieses feinmechanischen Wunderwerkes sitzen mochten. Daher ging er davon aus, dass ein großer Teil der Steuerung der filigran wirkenden Hebel und Gelenke das Werk eines Uhrmachers waren und der eigentliche Antrieb in der Röhre des künstlichen Armes verborgen war. Ein kleiner Äthertank oder etwas Ähnliches, kaum größer als eine Gewehrpatrone. Die Hand war aber nicht das einzig Künstliche. Von Wallenfels hatte bei dem Unglück auch ein Auge verloren. Die rechte Kopfhälfte steckte in einem Metallaufsatz, den man mit der Schädeldecke fest verschraubt hatte und der ein künstliches Auge beinhaltete. Rundherum blühte Narbengewebe, als sei das Metall fest mit dem Körper des Mannes verwachsen.

Das Glasauge unter den Metalllamellen sah ihn genauso aufmerksam an wie das echte. Peter fragte sich, wie weit die Prothesentechnik bereits fortgeschritten sein mochte, ob das künstliche Auge nur eine perfekte Nachahmung von einem handwerklich sehr geschickten Glasbläsermeister oder tatsächlich in der Lage war, dem Gehirn des Mannes ein Bild der Umgebung zu liefern. Aber er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als eine so unschickliche Frage zu stellen. Er musste zugeben, dass er es auch nicht wirklich wissen wollte. Der Gedanke, als halbe Maschine weiterleben zu müssen, erschreckte ihn sehr.

Um seine Verlegenheit zu überspielen, griff er zur Pfeife und begann, sie konzentriert zu stopfen. „Ich hoffe, es stört Sie nicht?“

Statt einer Antwort zog der Baron ein Zigarrenetui aus der Innentasche seines Jacketts und steckte sich eine der daumendicken Stangen in den Mundwinkel. Peter sprang auf, um ihm Feuer anzubieten, und war erleichtert, als der Baron sich endlich doch in den zerschlissenen Korbsessel auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches sinken ließ. Endlich nahm er auch seinen Zylinder ab, auch wenn sich Peter bei dem Anblick des Metallhalbschädels wünschte, er hätte es vielleicht doch besser nicht getan. Auf der anderen Hälfte des Kopfes spross üppiges, graumeliertes, schwarzes Haar, das er mit Brillantine straff zurückgekämmt und im Nacken zusammengebunden hatte. Für einen Mann seines Standes war das Haar zu lang, aber ihm eilte ohnehin der Ruf voraus, sich in manchen Dingen gern über Konventionen hinwegzusetzen. Peter setzte sich in seinen Bürostuhl und entzündete seine Pfeife, wobei er die Musterung seines Gastes fortsetzte.

„Da Sie mich kennen, sind Sie sicherlich auch darüber informiert, wie ich das alte Vermögen meiner Familie, das lange Zeit hauptsächlich aus Grundbesitz und entsprechenden Pachteinnahmen bestand, vermehrt habe. Was für Firmen sich derzeit in meinem Besitz befinden und über den Rest, der so von der Presse verbreitet wird, ob korrekt oder nicht“, begann Wilhelm von Wallenfels seinen Besuch zwischen zwei Zügen an seiner Zigarre zu erklären. Dann schwieg er erneut und beobachtete Peter aufmerksam.

„Ich lese zwar regelmäßig Zeitung, das gehört auch zu meinem Beruf, aber ich filtere die Informationen und glaube nicht alles aufs Wort. Über Ihre Person steht selten etwas geschrieben, so dass ich davon ausgehe, dass vieles erfunden wird, um die Klatschspalten zu füllen. Sie schotten sich und Ihre Familie gegen die Hyänen der Zeitungen ab“, fühlte sich Peter genötigt zu erklären. „Im Wirtschaftsteil findet sich Ihr Name häufiger, in Verbindung mit so vielen Firmen, dass ich ehrlich gesagt den Überblick verloren habe.“

