Scheinangriff
Es war schwer gewesen, in die Nähe des Luftschiffhafens zu gelangen. Aber Peter hatte es sich nicht nehmen lassen wollen, dabei zu sein, wenn die Gruppe um Konstantin die Pinkerton-Leute und die Wachen an der Halle foppten. Unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, um am meisten mitzubekommen, studierte er in einer Ecke des Bahnhofs, wo ihn niemand sehen konnte, seinen Straßenplan. Aber er war anscheinend doch entdeckt worden und erschrak fürchterlich, als sich ihm eine Hand auf die Schultern legte.
Peter fuhr herum und musste den Kopf in den Nacken legen, um den Mann zu erkennen: Johann.
„Willste mitspielen?“, fragte er grinsend.
„Ein bisschen ein Auge drauf haben und helfen, wenn’s brennt. Ich nehme an, der Chef hält sich bereit, und sobald es kracht, ist er drin?“
„Ja. Ich will direkt an nen Zaun, im Westen vonne Anlage. Von da aus hat mer de beste Überblick über de Halle. Is aber wohl auch die am beste bewachte Eck, was meinst?“
Peter warf einen Blick über den Bahnsteig und entdeckte zwei typische Pinkertons. Sie fielen in der dörflichen Umgebung mit ihrer Stadtkleidung auf wie bunte Hunde. Beide trugen zudem einen kleinen, metallbeschlagenen Lederkoffer an einem Schulterriemen mit sich, auf dem ein Symbol prangte, das Peter nur allzu gut kannte. Ein stilisiertes Auge in einem Kreis stand für die Firma Jonson & Heckler, die kleine, handliche Dampfdruckpistolen mit einem dezenten Ätherkessel herstellten. Diese Waffen hatten eine enorme Reichweite und Durchschlagskraft. Die Pinkerton-Männer waren zu allem entschlossen.
Schnell zog Peter Johann mit sich, bevor die beiden sich umdrehten und sie entdeckten. „Auf jeden Fall ist es die Ecke, in der man die Augen am weitesten offen halten muss. Komm.“
Er konnte nicht sagen, ob es Paranoia war oder ob tatsächlich so viele Detektive in den Straßen Kelsterbachs patrouillierten. Die Polizei war auch zahlreicher als sonst vor Ort und kontrollierte alle Männer, die vom Bahnhof kamen. Bevor sie ihn und Johann bemerken konnten, schob Peter seinen Begleiter wieder in eine Seitenstraße, nur um gleich einen Hof zu betreten und in einem Schuppen zu verschwinden, weil er aus den Augenwinkeln bemerkt hatte, dass ihnen zwei Männer in Zivil folgten.
„Was fürn Aufgebot! Wie gut, dass mir de Rauchbombe schon vorgestern in de Verstecke deponiert ham und nich mit uns rumschlebbe müsse!“, flüsterte Johann und starrte über Peters Kopf hinweg nach draußen.
„Das rettet euch bei den Kontrollen. Aber unser Weg wird jetzt um einiges länger!“, gab Peter zurück. „Komm, ich weiß eine sichere Route …“
Der Weg war ihnen nicht unvertraut. In einer Seitenstraße hob Peter einen Kanaldeckel an, und sie verschwanden im Boden. Paul hatte ihm die Informationen über das schlecht ausgebaute Kanalnetz Kelsterbachs beschafft, und so kamen sie wenigstens bis an den Ortsrand, wo der Kanal, den sie benutzten, am Überlauf der Jauchegrube eines Bauernhofes endete. Selbst wenn sie keinen Plan gehabt hätten, dieser Ausstieg wäre ob seines für einen Stadtbewohner fremdartig wirkenden Gestankes nicht zu verfehlen gewesen. Er bewirkte, dass sich sogar Johann die Nase zuhielt, der Kanalgeruch gut kannte.
„He, das ist gute Landluft!“, lästerte Peter, als er es im Licht seiner rußenden Karbidlampe bemerkte.
