Richtige und falsche Spuren

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Dass Paul in der Nacht zurückkehren würde, hatte Peter nicht erwartet. Da er aber wusste, wo er seinen Bruder finden würde und ohnehin mit Pauls Gastgeber sprechen musste, hatte er keine Skrupel, im Haus des Malers anzurufen.

Ihm war nicht bekannt, inwieweit man Telefonate überwachen konnte, weil er die Technik nicht verstand. Daher sagte er, als er eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, nur: „Auftrag zur Zufriedenheit erledigt, wie weiter?“

„Sie …“, kam es keuchend zurück. „Ich komme! Brauchen wir einen Arzt?“

„Im Moment nicht, aber schaden wird es auch nicht.“ Peter legte auf und dachte einen Moment darüber nach, ob er sich nicht vielleicht doch getäuscht hatte und sein Bruder sich an einem anderen Ort aufhielt. Dann befand er, dass der Maler nur vorsichtig war. Auch ihm stünde eine Menge Ärger ins Haus, würde bekannt werden, dass er ein Urning war. Zwar hatte er mächtigere Fürsprecher als Paul, aber das Aufsehen konnte de Cassard sich ebenso wenig leisten. Es wäre sein gesellschaftlicher Untergang. Peter ging davon aus, dass Paul mit de Cassard zusammen kommen würde.

Er kehrte ins Schlafzimmer zurück, wo er die junge Frau aufs Bett gelegt hatte. Sie war nicht erwacht, als er sie aus dem Kohlenwagen herausgehoben hatte, und ihr Schlaf hatte etwas von einer Toten. Beunruhigt überprüfte er ihre Atmung und fand sie bedenklich flach, so dass er schon bereute, nicht sofort die Anwesenheit eines Arztes gefordert zu haben. Er setzte sich auf das Schaffell vor dem Bett und lehnte sich an den Bettrahmen. Ohne es zu wollen, döste er ein und schreckte heftig auf, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Ein Blick auf den Wecker sagte ihm, dass seit seinem Anruf über eine Stunde vergangen war, seine Besucher hatten lange gebraucht.

Peter sprang auf und zog die Decke über Katharina. Das schmutzige Kleid hatte er ihr ausgezogen, er wollte ihr keine Blöße geben. Dann eilte er in den Flur, auch wenn ihm bewusst war, dass er nicht gerade angemessen gekleidet war, um Besuch zu empfangen. Er hatte sich nur der stinkenden Kleider entledigt und eine Arbeiterhose und ein Hemd übergezogen.

Im Flur stieß er mit Paul zusammen, der gerade den Maler und einen weiteren Herrn in die Wohnung einließ, den Peter nicht kannte. Ungerührt stellte er sich der Musterung des älteren Herrn mit dem weißen Backenbart. „Guten Morgen, die Herren. Sie ist im Schlafzimmer.“

Valerian stellte den dritten Mann vor, obwohl er darauf brannte, nach seiner Halbschwester zu sehen. „Guten Morgen, Herr Langendorf, ich hoffe, Sie hatten keine allzu großen Gefahren zu meistern. Das ist Doktor Tiemens, er leitet ein kleines Sanatorium am Neroberg und hat sich bereit erklärt, meine Halbschwester aufzunehmen. Ich hoffe, es geht ihr nicht allzu schlecht?“

Peter verneigte sich leicht. „Ein wenig Erholung hat sie auf jeden Fall bitter nötig. Im Moment schläft sie wie ein Stein, was ein gutes Zeichen ist. Sie ist unverletzt und, wie ich hoffe, frei von schlimmeren Krankheiten. Allerdings hat man sie unter Drogen gesetzt, wobei es sich meiner Kenntnis entzieht, um welche es sich dabei handelt. Vielleicht ist es mit einiger Zeit guter Pflege getan, was das Körperliche betrifft. Die anderen … Wunden heilt hoffentlich die Zeit.“

„Nun, das zu beurteilen hat mich Herr de Cassard so früh aus dem Bett geholt. Lassen Sie uns nachsehen.“

Tiemens folgte Peter ins Schlafzimmer, schickte aber sowohl ihn als auch Valerian wieder aus dem Raum, der auch einen Blick auf die Frau werfen wollte.

