Alpträume

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Zur Ruhe kam Peter jedoch nicht. Der erste, der ihn von weiterer Recherche abhielt, war Sonnemann, der bei ihm erschien. Paul hatte sich mit den zwischenzeitlich eingetroffenen Dachdeckern auf den Speicher begeben.

„Peter, ich weiß wirklich nicht …“, fing Sonnemann ohne Begrüßung an, aber Peter brachte ihn zum Schweigen, indem er ihm das Foto vorlegte, das Paul im Nerotal gekauft hatte.

Sonnemann betrachtete es argwöhnisch, dann riss er die Augen auf. „Das glaube ich nicht! Woher …“

„Paul hat es einem Fotografen abgekauft, der an der Germania Porträtaufnahmen machte. Ein zufälliges Bild, aber sehr aufschlussreich, nicht? Der hektische, kleine Mann ist übrigens Peitner, für den Fall, dass du ihn nicht kennst.“

„Was?“, brüllte Sonnemann und sprang auf. Er war eigentlich nur wegen der Verbindung von Wallenfels‘ zu Heider so überrascht gewesen, aber diese Information brachte ihn aus der Fassung. „Mein Gott, was …“

„Das weiß ich immer noch nicht so genau, aber so langsam schließen sich ein paar Kreise. Ich gehe allerdings davon aus, du bist wegen etwas anderem hier?“

Sonnemann seufzte und nahm wieder Platz. „Die Pinkertons waren bei mir. Das sind vielleicht Flaschen, dabei wird die Agentur so gelobt.“

„Wenn man ihren Ursprung kennt, dann findet man das gar nicht so ungewöhnlich. Was haben die Pinkertons schon geleistet, außer auf Streikende zu schießen und Selbstjustiz zu üben? Ihre Ermittlungserfolge haben sie nicht eingehender Recherche zu verdanken, sondern nur brutaler Gewalt bei Verhören und der Tatsache, dass sie nie versuchen, sich in höhere Kreise einzumischen. Wenn echte Gefahren drohen, ziehen sie die Schwänze ein. Elitäres Pack“, grummelte Peter und ließ sich Sonnemann gegenüber nieder.

„Du hast ihnen ein lohnendes Ziel genannt. Aber es hat nichts mit der Sekte zu tun, oder?“, grinste Sonnemann.

„Am Rande schon, aber die Köpfe der Sekte wird man dort nicht finden. Wirst du in Kastel aufräumen?“

Sonnemann wiegte den Kopf hin und her. „Wie lohnend wäre das für die Verbrechensbekämpfung?“

„Mit etwas Glück ist der Fuchs in seinem Bau. Was Lohnenderes kann ich nicht bieten. Ich würde dir empfehlen, von zwei Seiten zugleich an den Bau heranzugehen. Der Kanal ist von der Unterführung aus problemlos begehbar, bis auf die Querung zum Sammler von Erbenheim. Ihr solltet Bohlen mitnehmen, sonst wird’s nass an den Füßen. Haltet euch immer an den Hauptsammler zum Fluss. Wenn ihr in die unterirdische Stadt vordringt, seid extrem vorsichtig. Aber ihr werdet reiche Beute machen, wenn ihr koordiniert vorgeht, und dann solltet ihr vom Wasser aus kommen, nicht durch Kastel.“

„Der Fuchs lohnt immer!“, seufzte Sonnemann. „Schön, dann werde ich mal nachfragen, ob ich aus der Großkaserne der Infanterie an der Schiersteiner Straße einen Trupp Rekruten organisieren kann. Mit meinen Leuten allein schaffe ich das nicht, die sind noch zum Schutz des Kaisers abkommandiert. Mal sehen, ob meine Freunde von Wasserschutzpolizei und Zoll Lust auf ein Abenteuer bei den Landratten haben. Für einen Zugriff vom Wasser aus brauchen wir deren Dampfschnellboote aus dem Schiersteiner Hafen. Die haben mittlerweile keine Schaufelräder mehr, sondern erzeugen mit Dampfturbinen einen Luftstrahl, den sie nach hinten ins Wasser blasen. Das Tempo dieser Boote ist wirklich atemberaubend, und leise sind sie auch. Wie das Ganze genau vonstattengeht, weiß ich nicht, bin ja auch kein Ingenieur.“

Weil Sonnemann brütend schwieg, wagte Peter nach einer Weile einen weiteren Vorstoß. „Hat es bei euch oder den Polizeistationen in der Innenstadt eigentlich schon Meldungen gegeben, dass außergewöhnlich große Ratten ihr Unwesen treiben? Haben Übergriffe von Ratten in der Innenstadt stattgefunden?“

Sonnemann hob die Brauen. „Wie kommst du auf dieses schmale Brett?“

„Es hat also schon Meldungen gegeben?“, warf Peter ein, der Sonnemann gut genug kannte, um aus seinem Mienenspiel und der abwehrenden Antwort die Wahrheit zu lesen.

Wieder seufzte Sonnemann und sah fast gequält aus. „Was weißt du darüber?“

Peter berichtete ihm über Pauls Problem mit dem eingestürzten Haus sowie über den möglichen Zusammenhang mit dem Tod des Gutachters und dem, was er über die Ratten in Kastel und Kostheim erfahren hatte. Dass die Sekte bereits tätig war, um die Bürger Biebrichs zu schützen, verschwieg er allerdings, um nicht deren wahres Umfeld zu verraten.