Johann grunzte und kletterte voran. Oben hob er vorsichtig das Gitter neben der barbarisch stinkenden Grube. „Die Luft ist roi – sieht mer von de gute Landluft ab“, spottete er zurück und kroch im Schutze der Grubenmauer aus dem Schacht.
Peter folgte ihm und hockte sich an die Mauer. Dann streckte er sich vorsichtig und spähte hinüber. Ein Grinsen zog sich über seine Wangen, als er einer gemütlichen, braun-weiß gescheckten Kuh in die Augen sah. Das Tier streckte ihm neugierig seine feuchte, rosa Nase entgegen und versuchte, Peter mit seiner rauen Zunge zu erreichen.
Menschen waren weit und breit nicht zu sehen, dafür begann in unmittelbarer Nähe der Kiefernwald um den Luftschiffhafen. „Ab durch die Mitte, in den Wald.“
Sie sprinteten los, setzten über zwei hölzerne Weidezäune und tauchten ins spärliche Brombeergestrüpp ab. Johann ging zielsicher weiter, bis er in die Nähe einer Umzäunung gelangte, die mit einer Krone aus mehreren Windungen Stacheldraht versehen war. Unter einem Baum zog er das Gestrüpp weg. „Komm, helf mer ma, hier is eins der Verstecke“, forderte er Peter auf.
Unter den geschickt drapierten Brombeerranken war die Erde locker und ließ sich mit dem Fuß beiseiteschieben, weil sie auf einem Holzdeckel lag. In dem Loch darunter fanden sich rund zwei Dutzend Rauchgranaten, wie Peter sie Johann beschrieben hatte. „Ihr wart ja richtig fleißig. Hut ab!“
„Mir ham engaschierde Frauen. Was glaubsten du, wie die uff die Geschichte vom Baron reagiert ham? Mir Männer ham nich so verstanne, warum Konstantin weche der Behandlung von seim Bruder so neben der Spur is. Mir fanden des schon pervers, aber ich glaub, unser Frauen ham schneller kapiert, was des für die Zukunft bedeute tut. Für unser Kinner. Mir arm Leut wern am End vielleicht nur Menschenmaterial für solche Irre wie de Baron sein. Sin mir prinzipiell ja jetzt schon, aber was ist, wenn mer nachher ooch noch Ersatzteillacher für Maschinen sin? Gar keen Lebe mehr führen? Das wäre denen da obbe sicher ganz recht, die könne doch ooch auf des Volk verzichte, solange irschendwas da ist, das ihren Reichtum mehrt. Unser Frauen ham als erste gesagt, dass mir was tun müssen gesche den Wahnsinn, und so wars kein Problem, se dafür zu gewinne, die Dinger hier zu bauen.“
„Ein Hoch auf die Damen!“ Peter packte sich eine paar Granaten in die Taschen seines Mantels.
„Haste auch eine?“, fragte Johann.
„Nein … noch nicht, aber was in Aussicht“, gab Peter augenzwinkernd zurück.
Hinter ihnen knackte ein Ast, und sie fuhren herum, doch Johann entspannte sich sofort wieder, weil er zwei Männer aus seiner Truppe erkannte, die sich ebenfalls aus diesem Lager bedienen wollten. Sie trugen Äxte bei sich und grinsten. „Max und Josua. Die beiden wern sich mitter Rohrleitung beschäftische. Nich direkt mittem Rohr, aber mittem bisschen Holz, das unter den Rohren qualmt. Kann denen ja nicht schade, is ja aus Stahl, macht aber viel her!“, erklärte Johann, während Peter den beiden Männern, die Brüder zu sein schienen, die Hand gab.
„Gut. Macht es aber nicht bei den Aufliegern der Rohre. Da ist Holz verarbeitet. Wir wissen nicht, was tatsächlich durch die Rohre fließt, deshalb ist es möglicherweise gefährlich, wenn die Rohre durchhängen. Nicht, dass sie an den Schweißstellen reißen und etwas ausläuft“, teilte Peter den Männern seine Bedenken mit.