Peter drängte ihn und Paul in die Küche. „Lassen wir den Doktor seine Arbeit machen.“

In der Küche übernahm Paul das Zepter und machte Kaffee und etwas zu essen. Er sah wie der Maler ziemlich übernächtigt aus, was Peter vermuten ließ, dass es auch für sie die erste Mahlzeit war. Er konnte sich ein anzügliches Grinsen nur verkneifen, weil er selbst in der vergangenen Nacht sein Vergnügen gehabt hatte, obwohl er inzwischen seine Unvorsichtigkeit verfluchte. Er hatte sich verführen lassen, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit, dass sie eine Geschlechtskrankheit haben könnte. Was bei Huren der Gegend eher die Regel war.

Schweigend frühstückten sie, und jeder hing müde seinen Gedanken nach, bis Paul eine Fotografie über den Tisch schob. Verwirrt nahm Peter die Aufnahme und betrachtete sie. Dann wurden seine Augen groß. „Das ist der Baron, aber was hat es mit dieser Aufnahme auf sich?“

„Der Kerl, der da so aufgeregt mit den Armen rudert, dass man sie auf dem Foto nur als verwischte Windmühlenflügel wahrnehmen kann, ist der tote Gutachter Peitner. Der Kerl im Hintergrund ist der, der sich mir als Wachtmeister Obermann vorgestellt hat, aber kein Polizist ist. Ich habe ihn in aus Sonnemanns Fahndungslisten identifizieren können. Er heißt Markus Matthäus Heider.“

„Heider?“, keuchte Peter. „Brüderchen, da konntest du aber von Glück reden, nicht mit ihm alleine gewesen zu sein. Heider ist bekannt, ich habe auch mal versucht, ihn zu fassen. Ich schätze, man kann ihm ein gutes Dutzend Morde nachweisen, weitere werden vermutet. Aber ich weiß, worauf du hinauswillst. Das ist die Verbindung zwischen dem Gutachter und Wallenfels. Er wird nicht leugnen können, mit Peitner gestritten zu haben, und auch nicht, dass er Heider kennt, einen der skrupellosesten Menschen überhaupt!“

„Dieser Heider kann nicht so schlimm sein wie Wallenfels, und wenn er hundertmal ein Mörder ist“, kam es nun von Valerian, und die Brüder sahen ihn verwundert an. „Ich glaube, Wallenfels gehört zu den Leuten, die ihre Seele verkauft haben und dafür alles opfern, auch das, was sie einst zu lieben glaubten. Ich kannte seine beiden jüngeren Söhne, die Zwillinge Konstantin und Valentin. Sie sehen ihrer Mutter ähnlich, nicht ihm, so wie sein ältester, Heinrich. Aber beide entwickelten sich am Anfang weitestgehend so, wie der Vater es wünschte, obwohl die Mutter versuchte, etwas Einfluss zu behalten. Mit den Töchtern versiegte dieser Einfluss aber, sie durfte sich nur noch um die Mädchen kümmern. Bis Valentin bei einem Unfall starb. Danach war Konstantin ein anderer. Er hatte mit einem Mal keinerlei Beziehung mehr zum Vater und distanzierte sich von ihm. Was den Bruch herbeigeführt hat, kann ich nur vermuten, denn auch mir vertraute sich Konstantin nicht an. Aber es hat mit Valentin zu tun, da bin ich mir sicher.“

„Wie lange ist er schon tot?“, fragte Peter.