Wieder schwieg Sonnemann eine Weile und starrte an die Zimmerdecke. „Wir haben es also mit mutierten Ratten zu tun, die ihren Ursprung in einem Chemiewerk bei Höchst haben, das Wallenfels gehört. Prachtvoll. Was empfiehlst du? Soll ich zum Baron gehen? Ihm sagen, er soll dafür sorgen, dass seine Ratten wieder verschwinden?“

Peter lachte. „Irgendjemand sollte den Mut aufbringen, das zu tun. Aber wer hat die Macht, die anschließenden Prügel auszusitzen? Vermutlich nicht mal der Kaiser persönlich. Da müsste schon der liebe Gott erscheinen. Eine Lösung habe ich nicht parat. Wenn die Entsorger nicht weiterwissen … wie sollte ich es? Paul hat erzählt, die Sammler der Innenstadt sollten schon lange von denen der Vorstädte abgehängt werden, aber offensichtlich sind sie es nicht!“

„Ach woher! Warum sollte man da auch Geld investieren? Die Sammler sind für zweibeinige Ratten undurchlässig, das reicht den hohen Herrschaften. Irgendwo unter der Mainzer Straße nahe dem Hauptbahnhof ist ein dickes Gitter, das Gleiche gilt für den Sammler am Biebricher Berg. Wo auch immer die Herrschaften aus dem Kanal kämen, es wäre Polizei in der Nähe. Ratten lassen sich davon natürlich nicht abhalten. Nun, eine Gefahr, die man kennt, ist nur eine halbe. Ich werde entsprechende Maßnahmen anordnen. Das Letzte, das ich im Moment gebrauchen kann, wäre Panik in der Innenstadt. Dann kann ich meinen Hut nehmen. Langsam wünsche ich dem General die Pest an den Hals, und seinem Sohn auch. Hast du schon gehört? Karl-Erich von Reiffenberg wird Wallenfels Tochter heiraten. Das arme Ding! Außerdem soll er die Nachfolge seines Alten antreten. Als ich das hörte, wollte ich in einem Anfall resignierter Wut meinen Abgang kundtun. Aber den Triumph gönne ich ihm nicht. Er ist ein Lump, und wenn ich etwas herausfinde, dann gehe ich gegen ihn vor. Die Kriminalpolizei ist doch kein Erbhof!“, ereiferte sich Sonnemann.

Peter lächelte. „Dann solltest du jemanden, dem du vertraust, auf diverse Freunde des netten Herrn ansetzen. Wenn von Reiffenberg junior sich mit Herrn von Kalkhofen trifft oder sie zu gemeinsamen Vergnügungen aufbrechen, solltest du alarmiert sein. Wenn die Herren dann mit Heinrich von Wallenfels in den Rheingau aufbrechen, solltest du eine schlagkräftige Truppe bereit haben. Auf frischer Tat ertappte Sünder … lass ihnen aber ein bisschen Zeit …“

Sonnemann sah Peter prüfend an, aber er wusste, dass er nicht mehr erfahren würde. Peter wusste zwar etwas, hatte aber nicht genug Beweise. Drohend hob er den Zeigefinger. „Peter, in was für Müllhaufen hast du wieder gestochert? Egal. Darauf, dass ich genau das tun werde, kannst du Gift nehmen. Wen nehme ich? Goerdeler fällt aus, Kogler ist zu alt für so was … na, ich habe da zwei hoffnungsvolle junge Kerle, die sich schon bei höheren Chargen unbeliebt gemacht haben, die machen das sicher gern.“

„Was ist mit Goerdeler?“, hakte Peter nach. „Ist was mit seiner Frau?“

„Nein. Ich musste ihm trotzdem freigeben – mit drei neuen Blagen auf einmal kommt auch eine gestandene Polizistenfrau nicht klar, auch wenn sie schon zwei ältere hat.“

„Drillinge?“, rief Peter halb erfreut, halb entsetzt. „Er hatte schon befürchtet, es könnten Zwillinge sein, und war stinkig, dass er seinem Weib wegen des Kaiserbesuches nicht beistehen konnte. Drei auf einmal sind hart. Der Ärmste.“

Sonnemann verabschiedete sich und kehrte auf seine Dienststelle zurück. Peter sah zum Himmel auf, der sich drohend zuzog, und trat beiseite, als einer der Dachdecker an ihm vorbei ins Haus hastete. Paul winkte ihm aus dem Fenster des Zwerchhauses zu. Das Dach war schon fast wieder vollständig gedeckt, die Arbeiter würden den Rest vor Einbruch der Dunkelheit schaffen. Er winkte zurück und gähnte. „Dann kann der nächste Regen ja kommen. Heute freue ich mich erst mal auf mein Bett.“

Er klemmte einen Zettel in die Tür, Paul möge leise sein, wenn er wieder hereinkam, weil er sich schon zu Bett begeben habe, und legte sich hin. Er schlief schnell ein, aber die Erholung wollte sich nicht einstellen. Alpträume plagten ihn. Diesmal fehlte das Mädchen in den Träumen, dafür waren umso mehr Ratten um ihn herum, die ihn durch lange, dunkle Gänge trieben. Er konnte nicht entkommen, und seine größte Angst war plötzlich, in einer Sackgasse zu landen, wo er ihnen hilflos ausgeliefert wäre. Wasser schien um ihn herum zu rauschen und in den Kanälen anzusteigen, ihn mitzureißen und wegzuspülen, aber die Ratten ließen sich nicht beeindrucken. Sie folgten ihm weiter.