Der Baron lachte. „Es ist auch besser, wenn nur ich alles überschaue. Aber wenn Sie die Wirtschaftsnachrichten verfolgen, ist Ihnen vielleicht nicht entgangen, dass ich große Hoffnungen in die zunehmend wachsende Luftschifffahrt setze. Nicht so sehr auf die Flugzeuge, die derzeit in Berlin entwickelt werden. Von denen halte ich nichts. Sie mögen als Kriegsgerät von Nutzen sein, sollte sich noch einmal eine Auseinandersetzung mit Waffengewalt entladen, wovor uns Gott bewahren möge. Ansonsten glaube ich, dass sie ein Spielzeug bleiben werden, solange es nicht gelingt, mit ihnen viele Menschen auf einmal oder gar schwere Fracht zu befördern. Ich will etwas anderes, nämlich die Transportkapazitäten für meine Firmen erhöhen. Dazu sind Luftschiffe besser geeignet. Man kann mit ihnen sehr … ‚unhandliche‘ Lasten verfrachten, ohne sie zerlegen zu müssen, kann diese punktgenau aufnehmen und absetzen. Sie benötigen keine langen, befestigten Start- und Landebahnen wie diese entsetzlich lauten Dampfflugzeuge, auf die man in Berlin so stolz ist. Das kann man mit Transporten auf der Straße, der Schiene oder mit dem Schiff auf den Flüssen nicht leisten. Vor allem, weil man gezwungen ist, Infrastruktur zu schaffen – Straßen, Wasserwege, Bahnlinien. Das ist teuer und vielen Zwängen unterworfen. Die Luft über uns hat jedoch keine Grenzen. Luftschiffe sind flexibel, eine wunderbare Technik. Ihnen genügt im Zweifel ein großer Acker, auf dem sie wie ein Schiff im Wasser ankern können, wenn der Pilot geschickt genug ist. Sie agieren für nahezu unbegrenzte Zeit in der Luft, solange das Gas in ihren Auftriebszellen sie trägt. Ich habe daher vor ein paar Jahren eine Firma gekauft, die einige Patente entwickelt hat, um solche Luftschiffe zu verbessern. Ein neuer Antrieb, ein paar neue Materialien, mit denen man die Schiffe leichter, stabiler und effizienter machen kann. Dazu ein paar Kleinigkeiten für eine neuartige Steuerung. Leider haben sich die Vorbesitzer finanziell übernommen, bevor ihr Schiff flugbereit war. Der Erstling kam über das Grundgerüst nicht hinaus.

Aber das muss Sie nicht interessieren. Ich habe die Firma gerettet. Auch die beständige Gefahr von Spionen soll nicht Ihr Auftrag sein. Ihrer werde ich schon Herr. Meine Ingenieure haben begonnen, mit all diesen neuen Erfindungen ein erstes Exemplar dieses neuen Luftschiffes zu bauen, das ob seiner Größe natürlich nicht geheim gehalten werden konnte.“ Der Baron stockte und sah finster zum Fenster hinaus.

Peter wartete geduldig auf das, was da kommen mochte. Er konnte sich noch immer nicht vorstellen, welche Aufgabe er erfüllen sollte. Aber der Baron würde sicher noch dazu kommen. Was den Detektiv allerdings sehr verwunderte, war die Tatsache, dass sich der Baron in das Büro eines unbekannten Einzelgängers verirrt hatte, und das auch noch persönlich. Es gab große Detekteien, die für gutes Geld auch gute, diskrete Arbeit leisteten. Was also konnte er tun, ein ehemaliger Kriminalkommissar, wozu diese nicht imstande waren?

Langsam übernahm die Neugier die Herrschaft über Peters Verstand, so dass er, als das Schweigen zu lange und zu quälend wurde, schließlich nachfragte: „Ich verstehe von dieser Technik absolut gar nichts und finde sie auch zugegebenermaßen nicht reizvoll. Die Argumente, die Sie für Luftschiffe angeführt haben, sind natürlich für einen Industriellen nachvollziehbar. Ich stehe aber lieber mit beiden Beinen auf dem Boden. Was mich interessiert, ist, was ich damit zu tun habe und warum Sie ausgerechnet hier bei mir sind. Ich könnte mir Ihre Person besser als Kunden bei den mittlerweile im ganzen Deutschen Reich verbreiteten Büros der Agentur Pinkerton vorstellen, die hier eine Marktlücke schließen wollten. Ich meine gehört zu haben, dass sie in Sonnenberg ein Büro haben, nahe der Villa Ihres Schwiegervaters.“

Der Baron lachte. Die Bewegungen seines Gesichtes bewirkten, dass sich auch das künstliche Auge entsprechend dem anderen halb schloss. Die zischenden Ventile gaben dem Lachen etwas Blechernes. „Ich sehe, Sie lesen die Klatschspalten doch aufmerksamer, als Sie vorhin zugaben. Mein Schwiegervater wohnt noch immer im Schatten der Burg Sonnenberg. Das Grafengeschlecht, das einst dort herrschte, gehört in unseren Stammbaum.