„Seit zehn Jahren. Sein Pferd scheute bei einem Jagdausflug in den Wäldern um Bad Homburg, als ein Wildschwein die Jagdgesellschaft angriff. Er kam noch in ein Krankenhaus, aber er lag im Koma und erwachte nicht mehr. Was danach geschah, weiß ich nicht, aber Konstantin behauptete einmal, Valentin lebe noch. Ich weiß nicht, wie er das meinte. Sie waren Zwillinge, äußerlich identisch und für einen Außenstehenden nicht zu unterscheiden. Dementsprechend waren sie einander sehr verbunden. Auf dem Familiengrab auf dem Nordfriedhof steht ein Grabstein, aber auch der ist seltsam, denn es ist das Geburtsdatum vermerkt, aber kein Todesdatum, nur das Jahr des Unfalls. Eine Trauerfeier fand nie statt, angeblich aus Rücksicht auf Konstantin, und dann geriet die Sache in Vergessenheit, weil Wallenfels seinen Unfall mit der Explosion hatte – deren Ursache auch nie geklärt wurde.“

Peter schüttelte frustriert den Kopf, denn all das ergab keinen Sinn. Zu allen Rätseln um die Sekte kam nun noch ein geheimnisvoller Toter dazu. „Ich gehe davon aus, dass Konstantin damit meinte, dass sein Bruder in ihm selbst noch immer weiterlebt. Das kann man bei Zwillingen verstehen. Wenn sie einander so ähnlich waren, dann fühlte er sich wohl, als wäre ein Teil von ihm mit dem Bruder gestorben. Aber vielleicht wirft er seinem alten Herrn ja die Schuld an Valentins Tod vor – oder nicht genug Anteilnahme. Das zu glauben hätte ich auch keine Schwierigkeiten.“

Alle drei lachten gequält.

„Valentin lag lange im Koma. Der Körper starb langsam, und sein Geist war darin gefangen. Ich denke, der Zwilling spürte das und war deshalb so darüber entsetzt, dass man den Körper bei vollem Bewusstsein des Geistes sterben ließ. Vielleicht weiß der Zwilling einfach mehr über das Verhältnis zwischen Geist und Körper, als wir Ärzte je herausfinden können. Die Entscheidung, Valentin sterben zu lassen, hat Wallenfels getroffen“, meldete sich Tiemens zu Wort, der nun die Küche betrat. „Ich war damals Assistent des ehemaligen Besitzers meines Sanatoriums und erinnere mich noch gut an die Diskussionen. Man wollte Valentin in unser Haus holen, weil wir damals die Vorreiter in Sachen künstlicher Ernährung von Komapatienten waren. Konstantin bestand darauf, weil er steif und fest behauptete, sein Bruder kommuniziere noch mit ihm und wolle nicht sterben. Manchmal bekommen solche Patienten die Macht über ihren Körper zurück. Aber Wallenfels war dagegen und schickte uns fort. Was danach aus Valentin wurde, weiß ich nicht. Er war damals, glaube ich, vierzehn oder fünfzehn. Traurig. Wirklich traurig. Vor allem für Konstantin.“

Die drei Männer in der Küche hingen an Tiemens‘ Lippen und nahmen seine Erklärungen in sich auf. Paul sprang von seinem Stuhl und bot ihn dem Mann an, der sich dankend niederließ und die Tasse Kaffee annahm, die ihm Paul reichte. „Was die junge Dame anbelangt: Sie ist erstaunlich. Wäre sie ein Mann, würde ich sagen, eine Kämpfernatur. Man hat sie verprügelt, vergewaltigt und unter Drogen gesetzt, das ist korrekt. Trotzdem ist sie in guter körperlicher Verfassung, trotz der sichtbaren Zeichen einer gewissen Unterernährung und Dehydrierung. Vor allem finde ich erstaunlich, dass sie keine Geschlechtskrankheiten zu haben scheint. Ich denke, bei guter Pflege wird sie bald wieder auf den Beinen sein und keine Spuren ihres Martyriums zurückbehalten. Nur in ihre Seele, wie Herr Langendorf schon ganz richtig sagte, kann auch ich nicht blicken. Da kann man nur auf den wohltuenden Einfluss der Zeit hoffen.“