Das Wasser spülte ihn in unterirdische Hallen, in denen eine Orgie stattfand. Die Ratten waren plötzlich nicht mehr da, dafür eine gewaltige Anzahl Männer in edler Kleidung, die im Opiumrausch über ein Heer schwindsüchtiger Huren herfiel, diese vergewaltigte, meuchelte. Die einen würgten die Frauen, bis sie sich nicht mehr wehrten. Andere peitschten sie, bis die Frauen blutend am Boden lagen. Wieder andere schnitten ihnen im Orgasmus die Kehle durch. Peter konnte nur zwischen ihnen stehen und hilflos zusehen, seine Glieder gehorchten ihm nicht. Ein paar Männer sahen ihn grinsend an und kamen mit Messern in der Hand auf ihn zu. Einige der Angreifer hatten kein Gesicht, nur eine wabernde, weiße Masse, aber er sah mehrfach den Sohn des Polizeipräsidenten und Heinrich von Wallenfels. Er wollte schreien, als sie immer näher kamen und ihnen die Mordgedanken nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben standen. Dann sah er hinter ihnen die Augen der Ratten aufblitzen. Seine Gegner bemerkten es, liefen schreiend davon, die Ratten hinterdrein. Auch Peter war nun von den größten Ratten umzingelt, die er je gesehen hatte. Ein riesiges Exemplar, kaum kleiner als ein Schäferhund, setzte zum Sprung an seine Kehle an …

… und er erwachte schweißgebadet.

Überrascht stellte er fest, dass er eine Zeitlang ruhig geschlafen haben musste, bevor die Träume begonnen hatten, denn es war mitten in der Nacht, und neben sich hörte er die ruhigen Atemzüge seines Bruders. Leise verließ er das Bett, um Paul nicht zu stören, und zog sich an. Ihm war klar, dass er keinen Schlaf mehr finden würde, und er beschloss, nach Biebrich zu gehen, um herauszufinden, ob die Sekte ein neues Treffen anberaumt hatte. In seinem Büro schrieb er eine kurze Notiz für Paul, falls er bei dessen Erwachen noch nicht zurück war, und eine weitere Botschaft, die er an der Kirche zu hinterlassen gedachte. Er wollte vor der Polizeiaktion warnen, die durchaus auch das ein oder andere Mitglied der Sekte betreffen konnte, und machte sich auf.

Der Morgen graute, als er die Kirche erreichte, aber es war still in der Vorstadt. Er fand keine Botschaft, nur einen Hinweis, dass man im Pfarrhaus weitere Mittel gegen die Ratten bekommen konnte. Man hatte das Lager nahe dem Schlosspark also geräumt und dem Rattenfänger und dem Pfarrer die weitere Verteilung überlassen.

„Sehr großzügig, Baron“, murmelte Peter und pinnte seine Botschaft in den morschen Schaukasten an der Kirche, nachdem er noch einmal den Text überprüft hatte. „Polizeiaktion in Kastel erwartet, haltet euch fern, aber redet nicht zu viel darüber. Die Aktion gilt den Verbrechern im Untergrund und hilft damit auch uns.“

Peter fühlte sich beobachtet und trat den Rückzug an. Mehr konnte er derzeit nicht erreichen. Vielleicht würde der Beobachter melden, wer die Botschaft angebracht hatte. Ob das hilfreich war, würde sich weisen. Er ging davon aus, dass der junge Baron wusste, dass ein Detektiv seine Gruppe unterwandert hatte. Seine Schwester hatte ihm sicher nichts verschwiegen.

Es begann zu regnen, ein unangenehmes Nieseln, das sofort in die Kleidung eindrang und die Glieder steif werden ließ. Peter schlug den Kragen seines Wachsmantels hoch und lief zu den Gleisen. Als er die Brücke über die Stadtbahn erreichte, hörte er in seiner unmittelbaren Nähe den Hufschlag eines Pferds und sah sich um.

Er konnte ein elegantes Reitpferd erkennen, das zwischen den Häusern einer schmalen Seitenstraße heraussprang. Ein goldener Schatten, der im Gaslicht wie eine frisch gegossene Statue glänzte. Es preschte unter den Bahngleisen zum Biebricher Bahnhof hindurch. Peter verfolgte mit seinen Blicken Tier und Reiter.

Die Stadtbahnlinie verlief von dem Punkt aus, an dem er die Gleise überquert hatte, zum Teil auf einer gewaltigen Stahlbrücke weiter. Diese überspannte die Gleise der Rheinbahn, lag aber unter den gewaltigen, auf gemauerten Pfeilern verlaufenden Trassen der Güterbahn, die sich über das Dach des alten Biebricher Bahnhofs wölbten und dann in ein Gebäude führten: das Dampfturbinenkraftwerk, augenscheinlich Ziel des jungen Barons. Peter hatte zuvor den anderen Mann in das Gebäude eindringen gesehen, mit dem der Baron nach dem Treffen der Sekte gesprochen hatte, nun bestätigte sich, dass auch dieses ungewöhnliche Gebäude für konspirative Treffen diente.

Ein Mann kam dem Reiter entgegen, dem er das Pferd überließ. Dann kletterte er flink wie ein Marder an den Stahlpfeilern der Stadtbahnlinie hoch und weiter am Pfeiler der Güterbahnlinie. Eine Dampflok mit mehreren Güterwaggons ratterte über ihn hinweg, und der Mann klammerte sich an den Sprossen fest, um nicht von den Vibrationen heruntergeschleudert zu werden, die in den steinernen Pfeilern die Qualität eines starken Erdbebens hatten. Kaum war die Bahn in der Durchfahrt im Dachgeschoss des Kraftwerkes verschwunden, kletterte er weiter, zog sich auf die Gleise und hastete auf den Schwellen entlang zu dem düster gähnenden Schlund des Tunnels.

