Orgienstürmer

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Der Triumph über Wallenfels gab Peter und seinen Bundesgenossen die Kraft weiterzukämpfen. Die nächste Schlacht stand auch schon unmittelbar bevor. Schließlich wusste Peter bereits, wann die nächste Orgie stattfinden sollte, und hatte Sonnemann gegenüber Andeutungen gemacht, die zu verstärkter Observationstätigkeit führten.

Zwei Tage lang hatte Peter befürchtet, Heinrich von Wallenfels habe nach dem Drama auf dem Flugfeld möglicherweise die Lust an einer weiteren Orgie verloren, aber diese Angst erwies sich als unbegründet. Im Gegenteil, schien er doch erst recht Luft ablassen zu wollen, jedenfalls deutete Peter die kurze telefonische Warnung der Baronesse so, die am Morgen vor der terminierten Orgie kam.

Was das bedeutete, war Peter klar. Wallenfels würde sich abreagieren wollen, selbst wenn das immense Kosten verursachte, weil es alle Huren das Leben kostete. Es konnte ihm egal sein, wie viel er investieren musste, Geld spielte für ihn nun mal keine Rolle. Peter war fantasievoll genug, um sich vorzustellen, wie schief der Haussegen bei den von Wallenfels hing und wie viel Entspannung ein Mann wie Heinrich nun brauchte.

Um seine Anspannung zu bekämpfen, beschäftigte Peter sich mit den Vorbereitungen für die Hochzeit mit Katharina und stieß dabei rasch an seine Grenzen, so dass das Telefon ein weiteres Mal zu seinem wichtigsten Arbeitsgerät wurde. Es fing damit an, dass er keine Ahnung hatte, welcher Konfession Katharina angehörte, ob sie auf eine kirchliche Trauung Wert legte und ob sie alle Papiere dafür hatte. Es wurde ein langes Telefonat, immer wieder unterbrochen von Bekundungen der Zuneigung, so dass Paul, der ihm eigentlich helfen wollte, schnell wieder aus seinem Blickfeld verschwand und sich seinen Plänen widmete.

Als er einhängte, schrillte der Apparat sofort wieder. Kaum hatte er abgenommen, knurrte ihm Sonnemanns Stimme entgegen: „Was telefonierst du denn stundenlang? Ich dachte, du hasst diesen Apparat? Es tut sich was. Wallenfels hat sich heute ganz früh zu einem Spaziergang auf den Neroberg aufgemacht und im Café des Hotels oben zwei Männern getroffen, auf die die fehlenden Kürzel ,Alf und ,Pille perfekt passen würden. Alf ist Geheimrat Alfons Hasselbach, einer der direkten Zuträger unseres Oberbürgermeisters. Entschuldige den Fäkalausdruck, aber der Mann ist ein Arschloch. Wenn ich sage: Zuträger des Oberbürgermeisters, dann meine ich einen, der selbigem auch gern in den Allerwertesten kriecht und bei dem man aufpassen muss, dass man nicht auf der Schleimspur ausrutscht, die er hinterlässt. Wie sagt Kogler immer so schön? Ein Radfahrer, nach oben buckelt und nach unten tritt. Der passt bestens ins Bild. Bei dem anderen Mann habe ich wegen des beschriebenen Äußeren die richtigen Schlüsse gezogen. Du sagtest, ein älterer Mann mit dichtem Backen- und Kaiserschnurrbart. Pille ist keine Abkürzung von Philipp oder so, sondern bezieht sich auf den Beruf des Herrn: Er ist Oberarzt in der psychiatrischen Klinik auf dem Eichberg bei Eltville – Doktor Matthias Wagner. Auch kein netter Mensch, aber da schiebe ich es mal auf den Umgang. Man kann mir viel erzählen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Umgang mit Irren im Laufe der Jahre nicht doch mal abfärbt.“