Peter fiel ein Stein vom Herzen, als er hörte, dass er sich keine Geschlechtskrankheit eingefangen haben konnte, und entspannte sich. Der fragende und leicht belustigte Blick seines Bruders entging ihm allerdings nicht, und er drohte ihm vor den anderen verborgen mit dem Finger. „Dann wird es wohl das Beste sein, Sie nehmen sie gleich mit. Ich suche ein paar Kleidungsstücke zusammen … von unserer Mutter, sie hatte in etwa die gleiche Statur. Irgendwo habe ich eine Kiste mit ihren Kleidern.“

„Ich denke auch, je eher sie in ärztlicher Obhut ist, desto besser.“

Peter erhob sich und kramte den Speicherschlüssel aus der Flurkommode. Er suchte den Schrankkoffer, der allerdings wegen des beschädigten Zwerchhauses den Platz gewechselt hatte. Erstaunt sah er, dass bereits neue Dachbalken eingezogen waren. Die Handwerker, die Paul beauftragt hatte, waren schon tätig geworden.

In dem Koffer fand er Unterwäsche und einfache Oberbekleidung, einen Rock und eine schlichte Bluse, die fürs Erste ausreichen würde, zumal er sich nicht sicher war, ob es wirklich passte. Wenn Katharina wieder bei Kräften war, würde Valerian sicher neue Kleidung für sie beschaffen.

Oder er …

Den letzten Gedanken schlug er sich aus dem Kopf. Natürlich hoffte er, dass sie ihn in guter Erinnerung behielt und nicht vor ihm zurückschrecken würde, wenn er ihr erneut begegnete. Aber wie viele Chancen hatten sie für einen gemeinsamen Weg?

„Lass es auf dich zukommen, Alter!“, schalt er sich und beeilte sich, mit der Kleidung in die Wohnung zurückzukehren.

Der Arzt nahm die Sachen und bestand darauf, das selbst zu erledigen. So standen die drei Männer unschlüssig im Flur, bis Tiemens zurückkam und Peter bat, die junge Frau in die wartende Droschke zu bringen.

In der Kleidung seiner Mutter sah Katharina befremdlich aus, obwohl sie ihr tatsächlich recht gut passte, sah man davon ab, dass die Sachen ein wenig zu weit um den mageren Körper schlabberten. Aber die biedere, bürgerliche Kleidung passte nicht zu der trotz der Spuren von Misshandlung noch immer auffälligen, strahlenden Gestalt. Er seufzte, als er sie auf den Arm nahm und zur Droschke trug. Die biedere Kleidung würde ihr helfen, in der noblen Gesellschaft im gediegenen Nerotal nicht zu sehr als das aufzufallen, was sie bislang gewesen war: ein Bastard, der in ein schlechtes Umfeld geraten war. Tiemens folgte ihm auf dem Fuß und wartete bei der jungen Frau auf seinen Begleiter de Cassard.

Peter verabschiedete sich schnell, um seine Gefühle für die noch immer schlafende Frau vor ihm zu verbergen, und kehrte in die Wohnung zurück. Er spähte aber erst durch einen Spalt in der Tür, um niemanden unangenehm zu überraschen. Diese Eingebung war auch korrekt, wie er schnell feststellte, denn sein Bruder und Valerian standen in der Küche und küssten einander innig. Er schlich die kurze Treppe zurück und trat etwas fester auf, um sein Kommen anzukündigen.

Trotzdem machten die beiden ein Gesicht wie beim Apfelklau ertappte Kinder. Valerian verabschiedete sich und dankte Peter für seine erfolgreiche Arbeit. Dann folgte er nach einem kurzen Blick zu Paul Tiemens in die Droschke, die sich sofort entfernte.