Es ist sicher ungewöhnlich, aber ich denke, Sie werden es verstehen. In der Tat bin ich auch Kunde der Agentur Pinkerton. Sie hat mir schon hervorragende Dienste geleistet. Aber diese Leute scheitern leider, sobald sie in bestimmte Bereiche … ähm … hinabsteigen müssen. Ich hatte schon unangenehme Diskussionen mit dem Chef der Agentur in Sonnenberg, weil sich seine Leute nicht die Hände dreckig machen wollen und auf die Polizei verweisen. Daraufhin habe ich mich mit dem Polizeichef in Verbindung gesetzt. Polizeipräsident von Reiffenberg verwies mich an Sonnemann, und der schickte mich zu Ihnen, als guten Kenner der Schichten, in denen man möglicherweise stochern muss, um mein Problem zu lösen.“

„Jaja, von Reiffenberg ist schließlich durch die Heirat mit deiner Lieblingscousine in Kreise aufgestiegen, die ihn vorher ignorierten, obwohl auch er von altem Adel ist. Nun muss er dir sicher oft zu Diensten sein“, dachte Peter und musste darum kämpfen, ernst zu bleiben. Zu drängend war das Bedürfnis, die Mundwinkel spöttisch nach oben zu verziehen. Es gab in der Tat selten Details über den Baron zu lesen. Meist waren es Geschichten, mit denen er nur am Rande zu tun hatte. Wie eben die angeblich arrangierte Hochzeit seiner blutjungen Cousine mit dem Polizeichef des Groß-Stadtkreises, der fast schon ihr Großvater sein konnte.

„Ich bin mir nicht zu schade, die Finger und die Klamotten dreckig zu machen, und habe hin und wieder mit dem schlimmsten Abschaum der Gossen von Höchst, Kostheim oder Sossenheim in irgendwelchen Hinterhofkneipen gebechert, wenn ich Informationen brauchte. Aber das ist gefährlich“, erwiderte er, um die Spannungen wieder zu lösen.

„Ich nehme an, in Ihrer Honorartabelle lässt sich auch so etwas wie eine Gefahrenzulage finden. Berechtigt, wie ich weiß, und ich werde nicht zögern, sie zu bezahlen, das sollte Ihre geringste Sorge sein. Kommen wir ins Geschäft?“ Der Baron legte die Fingerspitzen der menschlichen und der Maschinenhand aneinander und sah Peter an, während sich der schwere Rauch seiner Zigarre zur Zimmerdecke kräuselte.

Peter zog an seiner Pfeife und wog die Worte sorgfältig ab. Es störte ihn, dass er immer noch nicht wusste, um was es ging. Andererseits war das Angebot verlockend, ein ordentliches Honorar zu kassieren. Schließlich hatte der Adelige noch nicht nach der Höhe gefragt. „Ich wäre ein Idiot, wenn ich einen Auftrag von Ihnen ablehnen würde. Ja, wir kommen ins Geschäft. Wenn Sie mir jetzt bitte sagen würden, um was es geht?“

Der Baron schwieg weiter. Es kam Peter vor, als müsse er mit sich selbst ringen, um etwas für ihn Unangenehmes in Worte zu packen – oder so zu umschreiben, dass nicht auffiel, dass es ihn selbst bis ins Mark traf. Was diesen Mann so tief berühren mochte, entzog sich Peters Vorstellungskraft.

„Wie schon angedeutet, gab es bereits einige Sabotageakte in meiner neuen Firma. Sie waren bislang erfolglos und haben nicht viel Schaden angerichtet, aber ärgerlich sind sie natürlich schon“, fing der Baron an. „Der Erstling meines neuen Luftschiffes ist noch nicht ganz fertig. Eine Sache ist zudem bislang nicht patentiert, daher schleichen immer eine Menge Spione um die Luftschiffhalle herum. Das ist normal. Sie wollen wissen, was es ist, um es bei anderen Industriellen zu Geld machen zu können, und natürlich wird man alles versuchen, um diese Dinge patentieren zu lassen, ehe ich es tun kann.

Aber die Leute, um die es geht, wollen nicht herausfinden, was ich baue und wie. Sie wollen das Schiff zerstören. Wollen verhindern, dass wir die letzte Neuerung fertigstellen. Sie sehen die Erfindung als Gefahr für die Menschheit. Idiotie, denn es ist nur eine Maschine wie viele andere. Angeblich gehören diese Saboteure einer technikfeindlichen Sekte an. Wahrscheinlich wollen sie wieder zurück auf die Bäume, wie Affen. Die Sekte nennt sich Lebenslicht. Sie können sich meine Besorgnis sicher vorstellen, was geschehen könnte, wären sie in der Lage, etwa ein Geschütz aus dem Krieg gegen Frankreich zu organisieren, mit dem sie auf das Schiff schießen.

