Chemiedünste

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Es war nicht leicht gewesen, aus Paul einen einfachen Arbeiter zu machen, aber Peter war recht stolz auf sein Werk. Die alte, fleckenübersäte Kleidung hätte sogar einen Adligen wie einen Landstreicher wirken lassen. Peter musste dennoch neidlos anerkennen, dass Paul sich eleganter bewegte als er. Er war daher froh, dass Paul sein Haar länger trug, als es einem feinen Herrn gut zu Gesicht stand. Eher war es die Haartracht eines Dandys, aber in dieser Kleidung war es ein Attribut der Verwahrlosung, nachdem er seinen Bruder ein paarmal gegen den Strich gebürstet hatte. Paul schwieg, um seine Sprache zu verbergen, was seiner Rolle dann doch gerecht wurde. Verstockt und wortkarg.

„Mann, hast du eigentlich keinen Bartwuchs? Ich habe dich nie das Rasiermesser verwenden sehen und kann keine Bartstoppeln erkennen. Oder gehst du immer zum Barbier?“, motzte er leise, als sie mit der Bahn nach Höchst fuhren.

Paul grinste. „So verschwenderisch bin ich nicht. Aber ich brauche nur alle paar Tage ein Rasiermesser. Weiß nicht, warum. Aber ich bin da nicht allein ...“

Peter ahnte, wen Paul meinte. Obwohl Valerian pechschwarzes Haare hatte, war nicht der geringste Bartschatten in seinem Gesicht zu sehen. „Ihr Weibsmänner ...“, murmelte er und zwinkerte Paul zu.

Sein Bruder zuckte nur die Achseln und zwinkerte zurück. In Höchst stiegen sie aus und schlenderten Richtung Fluss, aus dem eine dichte Nebelwand aufstieg und sie einhüllte. Der Main hatte ab der Kostheimer Schleuse nichts Natürliches mehr an sich. Bis zur Fähre von Rumpenheim, dem östlichsten Punkt des Groß-Stadtkreises, hatte man den Fluss in ein Korsett aus Stahl, Beton und Stein gezwängt, die Fahrrinne metertief ausgebaggert und mit Stahlträgern überbaut, über die natürlich auch eine Bahntrasse verlief, um nicht noch mehr Land verbrauchen zu müssen. Die vielen Tonnen Aushub bildeten an beiden Ufern des Mains, aber besonders auf der kaum bebauten Südseite, dem Großherzogtum Hessen, ein neues Gebirge in den vormals urwüchsigen Auen. Doch wenn die Planer des Mainkanals gehofft haben sollten, dass sich diese Berge wieder in Natur verwandeln und grünen würden, so wurden sie kräftig enttäuscht. Auf den verseuchten Schlämmen aus der Fahrrinne wuchs so gut wie nichts, dafür stanken die Hügel zum Himmel und wuchsen beständig weiter. Das störte aber allenfalls die Bewohner der jenseitigen Mainansiedlungen, die einst zur freien Stadt Frankenfurt gehört hatten.

Die Brache zwischen den Wohnbereichen und dem Chemiewerk war das letzte Fleckchen, das noch nicht völlig zugebaut war. Mit gutem Grund, wie die Brüder inzwischen wussten.

„Der Nebel kommt wie gerufen. Er macht uns unsichtbar“, murmelte Peter.

Paul nickte und übernahm die Führung. Er brauchte keinen Plan mehr, um sich zurechtzufinden, und auch der Nebel störte ihn nicht. Er stutzte nur, als seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnten und ihm auffiel, dass der Nebel seltsam von innen heraus beleuchtet schien, obwohl dort weit und breit kein Gebäude sein konnte. Dazu kam ein Geräusch, das der Nebel halb verschluckte, als käme es aus unendlicher Entfernung. Ein leises, tiefes Dröhnen, das man mehr spürte denn hörte. Für Paul war es im Zusammenhang mit dem Licht aufschlussreich, aber er behielt es für sich, weil er keine unbewiesenen Vermutungen äußern wollte.