„Das issen guter Punkt, schreibts euch hinter die Ohren!“, sekundierte Johann und verbarg das nunmehr leere Loch wieder. Die Männer zogen ab, und Johann lief mit Peter weiter. Es war nun stockdunkel, aber die Dampfscheinwerfer auf dem Dach der gigantischen Halle machten den Platz um das Bauwerk taghell und schälten die großen Mengen bewaffneter Männer deutlich heraus, die aufmerksam den Zaun beobachteten.
Peter und Johann verbargen sich im Schatten mächtiger Eichen, um unbemerkt auf das Flugfeld blicken zu können. Johann zog eine altertümliche Taschenuhr aus seiner Jacke und warf einen Blick darauf. „Inner viertel Stunde gehts los. Alle zusammen. Bleibst hier? Ich versuch, was weider zum Tor an de Ostseite zu komme. Anfangen wirds mittem große Knall, der nix kaputt mache soll. Nur paar Gaskartusche.“
„Ist gut, ich treibe mich hier rum und versuche, euch den Rücken freizuhalten, wenn ich Probleme sehe“, verabschiedete sich Peter und wartete, bis Johann verschwunden war. Langsam und bedächtig setzte auch er sich in Bewegung, in der Hand eine Granate, für den Fall, dass er seine Flucht schnell tarnen musste.
Stimmen in seiner Nähe ließen ihn hinter einem Baum verharren. Es konnte niemand von Konstantins Leuten sein, denn Peter kannte die Männer inzwischen als clevere Strategen, die sich ganz gewiss nicht durch laute Unterhaltungen verraten würden. Ein Blick um den Stamm des Baumes herum bestätigte seine Annahme. Es waren zwei Bewaffnete mit starken Dampfdruckgewehren, die wie ihre schwarzen Uniformen das Pinkerton-Siegel trugen. Peter konnte nun ihre Unterhaltung verstehen und begann, ein stilles Gebet zu sprechen, sie mögen doch endlich ihren Weg ändern. So wie sie im Moment liefen, würden sie ihn entdecken, sobald sie den Baum passierten, und er wappnete sich schon mal für einen Fluchtversuch mit der Rauchgranate.
Die beiden stellten ihre Waffen im Laub ab und drehten sich in aller Ruhe Zigaretten, während sie sich unterhielten. „Scheißjob heute Nacht. Wer sagt denn, dass was laufen soll?“
„Der Typ, den sie in die Elendsviertel zu der Sekte geschickt haben, so ’n privater Schnüffler. Hat gehört, hier soll’s heut’ Nacht rundgehen.“
„Privatschnüffler? Ey, das sind wir auch. Was’n das für’n Typ? Zu blöd, um bei Pinkerton einzusteigen?“
„Soll vorher bei den Kriminalen gewesen sein, ziemlich hoch oben. Hat sich aber mittem Präsidenten angelegt und macht jetzt auf Einzelgänger. Ist sich auch für die schlimmsten Ecken nicht zu schade, das soll den Reiz an dem ausmachen. Ist mir recht. Denk mal an die armen Rekruten, die sie in Kastel in die Kanäle geschickt haben. Soll auch ’n Tipp von dem Typen gewesen sein und war wohl auch echt erfolgreich, auch wenn der Oberboss entkommen konnte.“
„Ist trotzdem unter allem Niveau, was wir hier machen. Wovor ham die Angst? Das ’n paar Deppen aus der Unterstadt kapieren, was abgeht? Wissen wir ja selbst nicht und ist mir auch scheißegal, solange der Alte pünktlich zahlt. Was könnte die Deppen hier schon interessieren? Das sind doch alles Idioten.“
„Lass gut sein, schlagen wir uns die Nacht eben um die Ohren, gibt doch Zulagen, und die meisten von den Revoluzzern werden sicher schon am Bahnhof abgefangen. Kommen bestimmt nicht zu Fuß von Wiesbaden oder fliegen ein.“
Peter hörte, dass sie weiter in seine Richtung marschierten. Sie konnte kaum mehr als vier Schritt von ihm entfernt sein, und er hob die Hand, um die Rauchgranate zu werfen.