Das Seltsame ist, dass die Polizei von dieser Sekte noch nie gehört haben will oder keine tiefer gehenden Informationen über sie besitzt. Daher kann die Polizei sie natürlich nicht verfolgen. Die Detektei in Sonnenberg hat zumindest herausgefunden, dass es diese Sekte schon länger gibt. Je nachdem, wer sie anführte und wie die wirtschaftliche Situation war, fand sie mehr oder weniger Anhänger, die sich vorwiegend aus eben dem Abschaum rekrutierten, den Sie, Herr Langendorf, besser kennen. Kirchenvertreter behaupten, von der Sekte zwar gehört zu haben, sehen jedoch keine Gefahr in ihr. Offenbar hat die Gruppe aber gerade wieder einen besonders charismatischen Anführer, und der wirtschaftliche Niedergang treibt diesem Rattenfänger viele Menschen in die Arme.“

Wieder eine Pause. Der Baron zog an seiner Zigarre und sah dem Rauch nach, der zur ohnehin nikotingelben Decke aufstieg. Peter ahnte schon, worauf sein Auftraggeber hinauswollte, und überlegte, wie ihm die Aussicht gefiel, eine Organisation wie diese seltsame Sekte unterwandern zu müssen. Er selbst hatte von dieser Gruppe noch nichts gehört, ging aber davon aus, dass man bei der Polizei deutlich mehr wusste, als man dem Baron gesagt hatte.

„Ich denke, Ihnen ist klar, was ich von Ihnen will. Der Auftrag ist ganz einfach: Finden Sie diese Sekte und verhindern Sie den Anschlag. Finden Sie heraus, wer die Sekte führt, und unterbinden Sie sein Handeln.“ Nach einem weiteren Zug aus seiner Zigarre drückte er den üppigen Rest in dem schadhaften Porzellanaschenbecher auf Peters Schreibtisch aus. „Noch etwas: Sollten Sie etwas Ungesetzliches tun müssen, um den Anschlag zu verhindern – Sie haben nichts zu befürchten. Sie wissen sicher um meine Verbindungen. Ich habe Sonnemann in Kenntnis gesetzt, dass ich Sie beauftragen werde. Sie haben freie Hand. Schalten Sie den Sektenführer aus.“

Dieser Teil des Auftrags wollte Peter nicht gefallen, aber er nahm ihn mit unbewegter Miene hin. Was auch immer der Baron erwartete, er würde niemals so tief sinken, sich an seine ohnehin schon nicht mehr ganz sauberen Finger auch noch Blut zu schmieren. Es gab immer einen anderen Weg. Der Baron musste von seinen Skrupeln aber nichts wissen.

„Nehmen Sie an?“

Peter holte tief Luft und starrte von Wallenfels nachdenklich an. „Ja. Da es sich nach Ihren Beschreibungen um eine lokal tätige Sekte handelt, erübrigt es sich wohl, den Geheimdienst Ihrer Majestät in Berlin zu kontaktieren. Gehe ich recht in der Annahme, dass die Pinkerton-Leute schon Informationen zu ‚Lebenslicht‘ und den Hintergründen der Sabotageaktionen zusammengetragen haben? Dürfte ich diese einsehen? Je mehr ich weiß, desto schneller komme ich an die Hintermänner ran und kann ein paar Sackgassen von vorneherein ausschließen.“

„Sie werden die Unterlagen morgen in Händen halten“, gab der Baron zurück und zog einen Umschlag aus der Tasche, den er vor Peter auf den Schreibtisch legte. „Darin befindet sich ein Vorschuss, den Sie sicherlich brauchen werden, um diverse Leute zum Reden zu bringen, und das Honorar für Ihre ersten Bemühungen. Ich erwarte eine vernünftige Spesenabrechnung. Im Umschlag liegt auch eine Karte mit Kontaktadressen, über die Sie mich erreichen können. Verlieren Sie die nicht.“

„Ja, Herr Baron“, stammelte Peter und ärgerte sich über seine Nervosität.

„Ich erwarte, dass Sie regelmäßig Bericht erstatten.“ Mit diesen Worten erhob sich der Baron und drehte sich brüsk um, bevor Peter noch etwas sagen konnte. Mit schnellen Schritten verließ der Mann das Büro und verschwand.