Die Brüder trugen große Wanderarbeiter-Rucksäcke, aber diese waren nicht mit Kleidern und Hausrat gefüllt, sondern mit Rattenfallen und anderer nützlicher Ausrüstung. Paul hatte darauf bestanden, Lederbekleidung mitzunehmen, wie Stahlkocher oder Ziegelbrenner sie benutzten. Diese sollte sie wie ein Panzer vor Bissen der Ratten schützen, wenn sie in deren Revier vordrangen. Trotz der schweren Last, die sie mitschleppten, hatte Peter keinerlei Einwände gegen diese Ausrüstung erhoben und sich nur gewundert, wo Paul sie aufgetrieben haben mochte.

Sie gelangten ans Ende einer gepflasterten Straße, die von einem verwahrlosten Grünstreifen begrenzt wurde, der mit Bäumen bepflanzt wohl einen gepflegten Eindruck gemacht hatte. Die Bäume waren schon lange dem Brennholzbedarf zum Opfer gefallen. Dahinter begann die Brache. Der Main führte wegen der vergangenen trockenen Tage wenig Wasser, dafür stank er noch bestialischer als sonst, weil die Konzentration von Müll und Abwässern entsprechend höher war. Zudem hatten die Unwetter des ausklingenden Winters wieder Sandmassen aus den ländlichen Gebieten jenseits der Stadtgrenze, wo der Main noch seinen natürlichen Verlauf nahm, ausgeschwemmt und mitgerissen. Bald würden die Schleusenwärter protestieren, weil sie die Schleusen nicht mehr öffnen konnten, wenn Schlamm und Unrat sich vor den Toren ablagerte. Dann hatten die Schwimmbagger wieder Hochbetrieb, um die Transportwege über das Wasser freizuhalten und wieder neue Berge zu erschaffen.

Die Schwimmbagger waren monströse Pontons, die fast die gesamte Fahrwasserbreite benötigten und nur geringfügig niedriger waren als die Gleisanlagen hoch. War der Wasserstand nicht korrekt gemessen worden, dann rissen sie schon mal hie und da einen Stütze oder Verstrebung um, und der Bahnverkehr wurde eingestellt. Da über diese Trasse aber nur die leichteren Personenzüge rollten, standen Reparaturarbeiten nicht weit oben auf der Prioritätenliste. Auf den Pontons waren Seilbagger montiert, in deren Schaufeln ein kleines Haus vollständig verschwinden konnte. Ihr Betrieb war mühevoll und teuer, aber die einzige Möglichkeit, die Lebensader Fluss freizuhalten. Vor diesem Hintergrund konnte Peter die Entwicklung von Luftschiffen verstehen. Luft hatte keine Hindernisse, und man war nicht an Straßen und Kanäle gebunden.

„Wohin?“, fragte Peter.

Paul starrte in die nebeldurchflutete Dunkelheit und begab sich dann wortlos auf den Trampelpfad. Erst als er das Wasser vor sich schwappen hörte und Beton unter den Schuhsohlen spürte, entzündete er die Blendlaterne. Im dichten Nebel konnte man in ihrem Licht nicht sehr weit sehen, deshalb hielt er sie nahe über dem Boden und ging gebückt bis ans Wasser heran. „Hier!“, rief er, als sich vor ihm ein düsterer Schlund auftat.

Peter folgte ihm in den dunklen Schacht, der weniger nach Fäkalien roch als der Fluss, dafür einen chemischen Gestank verströmte. Hier konnte Paul mit der Karbid-Blendlaterne mehr ausrichten und stellte das Licht höher. Das bedeutete zwar auch, dass sich in die Chemiedünste der betäubende Ruß der Kalkbrennerflamme mischte, aber eine Wahl hatten sie nicht. Öllampen waren nicht besser, und Peter vertraute den Dynamolampen nicht, die die wenigen Verfechter des elektrischen Lichtes als große Innovation anpriesen.

Die erste Demonstration der Handlampen Jahre zuvor bei der Polizei war nicht sehr vielversprechend gewesen, das Licht schwächer als das der Karbidlampen und mit der Handkurbel anstrengend zu erzeugen. Man hatte sie daher auch nicht in größeren Mengen bestellt, da der Hersteller nicht garantieren konnte, dass die Lampen keine Funken schlugen. Denn dann waren sie in speziellen Situationen genauso gefährlich wie herkömmliche Lampen – sie konnten Explosionen verursachen.

Sie befanden sich in einem gemauerten Kanal, auf dessen Seitenläufen man bequem aufrecht gehen konnte. Kein Gitter versperrte den Zugang, und in dem offenen Abfluss schwappte eine in allen Farbvariationen schillernde Brühe.