Paul lächelte verlegen, als Peter grinste. „Hör schon auf, Paul, ich werfe dir nichts vor, und solange du vorsichtig bist, tu was du willst! Mache ich auch!“

„Nur ist es rechtlich ein Unterschied, ob ein Mann eine offensichtlich lässliche Sünde mit einer Frau begeht oder ob er sich der Sodomie hingibt. Was immer du treibst, viel kann dir nicht passieren. Wenn, dann der Frau. Aber wir beide stehen bei noch so kleinen Vertrautheiten mit einem Fuß im Gefängnis“, seufzte Paul. Dann zog sich auch um seine Mundwinkel ein Lächeln. „Aber es bereitet trotzdem viel Spaß.“

„Daran zweifele ich nicht.“

„Was nun? Was machst du jetzt, da du einen Teil deiner Aufgaben gelöst hast?“

„Mich den anderen widmen. Ich bekomme hier ein Rätsel nach dem anderen aufgetischt und kann sie nicht verknüpfen. Ich muss den jungen Wallenfels erwischen, muss wissen, warum er tut, was er tut, und dann … nun, ich kann nicht für den Alten arbeiten und den Jungen unterstützen. Oder doch? Wie auch immer, ich muss aus dieser peinlichen und gefährlichen Geschichte irgendwie herauskommen, und nebenbei müssen wir Wallenfels ruhigstellen und das Problem mit den Ratten lösen. Die werden nämlich zur echten Plage.“

„Wie weit sind sie denn schon gekommen?“, fragte Paul. Seine Miene und sein Tonfall drückten Unbehagen aus.

„Auf jeden Fall bis Kastel. In Biebrich verhindert die Sekte das Schlimmste. Sie geben Warnungen und Desinfektionsmittel aus, das Viertel ist noch nicht so heruntergekommen wie die anderen am Fluss. Aber die Ratten können auch den Sprung über den Schlosspark hinaus schaffen, ins Parkfeld und nach Schierstein. Dann haben wir ein Problem. Sie haben vergangene Nacht die Aufregung verursacht, die uns die Flucht ermöglichte, aber ich schätze, es hat einige Opfer gegeben, nicht nur unter den Ratten mit vier Beinen. Dafür bin ich den Bestien sogar dankbar. Aber ich habe gesehen, wie aggressiv die Tiere sind. Eine normale Ratte flieht den Anblick eines Menschen, oder? Außer man treibt sie in die Enge, dann beißt sie. Diese Viecher greifen sofort an und scheinen sich ihrer Kraft vollauf bewusst zu sein.“

Paul nickte, als er die Erklärung hörte, und eilte dann in Peters Büro, um einen Plan des Groß-Stadtkreises zu holen. „Bis wohin in Kastel?“

Peter wies auf den Kilometerpunkt am Rhein, an dem sich der Einstieg der Reduit befand. „Unter der Reduit und darüber hinaus erstreckt sich ein unterirdisches Reich des Verbrechens. Ich überlege, ob ich Sonnemann einen Tipp gebe, damit er dort aufräumt. Wir sind durch einen großen Kanal getürmt, der sich wie ein Y teilte. Ausgestiegen sind wir in einem Schacht unter der Unterführung der Bahnlinien zum Dyckerhoff-Bruch. Der Kanal muss von da aus schräg unter der Bahnlinie durchgehen, wahrscheinlich in die Mainzer Straße, wenn er nicht irgendwo einen Knick macht.“