Peter eilte ihm nach. Um dem Mann nicht zu begegnen, der sich um das Pferd kümmerte, stieg er zwei Pfeiler vorher empor und nutzte den beschwerlicheren Weg, der direkt unter den Gleisen verlief und als Dienstweg Kontrolleuren der Bahn vorbehalten war. Dieser war kaum mehr als ein schmaler Stieg aus Lochblech, nicht hoch genug, um aufrecht zu gehen, und nur mit einem Stahlseil als Handlauf. Aber Peter wählte ihn, weil in den frühen Morgenstunden der Bahnverkehr zunahm und er auf den Hochgleisen keinem Zug begegnen wollte.

Ein langsamer Güterzug kam von Kastel und ratterte mit ohrenbetäubendem Lärm über Peter hinweg. Der Laufsteg vibrierte, und Peter ließ sich auf die Knie nieder, um sich besser auf dem Steg halten zu können. Seine Ohren summten, als der Zug endlich über ihm hinweggedonnert war, weil er sie sich nicht zuhalten konnte. Das Geräusch war kaum verstummt, und er wollte gerade aufspringen, um weiterzuhasten, als ein weiterer Zug aus der Gegenrichtung kam und er sich wieder auf den Laufsteg ducken musste.

Als auch dieses Ungetüm verschwunden war, zog er sich hoch und lief das letzte kurze Stück über die Schwellen auf den Tunnel zu. Wieder kam ein Zug durch den Tunnel, und er sprang keine Sekunde zu früh in die Dunkelheit des Seitenlaufs. Im schwachen Licht der vereinzelten Dampflampen im Tunnel bemerkte Peter mit Schrecken den Überhang des letzten Wagens, der Stahlplatten geladen hatte. Sie hingen so weit über, dass zwischen ihren Kanten und den Tunnelwänden kaum ein fingerbreiter Spalt blieb. Der Seitenlauf war zudem kaum höher als die Gleise, so dass nicht genug Platz blieb, um sich liegend unter die Platten zu ducken. Auch die Gleise waren eine Todesfalle, da die Lok einen Räumschild besaß, der nur eine Handbreit Luft über dem Stahl ließ. Bei einer Stadtbahn hätte er sich flach auf die Schwellen legen können, und sie wäre über ihn weggerattert, ohne Schaden anzurichten.

Peter tastete panisch nach einer Türöffnung oder etwas anderem, in das sich der Baron geflüchtet haben musste. Er hoffte, dass es auch ihm Schutz bot, doch er fand nichts. Die nahende Dampflok verdunkelte zudem die schwachen Lichtquellen im Tunnel.

Gerade als er in Panik umdrehen und zurück auf die Hochgleise springen wollte, obwohl er sicher war, auch das nicht zu schaffen, ohne überrollt zu werden, wurde er von hinten gepackt. Unsanft wurde er ein Stück in den Tunnel und dann in einen schmalen Seitengang gezerrt, kurz bevor ihn die Stahlplatten zerquetschten.

Peter konnte nichts sagen oder tun, er wurde einfach weiter in den Gang gestoßen. In der Dunkelheit des Tunnels konnte er auch seinen Retter nicht erkennen und ließ sich einfach wehrlos von ihm in Sicherheit bringen.

„Idiot!“, zischte der Mann, der Peter in einen spärlich beleuchteten Raum schob. „Fahrpläne lesen wäre ein guter Anfang, um sich vor unliebsamen Überraschungen zu schützen. Sind Detektive immer so? Wie Bluthunde, die der Spur des Beutetiers folgen, ohne Rücksicht auf das eigene Wohlergehen?“

Da die Stimme spöttisch klang und nicht wütend, grunzte Peter nur. Es gab keine Fahrpläne für die Güterzüge. Aber er musste zugeben, dass er kopflos gehandelt hatte, als er die Chance gesehen hatte, seine Beute zu stellen. Die Vibrationen im Gleis waren eindeutig gewesen, er hatte gewusst, dass eine weitere Bahn durch den Tunnel kam, aber anstatt noch eine Weile in Sicherheit zu verweilen, war er in den Tunnel gelaufen.

Um sich abzulenken, betrachtete er seinen Retter. Der Mann stand unter einem Gasglühstrumpf an der Wand, der gemeinsam mit einem nahezu blinden Spiegel an der gegenüberliegenden Wand für die milchige Beleuchtung des kalten, unfreundlichen Raumes verantwortlich war. Noch immer verbarg die Kapuze das Gesicht bis auf den Mund, der zu einem feinen Lächeln verzogen war.

Peter wartete ab, während das Rauschen in seinen Ohren, das von den Zügen herrührte, langsam nachließ und ihn andere Geräusche wahrnehmen ließ. Auch in diesem riesigen, massigen Gebäude war ein unterschwelliges, gleichmäßiges Dröhnen zu vernehmen, ähnlich dem, das er in den Kanälen unter Kastel gehört hatte. Darunter mischte sich ein Pfeifen wie von einem Teekessel. Dampfmaschinen wurden befeuert und trieben gewaltige Zahnräder und Pumpen an, deren Funktion Peter unbekannt war. Auch hier mischte sich unter den Koksgeruch der verfeuerten Kohle der Duft nach Räucherwerk, den Äther hinterließ. Das war für Peter ein untrügliches Zeichen, dass die Energie, die dieses Kraftwerk produzierte, nicht für Biebrich oder die anderen Armenviertel gedacht war.