Paul setzte seinen Rucksack ab und begann, sich umzuziehen. Er streifte eine dicke Lederjacke und einen Hut, an dem ein Lederkragen den Hals schützte, über. Dazu kamen Gummistiefel und Lederhandschuhe, deren Stulpen bis über die Ellbogen reichten. Peter tat es ihm gleich.

Bevor Paul seinen nun fast leeren Rucksack wieder schulterte, holte er ein Glas mit Schraubdeckel heraus und entnahm dem Kanal eine Wasserprobe. Dabei schien er intensiv zu lauschen, aber Peter hakte nicht nach, auf was. Er hörte selbst etwas. Ein Dröhnen, das erst lauter wurde und dann abbrach. Hintereinander liefen sie tiefer in den Gang. Ernüchtert musste Peter feststellen, dass sie Pauls Fallen wohl umsonst mitgeschleppt hatten, denn es gab keine Röhren, die in den Kanal mündeten. Er tat seinen Unmut darüber kund, aber Paul schüttelte den Kopf.

„Egal. Ich bin sicher, dass wir bald die Einsturzstelle des Hauses erreichen. Dort gibt es durch den Zusammenbruch des Kanals bestimmt genügend Schlupfwinkel, in denen wir Fallen deponieren können. Mich wundert viel mehr, dass ich bisher noch keine einzige Ratte gesehen habe.“

Peter sah sich stirnrunzelnd um und musste Paul recht geben. Das sonst in den Kanälen allgegenwärtige Wuseln und Quieken blieb aus. „Ja, verwunderlich … obwohl, eigentlich doch nicht, denn es gibt in diesem Kanal keinerlei Deckung, eben weil er keine Seitenröhren hat. Wo sind die Brutstätten der großen Ratten, die nach dem Einsturz des Hauses an die Oberfläche kamen? Das gefällt mir nicht. Lass uns weitergehen.“

Wenn Paul erwartet hatte, dass der Kanal an der Einsturzstelle noch immer stand, so wurde er enttäuscht. Peter konnte zwar an seinem interessierten Gesichtsausdruck weder Verblüffung noch Ärger ablesen, aber Paul wirkte sehr nachdenklich. Sie waren an eine Stelle gelangt, an der ihnen Schutt den Weg versperrte. Dem Wasser jedoch hatte man freie Bahn verschafft, und die Decke des Kanals war mit Stahlträgern und Platten abgedeckt. „Gut, dass wir nicht versucht haben, über die Einsturzstelle in den Kanal zu kommen“, kommentierte Peter trocken, um aus Paul herauszulocken, was ihm an der Stelle so viele Gedanken wert war.

Paul antwortete aber nicht, sondern stellte die Lampe mit nach oben gerichtetem Lichtstrahl auf und erklomm zwei nachlässig in die Kanalwand geschlagene Steigeisen zu einem Schachtdeckel in einem ebenso provisorisch gemauerten Schacht. Er musste viel Kraft aufwenden, um den massiven Deckel anzuheben, und spähte durch den Spalt an die Oberfläche. Plötzlich wurde das Dröhnen wieder lauter und schwoll zu ohrenbetäubendem Lärm an. Paul ließ den Deckel fallen, als wäre er plötzlich glühend heiß geworden. Danach warf er sich selbst zu Boden.

Peter sah ihn besorgt an, weil Paul blass geworden war, soweit man das in der spärlichen Beleuchtung erkennen konnte. „Was ist los?“, brüllte er gegen den immer stärker werdenden Lärm an.

„Dort oben wird gearbeitet. Mit elektrischem Flutlicht, das von einem riesigen Dampfgenerator betrieben wird, und es werden nicht nur Trümmer weggeräumt, sondern neue Fundamentgräben ausgehoben. Der Boden wird auch ausgetauscht, er war ja nicht tragfähig. Aber eines weiß ich, trotz des flüchtigen Blickes: Es werden keine neuen Wohnungen gebaut! Da ist schweres Gerät im Einsatz, und ich habe keine Ahnung, was das soll.“

Pauls letzte Worte gingen in ohrenbetäubendem Lärm unter. Beide Männer duckten sich und hielten sich die Ohren zu, als etwas über die Abdeckung des Kanals rumpelte und ihnen Staub und Steinchen auf die Köpfe rieselten. „Mein Gott, was war das?“

„Die Laderaupe, die mich so schnell wieder hier heruntergetrieben hat. Eine schwere Dampf-Laderaupe mit Drei-Kubikmeter-Ladekübel. Sie kam auf den Schacht zu“, brüllte Paul. „Auf den Gleisen standen Kübelwagen für den Abraum. Auf den Wagen steht der Name einer chemischen Fabrik, die aus Dreck Rohstoffe gewinnt.“

„Hast du deshalb die Konstruktion so angestarrt?“, hakte Peter nunmehr leiser, weil sich das Fauchen und Getöse der Dampfmaschine entfernte.