In diesem Augenblick erscholl hinter ihm ein ohrenbetäubender Knall, und die Helligkeit der Flutlichter wich flackerndem Feuerschein. „Scheiße!“, fluchte einer der beiden Wächter. „Auf, zum Flugfeld!“
Peter atmete auf und ließ die Hand sinken. Dann spähte er um den Baumstamm und sah die beiden in einiger Entfernung rennen. Er folgte ihnen. Das Feuer war weiter südlich am Zaun, und Peter sah ein großes Gewimmel. Viele Wachleute machten sich auf den Weg zu dem vermeintlichen Anschlag, als es an der entgegengesetzten Seite ebenfalls krachte und noch ein Brandherd entstand. Feuerschein war auch aus dem Wald zu sehen. Dazu qualmte es an allen Ecken des Zaunes, so dass die Wachleute nicht mehr wussten, wo sie anfangen sollten. In Zweiergruppen schwärmten sie aus und liefen völlig unorganisiert durcheinander. Wie Bienen, deren Brutstock mehrere Stöcke durchbohrten. Peter grinste, als er mehrere Wachleute in seine Richtung kommen sah. Er warf die Rauchbombe über den Zaun, wo sie kurz vor dem ersten Mann zerschellte und sofort einen unbeschreiblichen Qualm verursachte. Er selbst zog sich in den Wald zurück und hastete zu dem Punkt, zu dem Johann gelaufen sein musste. Peter ging davon aus, dass der Riese genau wusste, wo Konstantin sich aufhalten würde.
Am Osttor herrschte ebenso helle Aufregung wie überall sonst, aber das Chaos schien dort noch größer zu sein. Der Qualm mehrerer Granaten hing in der Luft und wurde von einer Vielzahl Gaslampen von innen heraus unheimlich ausgeleuchtet. Im Nebel reflektierten die Partikel der Rauchbomben das Licht, so dass es innerhalb der Wolke quasi unmöglich war, sich zu orientieren. Irgendjemand begriff, dass die Lampen eher hinderlich waren, und schaltete sie der Reihe nach aus. Doch für ein Holzgasautomobil kam diese Erkenntnis zu spät, es schlingerte ziellos durch den Dunst. Peter duckte sich hinter einen Holzstapel und beobachtete das Fahrzeug. Der Fahrer hatte die Orientierung verloren und kam von der Straße ab. Das Gefährt kippte in den Graben.
Zwei weitere Granaten flogen von irgendwoher. In dem Qualm, der von der Flutlichtanlage auf dem Dach der Halle immer noch zum großen Teil erhellt wurde, konnte Peter zwei Schemen erkennen, die durchs offene Tor aufs Gelände hasteten. Ein großer, mächtiger und ein kleinerer, zierlicher. Peter schlug einen Bogen um das Fahrzeug und schlich sich an den Wachen vorbei, um den beiden Schatten zu folgen. Da er außerhalb des Qualms lief, erkannte er als erster die Gefahr, die den beiden drohte. Eine Handvoll Pinkertons legte Gewehre auf die Schatten an.
„Stehenbleiben!“, brüllte der älteste der Männer. Tatsächlich blieben die beiden stehen. Wind kam auf und drohte, den Qualm zu vertreiben, was die beiden deutlich sichtbar gemacht hätte. Peter warf eine weitere Granate direkt vor die Gewehre, und die Männer wurden eingehüllt. Sie begannen zu husten, und ihre beiden Ziele konnten entkommen. Peter hastete auf den ihm am nächsten stehenden Wachmann zu, schlug ihm den Ellbogen in den Nacken und entwand ihm das Gewehr. Dann folgte er Johann und dem anderen.