Pauls Blick folgte Peters Finger, der auf dem Plan hin und her fuhr, sein Gesicht drückte Verwirrung aus. „Diese Kanäle sind frei durchgängig? Dann haben wir die Biester bald in der Innenstadt. Komisch, dass die Ratten auf zwei Beinen das noch nicht erkannt haben. Das Einzige, was für uns arbeitet, ist die Tatsache, dass in der Innenstadt im Kanal nicht so viel Müll und Essensreste verschwinden wie in anderen Gegenden. Die Müllabfuhr ist dort besser geregelt, nichts landet auf der Straße oder auf Müllhalden in Hinterhöfen, und die Abwasserkanäle der Häuser werden regelmäßig gespült. Aber ich dachte, die Kanalsysteme seien getrennt worden, um die Innenstadtviertel unabhängig zu machen. Die Verbindung, die du benutzt hast, beweist, dass nicht überall ein sauberer Schnitt gemacht wurde. Langsam gönne ich es den Herrschaften, dass sie selbst zu spüren bekommen, was sie mit ihrer Besessenheit angerichtet haben.“

„Könntest du einen Plan der Kanalisation auftreiben?“, hakte Peter nach.

„Eine Übersicht der Hauptsammler oder für alles?“

„Was mir vorschwebt, ist eine Art unterirdischer Straßenkarte. Ich brauche nicht alle Hausanschlüsse, aber alles, was man als Mensch begehen oder bekrabbeln kann.“

„Ich schätze, so etwas findest du für die Innenstadtbereiche und Randgebiete bei der Polizei. In den Vorstädten dürfte das, was bei den Behörden liegt, für deine Zwecke überflüssig sein – denn für die Grabungsarbeiten, die du beschrieben hast, die Stadt unter der Stadt, findest du sicher nirgendwo aufschlussreiche Pläne, und ich habe auch keine Ahnung, ob man in Wiesbaden oder anderswo im Groß-Stadtkreis Pläne von Kastel oder Kostheim bekommen kann. Du darfst nicht vergessen, dass die beiden Orte zusammen mit Amöneburg einst zum Großherzogtum Hessen gehörten und erst seit dem Krieg eingemeindet sind. Aber die Idee mit Sonnemann und dem Aufräumen hat etwas für sich. Dann können die Herrschaften nicht mehr so schnell die Orgien der hohen Tiere bedienen.“

„Ich habe eine bessere Idee …“, murmelte Peter, der wegen eines Geräusches vor der Haustür ans Fenster getreten war. Sein Lächeln hatte etwas Teuflisches, als er auf das erste Klingeln an die Wohnungstür stürzte und sie öffnete. Seinem Bruder, der verblüfft auf die beiden Gestalten vor der Tür starrte und kurz vor einem schallenden Gelächter stand, warf er einen warnenden Blick zu.

Zwei Pinkertons traten mit hochmütig gehobenen Nasen und abfälligen Blicken auf die Brüder Langendorf ein. „Der Baron wünscht, von Ihren Ermittlungsergebnissen zu erfahren“, schnarrte der ältere der beiden Männer ohne eine Begrüßung.

„Mit Vergnügen! Treten Sie ein, ich möchte Ihnen etwas Wichtiges mitteilen. Ich weiß, wo sich die Sekte trifft und wann sie das nächste Mal zusammenkommt. Sie können dann dafür sorgen, dass sie ausgehoben wird“, erklärte Peter und schob die beiden ins Büro. „Paul, könntest du mir mit einem Plan der entsprechenden Kanäle helfen? Ich brauche jemanden mit deinem architektonischen Wissen und deinem Konstruktionstalent.“