„In diesem Gebäude stehen die Pumpen, die das Wasserwerk nebenan versorgen. Sie halten den Wasserdruck in den städtischen Leitungen bis nach Höchst aufrecht. Nebenbei werden auch einige Mühlen und die Müllpressen im Bruch angetrieben“, bekam er eine Erklärung, als er so offensichtlich lauschte und schnupperte. „Nebenbei wird die Wärme, die die Dampfturbinen erzeugen, von der Kurverwaltung zur Beheizung der Bäder verwendet, um Thermalwasser zu sparen. Das gilt auch für alle öffentlichen Gebäude. Dieser Raum war ein Pausenraum für die Arbeiter des Dampfturbinenwerkes. Da die meisten Arbeitsabläufe inzwischen automatisiert wurden, gibt es kaum mehr Arbeiter hier, und der Raum wurde vergessen.“

Peters Gegenüber zog die Kapuze vom Kopf, und für einen Moment glaubte er, die Baronesse vor sich zu haben, obwohl die Stimme tief und männlich geklungen hatte. Das bartlose Gesicht des jungen Mannes hatte lediglich eine etwas ausgeprägtere, kantigere Kieferpartie als das der Baronesse, ansonsten waren sie kaum auseinanderzuhalten. Die gleichen grünen Augen, die gleiche schmale Nase zu hoch angesetzten Brauen, die einen dunkleren Farbton hatten als das wallende, rotbraune Haar. Im Gegensatz zu seiner Schwester hatte der junge Baron allerdings eine Unzahl Sommersprossen, was ihm einen kindlich-frechen, mädchenhaften Ausdruck verlieh. Seine Haare lockten sich bis auf die Schultern, und er warf sie mit einer ungeduldigen Kopfbewegung zurück, als ihm einige Strähnen in die Augen fielen.

Peter war fast erleichtert, nicht einen Hinweis auf den Vater im Gesicht des jungen Mannes zu finden. Konstantin von Wallenfels schien eine männliche Ausgabe seiner Mutter zu sein. „Sie haben mich mit Absicht hierhergelockt, nicht?“, stellte er fest.

„Natürlich. Ich habe Sie schon bei der Versammlung erkannt, meine Schwester gab mir eine ausführliche Beschreibung Ihrer Person. Sie haben Mut, das muss ich Ihnen neidlos zugestehen. Vor allem, weil Sie zwar für meinen Vater arbeiten, ihm aber, wie soll ich sagen … trotzdem auf eine gewisse Weise in den Rücken fallen, indem Sie uns helfen. Meine Schwester war sehr unglücklich, als sie die Verlobung bekanntgeben musste – jetzt lächelt sie wieder und hat Hoffnung, dass es doch noch anders kommt. Dafür bin ich Ihnen dankbar und hoffe, es gelingt Ihnen, von Reiffenberg aus dem Rennen zu nehmen. Aber davon soll hier keine Rede mehr sein. Sie sind aus anderem Grunde das Risiko eingegangen, mir zu folgen. Sie wollen Antworten, und Sie sollen sie haben.

Meine Schwester fürchtet sich vor dem, was ich vorhabe, aber in der Sache steht sie hinter mir, seit Vater ihr den Beweis für meine Behauptungen präsentiert hat. Er ist auch noch stolz darauf.“ Er stockte, und sein Blick wurde flehend, als er anfügte: „Sie haben uns nicht verraten?“

„Noch nicht, und die Pinkertons sind erst mal auf einer falschen Spur. Aber ich will endlich wissen, warum ich das auch weiterhin für mich behalten soll! Geben Sie mir einen Grund, Ihnen zu helfen und den Rücken freizuhalten. Bisher war es die Abneigung gegen Ihren Vater, die mich antrieb, und die Unmöglichkeit, aus dem Auftrag heil wieder herauszukommen, ohne meinen Ruf und meinen Lebensunterhalt zu riskieren.“

„Was wissen Sie über die Pazuzu?“, entgegnete von Wallenfels und zog aus dem Schatten zwei klapprige Hocker heran. Er ließ sich auf einen der Hocker sinken und bot Peter den anderen an.

Peter setzte sich und berichtete das Wenige, was er in Erfahrung hatte bringen können: die besonderen Patente und Materialien, die aus der Stahlkrise heraushelfen sollten. „Mehr war nicht herauszubekommen. Nur noch, dass auch der Bau der Halle mal wieder nur mit Druck auf entscheidende Personen zustande kam. In diesem Fall auf den Bürgermeister von Kelsterbach, um den Ort eingemeinden zu lassen, damit der Bauantrag trotz des Widerstandes der Anwohner und der Bedenken wegen des problematischen Baugrundes durchging. Warum wollen Sie verhindern, dass dieses Luftschiff in Dienst gestellt wird? Es gibt so viele anderen Dinge, die Ihr Vater verbockt hat, warum ist es so wichtig? Zumal Luftschiffen die Zukunft gehören könnte und auch andere Industrielle deren Entwicklung forcieren. In Hamburg gibt es schon einen Luftschiffhafen, der sogar Linienverkehr nach Übersee betreibt.“

„Weil die Pazuzu das Symbol für den Wahnsinn meines Vaters ist. Alles andere ist eine Folge dieses Wahns. Aber das ist nicht der einzige Grund. Außer Heinrich und mir kennen nur zwei Ingenieure und zwei Ärzte das ‚Geheimnis um die neuartige Steuerung des Luftschiffes. Jetzt kennt es auch meine Schwester, und ihr Entsetzen darüber ist genauso grenzenlos wie das meine. Wenn diese Entwicklung, weil sie so genial ist, tatsächlich eines Tages Einzug in die Patentbücher hält, dann ist alles zu spät. Dann hat mein Vater nicht nur die Gesetze des Deutschen Reiches gebrochen, sondern auch alle moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft, die Grundrechte der Menschen. Dann sind Menschen nicht mehr als eine Handelsware, beliebig austausch- und benutzbar.“ Konstantin machte eine Pause und sog heftig Luft ein. „Oder besser gesagt, nur noch Lieferanten für Ersatzteile.“