Vor der Tür der Luftschiffhalle trafen sie aufeinander. Johann hatte die Faust erhoben. Als er Peter erkannte, ließ er sie wieder sinken. Der andere war, wie Peter vermutet hatte, Konstantin von Wallenfels.
„Das war genau im richtigen Augenblick“, begrüßte ihn der Baron mit einem verkrampften Lächeln. Er war blass und wirkte, als würde er gleich das Bewusstsein verlieren. „Ich wusste nicht, dass Sie mitmachen …“
„Hatte ich eigentlich nicht vor, aber wie heißt es so schön? Neugier bringt die Katze um, und ich wollte mit eigenen Augen sehen, was hier vorgeht“, gab Peter zurück und hielt dem Blick des jungen Adligen eisern stand.
Konstantin von Wallenfels’ Blick glitt unruhig über die Fassade der riesigen Halle. Johann trat von einem Fuß auf den anderen. „Könne mir uns verstecke? Mir stehn hier n bissl sehr offen.“
Das wirkte wie ein Startschuss. Der junge Adlige griff nach Johanns Hand und zog ihn zu einem kleinen, halb hinter Lagerkisten verborgenen Seiteneingang. Er besaß einen Schlüssel für die Tür und öffnete sie. Die Frage, wie Konstantin an den Schlüssel gekommen sein mochte, verkniff Peter sich. Er selbst hatte für alle Fälle seinen Satz Dietriche in der Manteltasche.
Zu dritt betraten sie die Halle. Kurz unter dem Dach, in schwindelerregender Höhe, gab es eine schmale Fensterreihe, durch die Feuerschein und Gaslicht schimmerten und unheimliche Schatten warfen. Peter blieb wie Johann stehen und starrte nach oben auf den gigantischen Körper, der in der Halle zu schweben schien. Johann wollte gerade beeindruckt durch die Zähen pfeifen, da hielt Peter ihm den Mund zu, denn er hörte Stimmen in einem anderen Teil der Halle. Dann fiel Peters Blick auf die Silhouette Konstantin von Wallenfels’ und erschrak. Er konnte kaum mehr erkennen als Konturen und das Weiß in den Augen des Barons – und den Schweiß, der ihm in breiten Bächen übers Gesicht lief. Er packte den Mann am Arm und zog ihn hinter ein paar Kisten, nötigte ihn dann, sich hinzuhocken. Johann folgte ihnen und setzte sich neben den Baron, der zitterte wie Espenlaub.
„Valentin ruft nach mir“, murmelte er und sah seine Begleiter mit weit aufgerissenen Augen an. „Er weiß, dass ich hier bin, um ihn zu erlösen. Er kann es nicht mehr erwarten.“
Die Verzweiflung in seiner Stimme machte Peter und Johann nervös. Sie wechselten beunruhigte Blicke. Der Baron stand kurz davor durchzudrehen und war der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Peter schlich um die Kisten herum und hielt Ausschau nach Wachen. Sie waren unter dem Heck des Luftschiffes, jedenfalls vermutete er das, weil über ihm zwei ausladende Platten seitlich aus dem Rumpf ragten wie die Schwanzflosse eines Wals. Das Höhenruder. Im kalten, grünen Glühen einer Notausgangsbeleuchtung konnte Peter noch einen Treppenabgang erkennen. Das musste der sein, der laut der offiziellen Pläne überflüssig wäre, weil er ins Erdreich führte. Schnell kehrte er zu den anderen beiden zurück und zog Konstantin hoch.
„Die Treppe zu den unbekannten Räumen ist nur ein paar Schritte von hier, die Wächter sind vorne. Kommen Sie, ich helfe Ihnen!“, forderte Peter, obwohl es ihn drängte, den Luftschiffhafen zu verlassen.