„Wagner? Von dem habe ich gehört, soll eine Koryphäe seines Berufsstandes sein. Aber wahrscheinlich hast du recht, irgendwann überträgt es sich. Wagner hat einen Haufen Bücher über Irrsinn und Hysterie geschrieben. Ich habe mal einen Auszug aus einem davon gelesen. Ich fand, es sind eher irrsinnige, hysterische Bücher mit kaum vermittelbarem Inhalt und damit nutzlos. Also, was machen wir? Oder kannst du nichts tun, weil es im Rheingau passiert, nicht im Stadtkreis? Da gab es doch immer Probleme?“

Sonnemann erklärte Peter, was er getan und geplant hatte und wo er ihn mit einzubeziehen gedachte. Peter sagte zu und hörte sich dann noch an, was Sonnemann zu den Drogen berichtete, die man im Fuchsbau gefunden hatte. Natürlich hatte der Gerichtsmediziner mit Hilfe eines Botanikers aus dem Institut des Botanischen Gartens zu Frankenfurt herausfinden können, um was für Pflanzen es sich handelte, aber das erklärte noch lange nicht, woher der Fuchs sie hatte. Vor allem nicht in diesen Mengen.

„Ein Gewächs, von dem säckeweise Blüten im Lager waren, ist die Engelstrompete, botanisch Datura irgendwas. Das Kraut wächst in Kübeln vor dem Kurhaus, und es gibt wohl auch eine wilde Pflanze, die auf Bahndämmen und Brachen wächst, bei der ein Konsum der Blüten oder Samen ähnliche Wirkung hat – nur viel gefährlicher. Das Zeug ist noch giftiger, Stechapfel oder so. Kenne ich sogar, piekt gewaltig beim Unkrautrupfen. Die großen Kübelpflanzen allerdings ertragen unsere Winter hier nicht und werden deshalb im Herbst in die Treibhäuser der Stadtgärtnerei im Aukammtal gebracht. Das andere Zeug ist ein Pulver aus getrockneten Pilzen. Die kann man auf Strohballen in feuchten Kellern ziehen – das würde zum Fuchs passen. Feuchte Keller gibt es in seinem Revier massenhaft. Das Problem beider Substanzen ist allerdings, dass man sie ohne genaue chemische Analyse nicht richtig dosieren kann. Der Wirkstoff ist immer in unterschiedlicher Konzentration in den Pflanzen vorhanden, jeder Strauch, jedes Pilzbündel hat einen anderen Giftgehalt. Deshalb gibt es auch so oft Tote beim Genuss dieser Mittel. Mich wundert bei dem Zeug aber in erster Linie, woher sie die Engelstrompeten in solchen Mengen bekommen“, erläuterte Sonnemann.

Peter hatte sich selbst auch Gedanken über dieses Problem gemacht und einen losen Faden gefunden. Plötzlich bekam er ihn zu fassen: „Oberrad! Die alten Grünkohl- und Kräutergärtnereien. Sie sollten doch dem wachsenden Ortsteil beziehungsweise den wuchernden Armenvierteln am Main weichen. Wer hat je kontrolliert, ob die Gewächshäuser dort tatsächlich abgerissen wurden, nur weil die Armen dort wie im Parkfeld in irrwitziger Zeit alle freien Flächen zugebaut haben – und im Palmengarten zu Frankenfurt gab es doch sicher auch die ein oder andere Engelstrompete, von der ein findiger Gärtner, der nicht im noblen Westend residieren darf, sondern in den Gossen am Main, ein paar Stecklinge zieht?“

„Das werde ich sofort kontrollieren lassen!“, rief Sonnemann und legte auf, bevor Peter noch etwas sagen konnte.

Ein Blick auf die Uhr verriet Peter, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, sich auf die Tour in den Rheingau vorzubereiten. Er ging ins Wohnzimmer, um Paul zu informieren. Sein Bruder brütete über einem Berg Papiere und sah überrascht auf, als Peter eintrat. Dabei ließ er fast unbemerkt eine Handvoll Briefbögen unterm Wohnzimmertisch verschwinden.