„Ja. Das ist ein Provisorium, wie es auch unter Bahngleisen verwendet wird, wenn der Güterverkehr weiterrollen muss, unter den Gleisen aber an Unterführungen oder Ähnlichem gearbeitet wird. Lastannahmen, wie sie dieser Konstruktion zugrundeliegen, sind einfach ungewöhnlich, und das Geräusch fand ich schon vorher verdächtig ... verdächtig bekannt.“

Peter hakte nicht weiter nach, auch wenn er ahnte, dass er tieferes Hintergrundwissen in Sachen Architektur, Statik und Baustoffkunde brauchte, um Pauls Ausführungen in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Aber er hatte genug verstanden, um zu wissen, dass dort oben etwas im Gange war, das mit dem, was die Baubehörden wussten, nicht im Einklang stand. Der Lärm ließ wieder nach, als sich die Raupe entfernte, und Peter beobachtete Paul, wie er die Schutthaufen untersuchte. In eine kaum sichtbare Höhlung baute er eine der Fallen ein.

„Glaubst du, hier sind Ratten?“, fragte er ungläubig.

Paul grinste. „Ich glaube, diese Falle ist hier gut aufgehoben. Komm!“

Sie waren kaum zehn Schritte gegangen, als Peter es hinter sich klacken hörte. Die Falle war zugeschnappt. Paul sagte nichts, aber Peter wusste, dass er grinste. Er konnte es förmlich hören.

Je weiter sie in den Kanal vordrangen, desto mehr stank das Wasser nach Chemieabfällen. Die Gerüche, die sie umgaben, hatten nichts mehr mit Fäkalien zu tun, und Peter hielt sich die Nase zu. „Vielleicht wäre es besser gewesen, wir hätten Gasmasken mitgenommen!“, hustete er.

Zu seiner größten Überraschung zog Paul genau diese aus seinem Rucksack. „Hier. Irgendetwas sagt mir, dass wir langsam froh sein können, unsere Sicherheitskleidung bereits zu tragen.“

Sie streiften die Gasmasken über und kontrollierten noch einmal den Sitz ihrer Schutzkleidung, bevor sie weitergingen. Pauls Ahnung sollte sich bestätigen, denn kaum stieß der erste Seitenkanal auf den großen, waren auch die Ratten da. Die ersten Tiere, die sich im Lichtkegel der Blendlaterne zeigten, waren nicht ungewöhnlich groß, aber sie wehrten sich vehement gegen die Eindringlinge. Peter merkte schnell, wie wichtig die Kleidung war, für die Paul gesorgt hatte. Sie verhielten sich ruhig und liefen den Kanal entlang, um die Tiere nicht noch mehr zu reizen, aber sie wurden beständig von den Ratten angegriffen. Je weiter sie vordrangen, desto größer wurden die Tiere.

Eine besonders große Ratte mit vielen Lücken im Fell verbiss sich in Peters Jacke wie ein Bluthund. Er konnte sie erst abschütteln, als er ihr den Schädel einschlug. Kaum hatte er ihr Gebiss aus seiner Kleidung gelöst und den Kadaver hinter sich geworfen, war ein Dutzend weiterer Ratten da und fraß den toten Artgenossen.