Konstantin stützte sich dankbar lächelnd auf seine Schulter und ließ sich ohne Widerstand führen. Peter hielt das erbeutete Gewehr im Anschlag, auch wenn er wusste, dass es ihm hier nicht viel nutzen würde. Es war eine Waffe für freies Feld, deren Dampfdruck sich frei verteilen musste, wollte man sich selbst als Schütze nicht ebenso schaden wie dem Gegner. Aber besser als gar nichts. Johann folgte ihnen. Er hatte ein herumliegendes Stahlrohr gepackt und hielt es wie eine Axt vor sich. Die Treppe erreichten sie ohne Probleme, und Peter ging voran nach unten.
Unten führte ein düsterer Gang weiter, von dem zwei Türen abgingen. Eine einzelne, tranige Gaslampe verhinderte, dass man über die eigenen Füße fiel oder sich den Kopf an den Rohren unter der Decke stieß. In dem Raum zu ihrer Linken brummte es stetig, der Flur war warm und feucht.
„Das Kühlaggregat. Dann sollten wir uns nach rechts orientieren …“, murmelte Peter und wies auf die Tür. „Das ist ein Sicherheitsschloss. Das aufzubekommen ist schwer …“
Er sah sich zu Konstantin um, der an der Wand lehnte und keuchte. „Versuchen Sie es. Ich bin sicher, dass er da drinnen ist. Mir ist, als stünde er neben mir und brüllte um Hilfe, er liegt mir in den Ohren und ist in meinem Kopf, ich …“
Konstantin schloss die Augen und rutschte langsam an der Wand entlang nach unten. Peter packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. „Machen Sie jetzt nicht schlapp! Machen Sie Valentin klar, dass Sie ihm nicht helfen können, wenn Sie jetzt das Bewusstsein verlieren!“, zischte er so laut er sich traute, als Konstantin die Augen wieder öffnete und ihn gequält ansah.
Die grünen Augen wurden langsam klarer, und sein Zittern ließ nach. Offensichtlich hatte er über diese unheimliche geistige Verbindung seinem Bruder klarmachen können, was Peter ihm gesagt hatte.
Als er sicher sein konnte, dass der Baron wieder in Ordnung war, versuchte sich Peter an dem Schloss, aber er kam einfach nicht voran. Sobald er einen Haken gelöst hatte, schnappte ein anderer wieder zu, und er fluchte ungehalten. „Da hat sich jemand viel Mühe gegeben. Für diese Schlösser braucht man Spezialschlüssel, einen anderen Weg gibt es nicht. Die Tür ist aus massivem Stahl, und beide Schlösser schließen mit jeweils drei Bolzen.“
Trotzdem versuchte er es noch eine Weile weiter. Als jedoch eine Alarmsirene durch die Halle dröhnte, war es mit seiner Fassung und seinen ruhigen Händen vorbei. Er gab auf. „Raus! Jetzt sind wir bestimmt gleich nicht mehr alleine. Die werden alles durchkämmen!“
Konstantin wollte sich an ihm vorbei zur Tür drücken, doch er hielt ihn auf. Panik stand in den Augen des Adligen, und Peter war drauf und dran, ihm eine zu knallen, um ihn auf den Boden der Tatsachen zu holen. „Ich muss …“
„Sie können nichts tun!“, brüllte Peter, und sein Griff wurde noch fester, weil Konstantin mit der Kraft der Verzweiflung und viel Geschick versuchte, sich seinen Händen zu entwinden. „Die Aktion ist gescheitert! Brechen wir ab, bevor sie ganz danebengeht und wir alle gefasst werden! Es gibt noch eine Chance, spätestens kurz vor dem Jungfernflug.“
Jetzt griff Johann ein. Sein kräftiger Arm packt Konstantin um die Schultern und zerrte ihn mit wie einen Kartoffelsack. Konstantin wehrte sich, aber sein Widerstand erstarb, als sie die Treppe erreichten und er von Johann nahezu hochgetragen wurde. Peter drängte an ihm vorbei und deckte ihren Rückzug. Er wies Johann auf eine weitere Seitentür hin, weil er im diffusen Licht der Halle sah, wie mehrere Männer durch den Seiteneingang in die Halle stürzten, den sie zuvor benutzt hatten.