„Willst du mitkommen, wenn wir von Wallenfels und von Reiffenberg hopsnehmen?“, fragte Peter, obwohl er sicher war, die Antwort schon zu kennen.

Paul schüttelte den Kopf. „Da will ich nicht nochmal hin, wenn zu befürchten steht, dass es dort wieder zugeht wie das letzte Mal.“

„Dachte ich mir ... was hast du da gerade weggetan?“, fragte Peter grinsend.

„N... nichts ...!“, stotterte Paul verlegen und sah, ganz Unschuldsengel, zur Zimmerdecke. Allerdings war er puterrot angelaufen.

„Na schön, ich lasse mich überraschen ... ich hoffe, es ist eine angenehme Überraschung.“ Peter hob drohend den Finger und machte sich auf den Weg nach Eltville.

Als er aus dem Haus trat, stieß er fast mit dem Jungen von gegenüber zusammen, der sich sofort verkrümeln wollte, aber von Peter gnadenlos am Kragen gepackt wurde. „Raus mit der Sprache. Ich weiß, dass mein Bruder dich auch schon in Lohn und Brot genommen hat, und ganz offensichtlich plant ihr zwei etwas. Was?“

Der Junge druckste herum, aber er grinste breit. „Soll eine Überraschung für Sie werden, Herr Langendorf, ich verrat nix!“, nuschelte er. „Sonst isses doch keine mehr, und ich finds schön. Sie bestimmt ooch!“

„Georg Feix, mit dir nimmt es mal ein schlimmes Ende ...“, predigte Peter mit gespielt verzweifeltem Gesicht. Dann entdeckte er zwei weitere Personen in der Hofeinfahrt, die sein Gespräch mit dem Jungen beobachteten. In dem einem meinte Peter den Schreinermeister aus der Schiersteiner Straße zu erkennen, in dem anderen einen Glaser, der ihm einmal die Bleiverglasungen im Treppenhaus repariert hatte, nachdem bei einem Sturm ein Ast der Straßenbäume Teile davon zerschmettert hatte. So langsam machte sich eine Ahnung in Peter breit, dass die Pläne auf dem Wohnzimmertisch nicht nur das Hamburger Projekt betrafen. Aber er hatte nicht genauer hingesehen, zumal er ohnehin nicht in der Lage war, einen Bauplan zu lesen. Er ließ Georg los. „Na schön, dann lasse ich mich überraschen. Wehe, ihr richtet Chaos an.“

„Keine Bange!“

Ohne weiter auf die Männer in der Durchfahrt zu achten, lief Peter zum Bahnhof, um in den Rheingau zu fahren. Da er viel Zeit hatte und das Ganze unauffällig gestalten wollte, nahm er einen Bummelzug, der an nahezu jeder Straßenkreuzung hielt.

Zu seiner größten Überraschung entdeckte er in seinem Abteil einen Mann, der ihm bekannt vorkam. Als Sonnemann den Namen Hasselbach genannt hatte, war ihm ein Zeitungsartikel mit einem Foto eingefallen, auf dem der Geheimrat dem Kaiser vorgestellt worden war. Peter war sicher, dass vier Sitzreihen vor ihm der Geheimrat saß und selig lächelnd aus dem Fenster starrte, ohne seine Mitreisenden wahrzunehmen. Seine hohe Position in der Stadtverwaltung war ihm nicht anzusehen, er war gekleidet wie ein Bürger aus dem Mittelstand, was auch dem Waggon zweiter Klasse entsprach, und das, obwohl die Züge in den Rheingau in deutlich besserem Zustand waren als die nach Norden und eine erste Klasse besaßen, die diesen Namen auch tatsächlich verdiente.