Peter verstand nicht, worauf er hinauswollte, aber er war sich sicher, genug Vertrauen gewonnen zu haben, damit der junge Baron auch ihn in das Geheimnis einweihte. Die letzte Bemerkung weckte in ihm eine unbestimmte Furcht. Noch verstand er sie nicht und unterdrückte das Entsetzen, das in ihm aufkeimte. Mit Schrecken bemerkte er die Tränen, die dem jungen Mann in die Augen schossen, und die heftige, wütende Bewegung, mit der er sie wegwischte. Ihm wurde klar, dass von Wallenfels seinen Vater aus tiefster Seele hasste. Sollte er jemals so etwas wie Zuneigung zu seinem Erzeuger empfunden haben, so hatte der Baron diese Empfindungen in seinem Sohn offensichtlich vollständig abgetötet. Peter wartete. Er hatte Zeit und war sicher, dass er nun alles erfahren würde.

„Für die Bedienung des Luftschiffes wird künftig nur eine Person notwendig sein“, fuhr Konstantin fort. „Gutes Personal ist selten und entsprechend teuer. Ein Luftschiffkapitän verdient ein Vielfaches dessen, was der Kapitän eines normalen Schiffes heimbringt, er kann jeden Preis verlangen. Durchaus berechtigt, denn es sind in der Regel Studierte mit einem Kapitänspatent, und auch das übrige Personal ist teuer, weil es sehr spezialisiert ist, also Navigatoren und Techniker. Trotz aller Vorteile, die ein Luftschiff zum Beispiel beim Transport schwerer Lasten hat, verringert all das die Auftragslage. Also musste neben ein paar Innovationen, die ein Luftschiff schneller, leichter und billiger in der Herstellung machen konnten, auch eine Möglichkeit gefunden werden, die Steuerung so zu vereinfachen, dass man viel hochqualifiziertes Personal einsparen konnte.

Das Problem war, dass die Steuerung des Schiffes sehr komplex und auf mehrere Räume in der Steuerkabine verteilt war. Das Ziel war zunächst nur, alles auf kleinstem Raum unterzubringen und so einer Person zu ermöglichen, alle Arbeit zu machen. Weiteres Luftschiffpersonal sollte sich auf die Betreuung von Passagieren oder die Ladearbeiten beschränken. Bestenfalls sollte ein Techniker für Reparaturen dabei sein. Selbst für Langstrecken sollte ein einziger Kapitän ausreichen. Dampfgetriebene, datenverarbeitende Maschinen, die wie eine Dampforgel mit Lochstreifen bestimmte vorgefertigte Abläufe abspulen, selbst aber auch einzelne Arbeitsschritte speichern und die Anforderungen aus den Lochdatenträgern mit ihnen koordinieren können, waren ein Teil der Lösung, sie sind inzwischen schon recht ausgereift, und die Ingenieure meines Vaters haben sie für den Betrieb in einem Luftschiff weiter verfeinert. Das ist nur eine grobe Darstellung dieser wirklich genialen Innovation, aber es macht ihre Arbeitsweise auch für jemanden verständlich, der kein Ingenieursstudium durchlaufen hat.

Aber diese Maschinen sind sehr schwerfällig und nicht fähig, intuitiv zu handeln. Sie bieten unveränderliche Abläufe. Zwar kann man vieles vorausberechnen, aber ein Luftschiff ist vielen äußeren Bedingungen ausgesetzt, die sich schnell und unvermittelt ändern oder neu kombinieren. Denken Sie nur an das Wetter. Die Datengeräte können dem Luftschiffkapitän vieles abnehmen, aber nicht die Konzentration, die es erfordert, auf alle Schwankungen zu reagieren. Es musste eine ‚intelligente Steuerung her, die intuitiv handelt. Aber das kann nach wie vor nur ein Mensch, eine Maschine wird das nie schaffen. Man kann vieles komprimieren, viele Schaltungen auf ein Steuerpult bauen, aber alles zu überblicken, schnell und sicher zu reagieren, ist auch für einen jungen, agilen Mann nahezu unmöglich.

Vater hat eine Lösung dafür gefunden, die auf ihre Art an Abartigkeit kaum zu übertreffen ist. Für mich steht sie auf einer Stufe mit dem, was mein hoffentlich nicht künftiger Schwager treibt. Es verstößt gegen Gesetze, Moral und alle menschlichen Wertvorstellungen. Besonders kommt Vater dabei mit §328, Artikel 5 in Konflikt. Sagt Ihnen das etwas? Vater selbst schrammt gerade noch daran vorbei. Abgesehen davon ist es mit keinem Gesetz der Kirche und der Moral vereinbar.“

Peter runzelte die Stirn. Er hatte von diesem Paragrafen gehört, wusste aber aus dem Stegreif nicht, was er besagte. Als Konstantin sich allerdings bei der letzten Bemerkung an sein rechtes Auge tippte, erinnerte er sich.