Johann musste Konstantin nun nicht mehr mitschleifen. Er schien wie aus tiefer Betäubung erwacht und übernahm von sich aus wieder die Führung, da er sich besser in der Halle auskannte. Mit Peter und Johann im Gefolge tastete er sich zu dem anderen Zugang weiter. „Der geht auf die Ostzufahrt raus. Zu viel Licht und wahrscheinlich zu viele Leute!“, raunte er und lief zu einer Galerie aus Stahlblechen, die drei Meter über dem Boden entlang auf die Gerüste um das Schiff führten. Auch dort gab es Türen in der Außenwand, eine davon öffnete er mit seinen Schlüsseln. Von der Tür führte eine schmale Leiter auf den Boden hinab. Johann machte den Anfang, dann ließ Peter Konstantin folgen, bevor auch er die Halle nach einem letzten Blick auf das gewaltige Fluggerät verließ.
Immer noch herrschte auf dem Vorfeld unkoordiniertes Gewusel, immer noch qualmte es ringsum in den Wäldern, vereinzelt brannten kleine Feuer. Doch so langsam schien sogar den Wachleuten aufgegangen zu sein, dass es sich um einen Scheinangriff handelte, denn sie sammelten sich an verschiedenen Punkten und kamen auf die Halle zu. Noch waren die drei verhinderten Saboteure für die Wachen nicht zu sehen, da sie in ihrer dunklen Kleidung mit dem Hintergrund verschmolzen, doch das würde sich bald ändern. Der Qualm hatte sich wieder gelegt, und die Lampen brannten alle wieder.
Peter hob das Gewehr und sah zu den hellen Scheinwerfern auf dem Hallendach hoch. Konstantin fragte: „Was haben Sie vor?“
„Uns einen Fluchtweg verschaffen. Wohin wollen Sie?“
Konstantin wies in Richtung Osttor. „Aber wenn Sie das Licht dorthin ausschießen, wissen die gleich, wohin wir gehen!“
Peter grinste. „Stimmt, aber diese Dinger haben zehn Schuss, und ich habe nicht umsonst einmal in dieser Waffenklasse die Polizeimeisterschaft Hessen-Nassau gewonnen. Wenn meine letzten Rauchgranaten fliegen, dann macht ihr euch vom Acker, klar?“
Peters Ziel war ein Stapel Holzkisten, der ihm genug Deckung bot und weit genug von der Halle weg war, um freies Schussfeld auch auf andere Ziele zu bieten. Er nahm einen großen Scheinwerfer ins Visier, der den Osteingang erhellte, und schoss ihn mühelos aus. Zwei weitere in der gleichen Richtung folgten. Schreie und gebellte Kommandos sorgten dafür, dass genau das geschah, was er wollte – alles konzentrierte sich auf das Tor. Dann legte er auf Scheinwerfer am Ende der Halle an und schoss auch sie aus. Die von Westen anrückenden Wächtergruppen rannten dorthin. Die letzten Kugeln trafen Scheinwerfer auf der Langseite, so dass Korridore aus Dunkelheit auf dem Vorfeld entstanden. Jeder Schuss saß, und es verschaffte Peter eine gewisse Befriedigung, nichts verlernt zu haben. Dann warf er das leergeschossene Dampfdruckgewehr weg und seine letzten Granaten in die verbliebenen Lichtstreifen.
Wie er es angeordnet hatte, rannten seine Begleiter in einen der Schattenkorridore und verschwanden. Erst als er sicher sein konnte, dass niemand sich auf diesen Schatten konzentrierte, sprang auch Peter aus seiner Deckung und rannte hinterher. Am Zaun holte er sie ein, weil sie den Durchschlupf erst noch suchen mussten. Gemeinsam schlängelten sie sich hindurch und tauchten in die Finsternis des Waldes. Erst als das Licht der Scheinwerfer ihnen den Weg nicht mehr wies, zog Johann eine kleine Karbidlampe aus seinem Rucksack, füllte sie mit Wasser und entzündete die Gase, die aus dem kleinen Schnabel strömten, als das Kalziumkarbid mit dem Wasser beträufelt wurde.