Paul streute Körner aus, und Peter beobachtete fasziniert die Ratten, die sich ausgehungert darauf stürzten und sich kurz darauf in Krämpfen am Boden wanden. „Was ist das?“

„Ein absolut tödliches Rattengift. Es wundert mich nur, dass es so gut wirkt. Normalerweise schicken die Ratten ein altes oder krankes Tier vor, die Köder zu fressen. Wenn dieses Tier stirbt, fressen die anderen den Köder nicht. Es ist seltsam, wie diese Tiere reagieren“, erklärte Paul. „Sie scheinen nicht nur zu wachsen, sondern auch zu degenerieren. Oder sie haben zu lange keine ausreichenden Nahrungsquellen mehr gefunden.“

In den Wänden des Kanals klafften nun Löcher, aber sie waren nicht von Menschenhand geschaffen. Vielmehr wirkten sie, als hätten Krallen so lange an den Fugen gescharrt, bis die Ziegel von selbst herausgefallen waren. In diese Löcher drückte Paul seine Fallen und brauchte nicht lange zu warten, bis sie allesamt zuschnappten.

„Komm, lass uns bis zum Ende durchgehen, ich fühle mich hier nicht wohl!“, maulte Peter und riss die Augen auf, als ihm plötzlich eine Ratte von der Größe eines Schäferhundes gegenüberstand. Das Tier fixierte ihn und setzte zum Sprung an, aber Paul war schneller und hieb mit einem Beilchen auf den Kopf des Tieres ein. Wieder sprangen die anderen Ratten auf den Kadaver und nagten ihn fein säuberlich ab.

„Ganz meine Meinung!“, gab Paul zurück und hastete den Gang entlang, so schnell es die unförmige Kleidung und der Zustand des Weges zuließen.

Peter folgte ihm. Der Gang machte eine Biegung, und es gab plötzlich keinen Seitengang mehr. Wasser rauschte ein kurzes Stück voraus wie ein Katarakt aus einer größeren Halle heraus. Am Ende des Seitenganges führten Steigeisen empor.

„Das glaube ich nicht …“, brummte Paul. „Wir müssen auf dem Gelände des Chemiewerkes sein. Die fühlen sich ganz schön sicher, oder wie soll man sich erklären, dass es keinerlei Gitter oder Tür hier gibt?“

„Sicher? Warum auch nicht, sie haben die besten Wachhunde der Welt. Wer würde schon freiwillig hierher kommen, wenn er nicht einen verdammt guten Grund hat?“ Peter erklomm die Steigeisen in den dunklen Schacht. Verwundert stellte er fest, dass auf dem Schacht nicht der übliche schwere, runde Deckel aus Gussstahl lag, sondern ein quadratischer Rahmen mit dünnem Blech. Ganz sachte drückte er dagegen und hob ihn einen Spalt weit. Gleißendes Licht blendete ihn, und er schloss die Augen. Erst als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, wurde er gewahr, dass er sich nicht im Freien befand, sondern in einer Halle. Er schloss den Deckel wieder und kehrte zu Paul zurück.

Paul untersuchte die Mauern des Kanals und des höher gelegenen Sammelbeckens. Peter beobachtete ihn, ohne zu verstehen, was ihn daran so faszinierte. Dann spannte er sich alarmiert an, als im Schein der Blendlaterne Augen aufblitzten – hoch über dem Boden. „Paul ...“

Paul drehte sich zu Peter um und folgte mit seinem Blick dessen ausgestrecktem Zeigefinger. Sofort packte er das Beil fester und spannte sich ebenfalls. Die Augen in der Dunkelheit schlossen sich kurz, und als sie wieder aufglommen, kamen sie mit irrwitziger Geschwindigkeit näher. Paul reagierte mit traumhafter Sicherheit und schwang das Beil. Es knirschte hässlich, als die Klinge durch den Rattenkörper in die Ziegelmauer drang.

Peter nahm die Blendlaterne wieder auf und leuchtete seinen Bruder an, der zitternd an der Wand stand. Vor ihm lag der tote Körper einer Ratte, die zwar sehr groß war, aber nicht die größte, die sie bislang gesehen hatten. Dennoch war etwas an ihr bedrohlich. Peter ging neben der Ratte in die Hocke und bemerkte nun, was ihm an dem Tier so erschreckend vorgekommen war. Sie hatte kein Fell, sondern schwarze Haut, unter der sich kräftige Muskeln abzeichneten. Der abgeschlagene Kopf lag vor Pauls Füßen und zeigte ebenfalls Veränderungen. Die Nagezähne waren lang und spitz, die Augen waren zu groß im Verhältnis zum Kopf und quollen aus den Höhlen. „Was für ein Monstrum ...“, murmelte er und packte das Tier in einen Sack ein, um es mitzunehmen.

„Mein Gott ...“, schluchzte Paul, der mit den Nerven am Ende zu sein schien.