„Der Prothesenparagraf!“, platzte er heraus. „Man darf nicht mehr als ein Fünftel des Körpers durch künstliche Bauteile ersetzen oder einen Körper damit künstlich am Leben erhalten, wenn sicher ist, dass er ohne nicht lebensfähig ist.“ Plötzlich dämmerte ihm, worauf Konstantin hinauswollte. „Er hat doch nicht …?“

„Doch, und noch viel mehr, deshalb habe ich mich auch von ihm losgesagt. Er hat einen Menschen als Teil einer intuitiven Steuerung für seinen wahnsinnigen Plan vom perfekten Luftschiff eingeplant. Ich weiß nicht, ob die Anlage schon eingebaut ist, aber das Gehirn hat er, und es wurde für die Aufgabe vorbereitet. Er will nicht irgendein Gehirn verwenden, sondern das meines Zwillingsbruders, inklusive seines Körpers. Valentin soll Teil der Pazuzu werden und die Pazuzu Teil von ihm. Ohne die lebenserhaltenden Maschinen kann sein Körper nicht existieren, und die Pazuzu ist ohne ihn nicht lenkbar.

Haben Sie auch nur eine Ahnung, wie eng Zwillinge miteinander verbunden sind? Wie tief ihre Verbindung reicht? Vor zehn Jahren hatte mein Bruder einen Unfall. Dabei blieben sein Körper und sein Gehirn voll funktionstüchtig, allerdings war sein Geist, sein Gehirn, nicht mehr imstande, den Körper zu verwenden, und vom Körper abgehängt. Der Körper war nur noch eine Hülle für das unversehrte Gehirn. Als man die Ernährung einstellte, versagten innerhalb kürzester Zeit Herz und Lunge, und Valentin starb. Das ist die offizielle Version. Die von Valentins Ableben. So sah es auch der Arzt, der den Totenschein ausstellte. Doch der Mann war kaum aus dem Zimmer, als andere Valentins Körper mitnahmen. Jetzt steuern Maschinen die Vitalfunktionen, die nötig sind, um das Gehirn am Leben zu erhalten. Valentins Geist ist hellwach, und ich spüre seine Verzweiflung, seine Angst, als wäre ich an seiner Stelle. Er war ja noch ein halbes Kind, als der Unfall geschah, und jetzt sollen Teile seines Gehirns das Schiff kontrollieren.

Es macht mich wahnsinnig, und ich habe versucht wegzulaufen, aber die Verbindung zwischen mir und ihm ist stärker als Mauern. Ich kann nicht entkommen, und er fordert von mir Erlösung. Das mag für Sie klingen, als sei ich selbst wahnsinnig geworden. Aber bitte, prüfen Sie Ihr Herz und Ihren Verstand, wie Sie auf derartige Dinge reagieren würden. Sie haben auch einen Bruder, oder? Als Mensch mit ganz normal ausgeprägter Moral und Skrupeln müssten Sie das nachfühlen können, selbst wenn Sie mit Ihrem Bruder nicht so eng verbunden sind, wie ich es mit Valentin war und bin. Ich will Valentin erlösen. Ich will dieses Luftschiff zerstören, mit ihm und meinetwegen auch mit mir darin. Es ist unerheblich. Mein Leben ist mit ihm vergangen. Wäre er damals gestorben, hätte ich vielleicht ein eigenes Leben beginnen können. Aber nicht mit dem Empfinden, genauso gequält zu werden wie Valentin. Ich halte seine Qualen nicht mehr aus, und wenn ich zu seinem Mörder werde, dann kann ich ohnehin nicht mehr weitermachen. Ich werde mit ihm gehen.“

Konstantin endete mit einem Seufzer, der ein Schluchzen überspielte. Peter sah ihn entgeistert an. Es war fantastisch, surreal, doch er glaubte dem jungen Mann jedes Wort, und nicht nur, weil er dem Baron inzwischen jede Schandtat zutraute. Dass er auch ihm nahestehende Personen ausnutzte, bewies die Verlobung seiner Tochter mit dem schlimmsten Gecken des Groß-Stadtkreises. Alles, was er bislang an Feindschaft und Hass Wallenfels gegenüber bei anderen gespürt zu haben glaubte, konnte Peter nun verstehen. In ihm selbst kochte so etwas wie Feindseligkeit auf und verdrängte die Furcht, sich dem Baron entgegenzustellen, auch wenn er nicht wusste, wie er vorgehen sollte. Konstantins flehender Blick wurde für Peter zur fast körperlichen Qual. Konstantin erwartete von ihm eine Meinung, eine Stellungnahme.

„Was werden Sie tun? Was haben Sie vor? Gibt es einen Plan? Die Pazuzu vernichten oder nur ihre Steuerung? Wann soll sie überhaupt in Dienst gestellt werden?“, hakte er nach, um Zeit zu gewinnen.

„Wenn ich eine Möglichkeit finde, nur Valentin endlich Frieden zu geben, dann werde ich das tun. Ich will das Schiff nicht unbedingt vernichten. Das Schiff an sich ist keine Schande, es ist auch ohne diese Steuerung ein Meisterwerk. Aber es muss gewährleistet sein, dass er sich nicht einfach Ersatz beschafft und einen anderen Menschen ins Unglück stürzt. Im Zweifelsfalle bedeutet das auch die Vernichtung der Pazuzu. Ich will nicht, dass Unbeteiligte zu Schaden kommen. Das liegt mir fern, das müssen Sie mir glauben.