Er sah, wie Paul sich auf die Unterlippe biss, bevor er antwortete: „Aber gern!“

Peter nahm den alten Plan und erklärte den Männern, was er meinte. „Die Sekte trifft sich in unterirdischen Räumen in der Nähe der Reduit, die man durch einen Einstieg am Rheinkilometer 498,4 betreten kann. Dort unten ist alles, was das konspirative Herz begehrt: eine Wirtschaft mit reichlich Bier und Schnaps, ein Bordell in Kellerräumen, die man zu den Gebäuden hin, zu denen sie eigentlich gehören, zugemauert hat, und Räumlichkeiten für Treffen größerer Gruppen von Menschen. Man kann sich nicht nur von dem Zugang am Rhein aus, sondern auch durch diverse, gut begehbar gemachte Kanäle dorthin bewegen, und zwar geht – Paul, zeichnest du das bitte gleich ein? – von der Unterführung Biebrich-Dyckerhoffbruch ein Sammler direkt ins Herz der Finsternis, wie ich es getauft habe. Die Sekte fühlt sich dort sicher, denn sie scheint andere Ziele zu verfolgen als der Besitzer dieser Anlage. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Spitzname ‚Fuchs’ etwas sagt. Ich war in der vergangenen Nacht dort und weiß, dass sie in der übernächsten Nacht wieder tagen wird. Sie will dann ihre nächsten Schritte genauer planen und in die Tat umsetzen. Wegen des Auftauchens seltsam mutierter Ratten ist sie in letzter Zeit nicht dazu gekommen. Ich nehme an, es war ruhig in den vergangenen Tagen?“

Es fiel ihm schwer, sich angesichts des Mienenspiels der Pinkerton-Männer zu beherrschen, und versuchte, möglichst finster dreinzuschauen, als er Paul ansah. Doch das schien diesem noch mehr die Beherrschung zu nehmen. Paul kaute heftig auf dem Ende seines Bleistiftes herum, um nicht mit Lachen herauszuplatzen oder ganz zu explodieren. Es war ein zu schöner Anblick.

Die Pinkertons waren angesichts der Aussicht auf einen Besuch in der Unterwelt blass geworden. Trotzdem hoffte Peter, sie würden handeln. Gelogen war das, was er ihnen erzählt hatte, ja nicht gewesen. Zudem war es eine Chance, dem Fuchs für eine Weile die Einnahmequellen zu stopfen oder wenigstens zu kürzen und ihn vorsichtiger werden zu lassen. Die gefangenen Mädchen würden freikommen. Auch wenn es für sie keine Zukunft gab, konnten sie wenigstens der Sklaverei entfliehen. Der Drogenhandel würde für eine Weile stagnieren. Vielleicht würde es Peter auch den Weg zu Konstantin ebnen, wenn er glaubhaft machen konnte, dass er die falsche Spur gelegt hatte.

„Nun …“, begann der Ältere. „Dann werden wir wohl morgen die Versammlung sprengen.“ Sein Versuch, dabei kämpferisch und siegessicher zu wirken, ging völlig daneben.

Paul hatte begonnen, die Kanäle und Zugänge, die Peter ihm beschrieben hatte, in die Karte einzuzeichnen. „Wo ist jetzt ungefähr was?“

Peter dachte noch einmal über seinen Abstieg in die Unterwelt nach und überlegte, welche Richtungen er eingeschlagen hatte. Dann tippte er mit dem Finger auf verschiedene Stellen im Plan. „Hier müsste die Gastwirtschaft sein, da der Raum, von dem ich vermute, dass er als Versammlungsraum dient, und hier geht’s ins Bordell. Am Sammler entlang. Der stößt irgendwo mit dem zusammen, den man durch den Schacht in der Unterführung erreicht.“

Paul zeichnete die Sachen konzentriert ein, um sein Grinsen zu verbergen, und gab ihn dann an den älteren Pinkerton-Mann weiter. Der nahm ihn mit einem Gesichtsausdruck entgegen, als müsse er eine Ratte anfassen.

„Sie sollten auf jeden Fall Hauptkommissar Sonnemann informieren, oder soll ich das tun? Er hat gute Chancen, dort einen seit langem gesuchten Verbrecher zu finden – den Fuchs. Der Gedanke gefällt ihm bestimmt, und er wird Sie sicher gern unterstützen“, fuhr Peter fort und weidete sich an den Gesichtern der Männer.