„Ich glaube, wir brechen besser ab ... sammeln die Rattenfallen ein und verschwinden“, erwiderte Peter und sah Paul besorgt an.

„Nein! Wir brauchen noch Wasserproben aus dem Sammelbecken und am besten auch vom Ursprung der Abwässer!“, protestierte Paul.

Der neue Kampfgeist seines Bruders ließ Peter in Gelächter ausbrechen, das von den Wänden des Kanals widerhallte. „Dann versuchen wir unser Glück. Aber das wird nicht einfach – wir sind in der Höhle des Löwen!“

Peter kletterte in den Schacht, und Paul folgte ihm. Die Halle war trotz der hellen Beleuchtung menschenleer, und sie konnten gefahrlos die Unterwelt verlassen.

„Was ist das?“, zischte Paul, als er sich in der Halle umsah und die Gasmaske vom Gesicht zog. „Was machen die hier?“

„Frag mich was Leichteres!“ Peter sah sich verwirrt in der Halle um, die verschiedene gewaltige Kessel und Tanks dominierten. „Irgendwas kochen sie zusammen, und das, was davon übrig bleibt, lassen sie in den Kanal ab.“

Das Überraschendste war jedoch die Tatsache, dass es sich bei der hellen Beleuchtung nicht um Gaslampen handelte, sondern um elektrisches Licht. Zudem fehlte trotz der allgegenwärtigen Pumpgeräusche und mechanischen Abläufe das auffällige Zischen von Ventilen und Dampfpumpen. In der Ferne dröhnte eine Dampfturbine, von der Peter vermutete, sie erzeuge die Elektrizität. Den Strom, der ihm unheimlich war. Vorsichtig näherten sie sich den Anlagen.

Paul ging zu den Kesseln und prüfte ihren Inhalt. Sie waren verschlossen, so dass man nicht an den Inhalt herankam. Aber es gab mehrere Ventile. Paul fand eines, an dem es auch ein Ablasshähnchen gab. Darunter stand ein Zinkeimer, weil das Ventil nicht richtig schloss. Er hielt ein Probenfläschchen unter den Hahn und drehte ihn vorsichtig auf. Eine giftgrüne Flüssigkeit füllte die Flasche und stank unerträglich.

„Was ist das für ein Dreck?“, brummte Peter und zog sich wegen des ätzenden Gestanks die Gasmaske wieder vor das Gesicht. Er hatte sie zuvor abgenommen, weil der Gestank und Dreck der Kanäle einer klinisch reinen Krankenhausatmosphäre gewichen war.

„Keine Ahnung, aber die Wissenschaftler werden es herausfinden …“ Paul stockte und starrte ins Halbdunkel am Ende der Halle.

Peter versuchte zu erkennen, was Paul so beunruhigte. Als er es entdeckte, konnte er nur mit Mühe einen entsetzten Ausruf unterdrücken. Die Brüder schlichen zur Treppe hinüber.

„Das darf doch nicht …“ Peter starrte auf die massiven Stahlkäfige, in denen sich die verschiedensten Ratten tummelten. Normale, riesige, verkrüppelte und auch völlig deformierte.

„Sie wissen also ganz genau, was ihre Abwässer anrichten, und sammeln die Ergebnisse!“, knurrte Paul, der als erstes die Tragweite dessen erahnte, was sie sahen. „Hast du noch eine Falle? Diese hier nehme ich mit!“

Peter betrachtete das Tier, auf das Paul es abgesehen hatte. Die Ratte war keine der besonders großen, aber von erlesener Hässlichkeit. Ein Monstrum. Sie hatte die Größe eines Stallhasen, aber nur auf dem Rücken Fell. Ansonsten war sie nackt und ihre Haut dunkel und grindig. Sie war abgemagert, und Schaum stand ihr vor dem viel zu langen Maul mit den spitzen Zähnen, die nichts mehr von einem Nagetier hatten. Die Augen waren wasserblau, und das Tier schien blind zu sein, denn es reagierte auf die Geräusche, die Paul am Gitter verursachte, um sie von der Tatsache abzulenken, dass er mit der Hand durch die Klappe griff. Die Ratte stürzte sich geifernd auf das Geräusch, so dass Paul sie im Nacken packen und aus dem Käfig zerren konnte. Anstatt zu zappeln, machte sich die Ratte steif und stellte sich tot. Peter packte seine letzte Rattenfalle aus, und Paul stopfte das Tier hinein.