Ich weiß nur nicht, wo er Valentin versteckt hält, und glaube, mein Vater ahnt inzwischen, wer aus der Familie gegen ihn arbeitet, obwohl meine Schwester alles tut, um mich zu schützen. Ich darf nicht mehr auf die Werft und habe keine Ahnung, wo ich suchen müsste. Ich bin aber sicher, dass Valentin irgendwo beim Luftschiff ist, ich spürte ihn, als ich das letzte Mal dort war. Ich ertrug sein Flehen um Erlösung nicht mehr, es hat mich körperlich geschwächt, und ich bin auf der Werft zusammengebrochen. Das hat den Ausschlag gegeben, mich nicht mehr dorthin zu lassen, und leider ist auch mein letzter Spion nicht erfolgreich gewesen. Sanker, Sie kennen ihn, ich habe gehört, Sie bewahrten ihn vor dem Tod, als der Fuchs ihn aufgriff. Er hatte aber anscheinend schon anderen Dreck am Stecken, wie man so schön sagt, und ist möglicherweise erkannt worden. Jedenfalls ist er nicht zurückgekommen, um Bericht zu erstatten, und ist spurlos verschwunden. Niemand weiß, ob man ihn verhaftet hat oder was auch immer. Ich hoffe, er erzählt nichts, aber eigentlich kann er nicht viel verraten, er hat mein Gesicht nie gesehen.“

Peter dachte nach, und ihm kamen Pauls Hinweise zu unterirdischen Räumen unter der Luftschiffhalle in den Sinn. „Sanker hat wegen Hehlerei gesessen und stand möglicherweise noch auf verschiedenen Fahndungslisten. Es ist möglich, dass er nicht wegen Spionage verhaftet wurde, sondern wegen eines anderen Vergehens, und selbst wenn er einmal Ihr Gesicht gesehen hätte, ich glaube nicht, dass er in der Lage gewesen sein könnte, Sie zu identifizieren. Von daher können Sie sich sicher fühlen.

Möglicherweise kann ich Ihnen aber auch sagen, wo Ihr Bruder ist, wenn er noch nicht … in die Steuerung eingebaut wurde. Man braucht einen besonders ausgestatteten Raum, um einen solchen Körper zu lagern und zu behandeln, oder? Mein Bruder – dem ich auch sehr nahe stehe, näher als Brüder mit einem gewissen Altersunterschied das gemeinhin tun – hat eine Abweichung in den Bauantragsplänen der Luftschiffhalle entdeckt. Er ist Architekt und hat nicht weniger Brass auf Ihren Papa, deshalb war er schnell dafür zu gewinnen, sich in dieser Sache durch das Archiv der Baupolizei zu wühlen. Die Halle ist unterkellert, einige kleinere Räume tauchen aber nicht auf den Plänen auf. Dafür aber diverse Besonderheiten in der Ausschreibung: ein Kühlraum und besonders abgedichtete Räume. Ich kann Paul bitten, seine Skizzen etwas auszuarbeiten, dann haben Sie zumindest eine Übersicht, wo Sie suchen müssen. Oder wohin Sie einen Spion schicken können.“

Konstantin sah ihn überrascht an. „Bitte tun Sie das! Sie haben recht, es bedarf besonderer Räumlichkeiten, bis man ihn in der Pazuzu verwenden kann. Zumal niemand erfahren darf, was in dem Raum hinter der Steuerkanzel geschehen soll, solange dort noch Arbeiter Montagearbeiten verrichten. Viel Zeit bleibt uns allerdings nicht. In gut einem Monat soll der Jungfernflug stattfinden. Dazu wird mein Vater ein Fest ausrichten. Ein Volksfest. Sollte es mir vorher nicht gelingen, das Schiff zu sabotieren, dann ist das meine letzte Hoffnung: im Trubel das Schiff zu entern und Valentin zu töten. Das war sein Wunsch, er besteht darauf. Ich spüre ihn sogar hier, weit weg. Etwas von ihm ist in mir.“

Peter seufzte. Er hoffte, sich elegant aus der Affäre ziehen zu können. „Wenn es Ihnen gelingt, ohne dass andere Menschen dabei zu Schaden kommen, dann werde ich Ihre Tätigkeiten geflissentlich übersehen. Ich fürchte, mehr kann ich nicht tun, da ist mir leider auch das Hemd näher als der Rock … wenn ich den Auftrag ablehne oder mich gegen Ihren Vater stelle – nun, Sie wissen, was mir dann blüht, und ich bin in mancherlei Hinsicht ein Feigling. Ich bin wohl gerade dabei, ihn mir zum Feind zu machen, weil ich noch in andere Richtungen ermittele, die ihn am Rande auch betreffen. Allerdings habe ich da ein paar Kleinigkeiten in der Hand, die mich absichern. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen. Solange kein Schaden entsteht, werde ich gern tätig. Ich werde Paul auf jeden Fall um den Plan bitten.“

Konstantins Gesicht entspannte sich. „Mehr konnte und wollte ich auch nicht verlangen. Danke. Sie können dem Pfarrer von Sankt Marien Botschaften für mich hinterlassen, er lässt sie mir zukommen. Ich fürchte allerdings, mein Vater lässt mich bald nicht einmal mehr in Valentins Nähe, und verstößt mich – aus seinem Umfeld und von seinen finanziellen Mitteln. Zum Glück bin ich finanziell unabhängig und volljährig. Wenn Sie Geld brauchen …“

„Danke, im Moment bin ich ganz gut ausgestattet, und Paul hat auch noch Ersparnisse. Ihr Herr Papa hat mich für die letzten Informationen, die ich ihm gegeben habe, recht üppig bezahlt. Ich werde mich jetzt erst mal anderen Fällen widmen und diesem nur am Rande … ähm – wie komme ich jetzt hier heil wieder raus, ohne vom Zug überfahren zu werden?“