„Ja, sicher, ohne die Polizei machen wir nichts, wir werden HK Sonnemann selbstverständlich in unser weiteres Vorgehen einbinden. Vielen Dank, wir werden es dem Baron berichten. Weitere Sabotageaktionen sind noch nicht geplant?“, wechselte der Detektiv schnell das Thema.

„Derzeit nicht, man wollte einen Mann einschleusen, der die Lage peilt. Aber auf diesen Vorschlag haben sich so viele Männer beworben, ich weiß nicht, wen sie genommen haben. Außerdem war es fürchterlich dunkel, Gesichter waren überhaupt nicht zu erkennen“, stellte Peter theatralisch dar. „Seltsam fand ich nur, dass die Sekte alles andere als technikfeindlich erscheint. Ganz und gar nicht. Ich meine, sie wollen nicht alle Luftschiffe vernichten, nur dieses eine. Weil da irgendetwas drin sein soll, das gegen Moral und Gesetz verstößt. Können Sie sich vorstellen, was an dem Luftschiff so schlimm sein soll, außer dem Namen? Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es sinnvoll war, dem Schiff den Namen eines alten Dämons zu geben – nur meine Meinung, Sie wissen ja, nomen est omen. Vielleicht sollte der Baron einfach mit seinen wunderbaren neuen Erfindungen in dem Schiff mehr an die Öffentlichkeit gehen. Ich glaube, das könnte vieles verhindern.“

Die beiden starrten Peter finster an und schienen sich nicht darüber im Klaren zu sein, was er mit diesen vorsichtigen Hinweisen bezweckte. „Wir werden es ihm sagen. Hier ist schon mal eine kleine Anerkennung Ihrer Arbeit, machen Sie weiter!“, bellte der Ältere und warf einen Umschlag auf den Schreibtisch. Dann wandten sie sich grußlos ab und verschwanden eiligst.

„Wenn das funktioniert, schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe, oder?“, fragte Paul, dessen Ohren Besuch von den Mundwinkeln bekamen. „Du räumst den Fuchs aus dem Weg, verhinderst weitere Orgien, weil du sein Geschäft lahmlegst, und kannst dich bei der Sekte anbiedern, weil du die Herrschaften auf eine falsche Spur geführt hast. Nur eine Antwort auf deine Fragen hast du nicht bekommen.“

„Nein, ich schätze, die beiden tumben Trottel kennen auch keine. Deren Intelligenz ist adäquat mit der ihrer Melonen. Dumm wie Brot!“

„Da tust du dem Brot unrecht!“, mahnte Paul mit erhobenem Zeigefinger. „Wenn Brot schimmelt, hat es mehr intelligente Lebewesen auf sich als diese beiden Herren funktionstüchtige Hirnmasse unter ihrem Schädeldach.“

Das war das Ventil, das sie brauchten. Peter kannte seinen Bruder nicht so schlagfertig, und so lachten sie beide prustend los. Als sie sich wieder beruhigt hatten, öffnete Paul das Kuvert, das die Pinkerton-Leute hinterlassen hatten. „Üppig, Brüderchen, der Baron lässt sich die Sache was kosten.“

„Ja, das wird uns weiterhelfen. Ich habe gesehen, oben sind zumindest schon mal neue Dachbalken. Dachte, die wollten erst heute kommen?“

„Dann hatte der Zimmermann gestern noch ein bisschen Zeit und hat schon mal vorbereitende Arbeiten gemacht. Das Wetter war schließlich halbwegs trocken, da arbeiten sie länger. Ich kümmere mich nachher darum. Was hast du heute vor?“

„Ich werde eine Pause machen. Was drängte, ist erst mal erledigt. Katharina ist gerettet. Alles andere sollten wir mit viel Ruhe weiterführen. Ich kann nur scheitern, wenn ich kopflos handele. Etwas Recherche, und gut ist. Schlafen kann ich im Moment nicht. Hoffentlich finde ich heute Nacht mal Ruhe.“