„Wir sollten verschwinden. Wir haben alles gesehen, was wir sehen müssen, und genug in der Hand, um den Laden dichtzumachen und ein Heer von Kammerjägern durch den Kanal zu schicken! Am besten mit Flammenwerfern“, gab Peter zu bedenken.

Paul folgte ihm wortlos, als er sich wieder dem Schacht zuwandte. Doch dann verhielt er in der Bewegung und packte Peter an der Schulter, um ihn mitzuziehen.

Mittlerweile war Peter sicher, dass außer von gelegentlich rundgehenden Wächtern keine Gefahr von Menschen drohte. Aber wegen eben dieser Gefahr war ihm diese erneute Verzögerung unangenehm.

„Was?“, zischte er.

Paul ignorierte ihn und lief zu einer Tür, neben der eine große Fensterscheibe in der Mauer eingelassen war. Peter blieb, wo er war, um im Zweifelsfalle eine schnelle Flucht organisieren zu können. Doch Pauls Verhalten besorgte ihn mehr als die Gefahr von Wächtern. Paul hatte beide Hände neben sein Gesicht an die Scheibe gelegt und fing plötzlich an zu zittern. Auch vermeinte Peter, ein Schluchzen zu hören.

Nach einem prüfenden Rundblick hastete er zu Paul, der noch immer keine Anstalten machte, sich von der Scheibe zu lösen. Im diffusen Licht, das von dem Raum dahinter ausging, konnte Peter erkennen, dass Paul Tränen der Wut und Hilflosigkeit weinte.

Peter warf ebenfalls einen Blick durch das Fenster, das von der anderen Seite von einer halb aufgezogenen Jalousie verdeckt war. Zunächst fiel es ihm schwer zu erkennen, was in dem Raum vor sich ging, doch dann erschauerte auch er.

Was er sah, war der Vorhof zur Hölle, eine Leichenhalle, auch wenn einige Menschen dort noch zu leben schienen. Mancher Brustkorb hob und senkte sich noch, manche Arme zuckten, aber alles schwach, unregelmäßig. Die Gesichter der Personen, die dort dicht an dicht auf fahrbaren Betten lagen, waren nichts mehr als schmerzverzerrte, monströse, kaum menschliche Fratzen, geprägt von unvorstellbarem Leid. Männer, Frauen, Kinder aller Altersgruppen.

Letztere waren besonders entsetzlich anzuschauen. Direkt an dem Fenster, hinter dem die Brüder standen, lag ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt. Ihr Gesichtchen war der Scheibe zugewandt, und ihr starrer Blick schien Peter durchbohren zu wollen. So jedenfalls kam es ihm vor, als er den stummen Vorwurf darin las. Schmerz hatte tiefe Furchen in das weiche Kindergesicht gegraben, die Haut war fahl und grau.

Das Mädchen war tot, wie Peter nach einem ersten Schrecken feststellte, denn die Augen blinzelten nicht mehr, und auch ihr Brustkorb war bar jeder Regung. Der Blick dieser toten Augen war eine einzige stumme Anklage.

Er wandte den Blick mühsam von dem Gesicht ab und ließ ihn über das Laken gleiten, das den Körper des Mädchens bedeckte. Unter ihrem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet, die geronnen war. Jetzt bemerkte er dort, wo die Beine des Mädchens begannen, einen weiteren schwarzen Fleck auf dem Laken. Sie konnte noch nicht lange tot sein, denn unter dem Laken lief eine zähe, schleimige Flüssigkeit heraus und tropfte zu Boden.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Peter, dass sein Bruder aus seiner Starre erwacht war. Er faltete die Hände, und seine Lippen bewegten sich im stummen Gebet. Peter tat es ihm gleich, auch wenn sein Verstand sich auf anderen Bahnen bewegte. Er überschlug die Anzahl der Liegen und die der Leichensäcke, die sich im hinteren Teil des Raumes stapelten.

„Wer sind diese Leute?“, knurrte er, nachdem Paul die Hände wieder auseinandergenommen hatte.