Als er die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte, sprang Peter auf und hastete ins Wohnzimmer, das zur Straße hin gelegen war. Vor neugierigen Blicken durch die Gardine geschützt, blickte er nach draußen. Der Chauffeur erwartete seinen Herrn vor der Tür, noch immer mit dem Schirm gegen den Regen geschützt. Er hörte, wie der Baron dem Mann leise Anweisungen in einem schneidenden Tonfall gab, den Inhalt verstand er aber nicht. Der Chauffeur nickte und geleitete den Baron dann zum Wagen zurück.

Das Fahrzeug startete mit einem lauten Zischen und entfernte sich langsam. Mittlerweile stand das Wasser knöcheltief zwischen den Bordsteinen, weil nichts mehr ablaufen konnte und das Fassungsvermögen der Kanäle auf dem inneren Stadtring überschritten war. Immer mehr plätscherte über die Rinnsteine in die Vorgärten und von dort in Kellereingänge und Hofzufahrten.

Die Kinder, die in den Hofeinfahrten gelauert hatten, zogen sich zurück. Nur ein Junge blieb stehen und sah zu Peter herüber. Peter überlegte, ob er ihn rufen sollte, entschied sich aber dagegen. Es war noch zu früh für seinen eigenen Spion, da er noch nicht genug Informationen besaß. Er zog den Vorhang auf, so dass der Junge ihn sah, und schüttelte den Kopf. Erst wollte er den Bericht der Detektei in Händen halten und sich selbst um Informationen bemühen.

„Sobald ich ein paar Stündchen geschlafen habe“, murmelte Peter und kehrte in sein Büro zurück. Der Umschlag lag noch immer auf seinem Schreibtisch, und er nahm ihn in die Hand, um ihn zu öffnen.

Der Geldbetrag darin war sehr üppig, und Peter wäre fast die Pfeife aus dem Mund gefallen. Er packte das Geld in seinen kleinen Tresor hinter dem Wandschrank. Selbst für sein Wohnumfeld war der Betrag zu hoch, um ihn offen herumliegen zu lassen. „Wenn ich wirklich in den Armutsvierteln baggern muss, reicht ein Bruchteil davon als Bestechungsmittel. Aber der Baron hat, wie es scheint, wenig Bezug zu Geld – er hat es eben, und er hat nicht die geringste Ahnung, was einem einfachen Arbeiter zum Leben genügt, oder besser: genügen muss! Ob er überhaupt weiß, was die Arbeiter in seinen Fabriken verdienen?“, dachte er.

Die Karte, die nichts weiter als eine unverfängliche Kontaktadresse und zwei Telefonnummern ohne eine Namensangabe enthielt, steckte er auf eine große Korktafel. Diese nahm die gesamte Wand dem Schreibtisch gegenüber ein.

Sein Bruder Paul hatte sie immer als „Peters ausgelagertes Hirn“ bezeichnet. Das kam Peter wieder in den Sinn, als er die Karte auf die leere Tafel steckte. Zwar gab es inzwischen schon Maschinen, mit denen man Informationen sammeln, auf Lochstreifen drucken und wieder kombinieren konnte, aber diese waren teuer, klobig und noch der primitive Anfang einer neuen Entwicklung. Peter hielt sich daher lieber an althergebrachte Polizeimethoden, zumal er sich eine derartige Maschine nicht leisten konnte.

Alle Informationen und alles, was er herausfand, selbst kleinste Details, schrieb er auf Zettel und hängte sie an diese Tafel. Die Karten wurden immer wieder umgehängt oder neu zugeordnet, so dass sich irgendwann, wenn er vorangekommen war, größere Strukturen sichtbar vor ihm auftaten. Noch war die Tafel leer, da er keinen größeren Auftrag hatte.

Peter würde sie bald wieder füllen. Ein Punkt fiel ihm schon ein, aber er konnte sich nicht durchringen, ihn schon in Worte zu fassen, die auf eine Karte passten. Es war die Bemerkung des Barons, dass er sich vor einem Geschütz aus dem Krieg von 70/71 fürchtete, mit dem man sein Schiff vom Himmel holen konnte. Auch dem Baron konnte nicht entgangen sein, dass bei der letzten Waffenerfassung keine Unregelmäßigkeiten vorgekommen waren. Alles, was nicht unmittelbar noch gebraucht wurde, um das Land zu verteidigen, war der Stahlkrise zum Opfer gefallen und in den Schmelzöfen gelandet. Welche Geschütze konnte er also wirklich gemeint haben? Das war nur ein Detail in diesem großen Mosaik. Seine Trockenübungen, wenn er von der Arbeit draußen genug hatte.