Die Männer verharrten keuchend, und Peter warf einen besorgten Blick auf Konstantin, der nicht nur schwer atmete, sondern auch schluchzte. Das Gesicht des Barons war tränenüberströmt und gezeichnet von Qualen.
„Ich habe versagt“, wimmerte er.
Sowohl Peter als auch Johann schüttelten den Kopf. „Auf keinen Fall. Der Angriff war ein Erfolg, nur nicht mit der letzten Konsequenz, das eigentliche Problem zu beseitigen. Wir haben Ihrem Vater gezeigt, dass er auch eine Armee aufmarschieren lassen kann, und trotzdem gelingt es immer wieder ein paar Leuten, ins Wespennest zu stechen. Sicher wird ihm mit dem heutigen Angriff auch klar werden, dass es die Gruppe nicht auf das Luftschiff selbst abgesehen hat, denn das hätten wir drei problemlos zerstören können. Er kann also niemanden wegen Sabotage verhaften lassen, und das Geheimnis im Keller wird ein Geheimnis bleiben. Was hätte die Zerstörung des Luftschiffes sonst genutzt? Er hätte ein neues bauen lassen und dort seine tolle Steuerung eingefügt. Meine Versuche, die Tür zu öffnen, werden aber auffallen, ich habe Spuren hinterlassen. Sie wissen jetzt, worauf es dem Gegner ankommt“, redete Peter auf Konstantin ein, der zweifelnd zu ihm aufsah.
„Ich hoffe nur, dass er dadurch nicht darauf kommt, wer dahintersteckt“, brummelte Johann.
Konstantin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin sicher, dass meinem Vater nicht mehr verborgen ist, wer als der wahre Initiator hinter der Sache steckt, auch wenn er noch zweifelt, ob ich wirklich zu so etwas in der Lage bin. Das wird das größte Problem werden – ich kann mit Sicherheit in der nächsten Zeit nichts Neues planen, weil er mich im Auge behalten wird. Ich kann nur hoffen, dass ich die Sache beim Jungfernflug beenden kann, ohne zu viele Menschen zu gefährden.“
Er straffte sich und schien gelöster. Nach einem wehmütigen Blick zum Flugfeld, bei dem er stumm vor sich hin murmelte, setzte er sich in Bewegung. Peter und Johann schlossen sich ihm an.
Der Weg führte sie bis an den Main, wo ein Kahn am Ufer vertäut lag. Die drei setzten mit dem Kahn über auf die andere Seite und liefen müde weiter bis zu einem verfallenen Haus. Dort warteten ein Pferd mit einem geschlossenen Karren und ein Reitpferd auf sie, in dem Peter den Hengst erkannte, mit dem er Konstantin schon zweimal in Biebrich gesehen hatte.
„Ich nehme dich im Karren mit, Peter“, bot Johann an, während er dem erschöpften Konstantin aufs Pferd half.
Peter trat an das Tier heran und sah besorgt zu Konstantin auf. „Schaffen Sie das?“
„Das Pferd wird seinen Heimweg schon finden“, erwiderte Konstantin und zwang sich zu einem Lächeln. „Danke, Herr Langendorf. Sie haben sicher recht. In gewissem Sinne war die Aktion ein Erfolg, und das haben wir nicht zuletzt Ihnen zu verdanken. Ich schätze, ich bin Ihnen mehrfach mein Leben schuldig. Wenn ich darüber geschlafen habe, kann ich es sicher auch als Erfolg betrachten. Im Moment fällt mir das schwer, da ich Valentins Enttäuschung spüre. Er wartet immer noch auf seine Erlösung, und ich fühle mich wie ein Versager. Kann ich weiterhin mit Ihrer Hilfe rechnen?“
Peter nickte und ergriff Konstantins Hand.