„Es scheinen die Menschen aus dem Häuserblock zu sein, der unter Quarantäne stand. Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist. Ich vermute, man hat sie unter dem Vorwand hierher gebracht, man wolle sie heilen“, murmelte Paul. „Den Mann hinten an der Wand meine ich zu kennen – es ist der Feuerwehrmann, der die von mir erschlagene Ratte entsorgte. Peter … das bedeutet …“

Peter hielt ihm den Mund zu, da Paul immer lauter wurde. „Es bedeutet noch viel mehr.“

Noch immer wanderte sein Blick von einer Liege zur nächsten, suchte eine Bestätigung für seine Vermutungen. Er schrak zusammen und legte Paul den Arm um die Schultern, weniger, weil er ihn trösten wollte, als weil er selbst vor Schreck Halt suchte.

Auch er hatte einen Menschen erkannt, der etwas abseits in einem durch weitere Glasscheiben abgetrennten Raum lag.

Fritz Sanker.

Sanker lag rücklings auf einem Bett und hatte die Augen geöffnet. Er regte sich nicht. Das konnte er auch nicht, wie Peter schnell feststellte, denn man hatte ihn mit schweren Ledermanschetten ans Bett gefesselt. An seiner Hand prangte ein blutdurchtränkter Verband, und in seinem Arm, in Nase, Mund und Brustkorb steckten feiner Metallröhren, die zu verschiedenen, Peter unbekannten Apparaten führten. In einem Glaskolben bewegte sich ein Blasebalg, und die Brust des Mannes hob und senkte sich gleichmäßig. Wo man Haut erkennen konnte, waren heftige Ausschläge und faulende Wundränder zu sehen. Überall an seinem Körper traten Flüssigkeiten aus, die kein Blut waren.

„Sie benutzen diese Menschen als Versuchskaninchen, um die Krankheit zu erforschen, die die Ratten verbreiten. Manche von ihnen wurden bewusst infiziert“, murmelte er, obwohl ihm klar war, dass Paul ihn mit seinen guten Ohren deutlich vernehmen konnte.

Paul starrte ihn entgeistert an, aber auch ihm war dieser Gedanke gekommen. Er schluchzte, als die Erkenntnis in sein Bewusstsein drang. Peter hielt ihm erneut den Mund zu.

Er vermeinte, Schritte gehört zu haben, und zerrte Paul zurück zum Kanalschacht. Peter ließ ihm den Vortritt und sah sich noch einmal um, bevor er in den Kanal abtauchte. Irgendwo über ihnen wurde eine Tür geöffnet, und Peter beeilte sich, den Deckel so leise wie möglich zu schließen.

Im Kanal suchte er nach Paul, den er auf dem Rückweg wähnte. Doch Paul hatte sich dem höher gelegenen Sammelbecken zugewandt. Vorsichtig rutschte er vom Laufgang in den Kanal und kämpfte sich gegen das schlammige Wasser zu Steigeisen durch, um einen Blick über den Katarakt zu werfen. Peter behielt ihn im Auge, für den Fall, dass er abrutschte.

„Peter …“, sagte Paul. „Das musst du gesehen haben, sonst glaubst du es mir so wenig, wie ich gerade meinen Augen glaube …“

Peter stutzte, bewegte sich aber auf dem gleichen Weg durch den Kanal wie sein Bruder. Paul rutschte von den Steigeisen, ließ aber die Lampe oben stehen. Seine Augen waren aufgerissen. Peter stieg die Eisen hoch und griff zur Lampe. Vor ihm tat sich eine weite, niedrige Halle mit Kuppelgewölbe auf, in das mehrere Kanalöffnungen mündeten. Die Steigeisen führten zu einem umlaufenden Gang, den man nicht mehr benutzen konnte. Auf den ersten Blick wirkte, was sich auf dem Gang türmte, wie angeschwemmter Müll. Auf den zweiten Blick sah man, dass der Unrat lebte.

Ratten!

Es waren Nester der unterschiedlichsten Rattengenerationen. Peter schätzte, dass sich auf einem Meter Laufgang mindestens ein Dutzend Nester befanden. Wie viele Meter es waren, konnte Paul sicher genauer abschätzen, weil er mit seinem Architektenblick den Umfang der Halle sicher schon berechnet hatte. Dazu kamen weitere Nester in trockenen Kanaleinläufen. Als die Ratten wegen seines Lichtes unruhig zu werden begannen, sprang auch Peter von den Steigeisen. „Lass uns verschwinden. Das waren für zwei Leben zu viele Schrecken. Sauzucht!“