Peter betrachtete das Gesicht des Mannes, und seine Miene wurde eisig. Solche verlogenen, perversen Menschen standen also einem derart großen, komplexen Städteverbund vor. Sie herrschten wie kleine Könige über offiziell mehr als zwei Millionen Menschen im Großstadtkreis. Inoffiziell wurde sogar die doppelte Anzahl angenommen, aber diese Kerle konzentrierten sich nur darauf, Würdenträger und Monarchen zu hofieren, und wenn man sie mal aus den Augen ließ, dann kam eine finstere Seite zum Vorschein, die niemand erahnte. Dann waren die Menschen, über deren Wohl und Wehe sie zu befinden hatten, nur Sklaven, mit denen man tun und lassen konnte, was man wollte.

Peter wandte sich angeekelt ab, als der Mann sich umsah, und nahm sich vor, ihm zu folgen, obwohl er eigentlich erst noch irgendwo hatte einkehren wollen. Aber das hatte auch der Mann vor und steuerte ein Weinlokal am Bahnhof an: die Wirtschaft, in der Peter mit seinem Bruder bereits bei ihrem letzten Aufenthalt in Eltville gegessen hatte. Der Mann setzte sich in eine dunkle Ecke und bestellte Weinschorle und Brezel mit Spundekäs, während Hasselbach ein üppiges Mahl aus Schweinebraten orderte, als bekäme er für den Rest des Tages nichts mehr zu essen. Sein üppiger Bauch zeugte davon, dass er nicht selten zu viel aß, und für die Drogen, die er an diesem Abend zu sich zu nehmen gedachte, brauchte er eine Grundlage.

Grimmig verfolgte Peter über den Rand seines Römers hinweg jeden Bissen des Geheimrats, bis eine Bewegung am Rand seines Blickfeldes seine Aufmerksamkeit forderte. Ein Mann war an seinen Tisch getreten, und Peter sah überrascht auf. „Richard?“, sagte er verblüfft, als er seinen Freund Kogler erkannte.

„Darf ich mich setzen?“

„Klar!“ Peter schob den Stuhl weg, und Kogler setzte sich ihm ächzend gegenüber, ohne auf sein Umfeld zu achten. Jedenfalls schien es so, aber Peter wusste es besser. Die blauen Augen des Kommissars huschten unruhig in ihren tiefen Höhlen hin und her. „Bist du auf ‚Alf‘ angesetzt? Ich dachte, du wärst nur noch Schreibtischtäter.“

Kogler grinste und beugte sich näher zu Peter. „Du weißt doch, wie groß der Personalmangel wegen des Kaiserbesuches ist. Da werden dann eben auch alte Säcke wie ich in den aktiven Dienst zurückgeholt. Ich war schon an Alf dran, als du in den Zug gestiegen bist. Jeder potentielle Verdächtige hat einen Schatten. Wir folgen ihnen bis zum Ort des Geschehens und werden sie hopsnehmen, wenn wir sicher sein können, dass sie schön feiern. Rate mal, wer Reiffenberg folgt!“

Da das giftige Grinsen nicht aus Koglers Gesicht wich, fiel es Peter leicht, die Antwort zu erraten: „Sonnemann?“

Kogler zog sich mit dem Zeigefinger das Unterlid hinunter. „Holzauge, sei wachsam! Stimmt. Wenn das klappt heute, kommst du dann wieder? Dann ist von Reiffenberg weg vom Fenster, senior wie junior!“

Peter starrte in den blauen Dunst über den Köpfen der Gäste. Zigarettenrauch mischte sich mit dem Rauch aus vielen Pfeifenköpfen und dem Qualm des Kohlefeuers der Küche. Er dachte an Katharina und ihr gemeinsames Leben. Eine Anstellung bei der Polizei war allemal besser als ein ungewisses Leben als Privatdetektiv. „Ich hatte ja kundgetan, dass ich nur gehe, weil ich nicht in der Lage bin, unter von Reiffenberg zu arbeiten. Wenn er weg ist und man mich noch haben will, dann bin ich auch wieder bei euch, natürlich.“

Kogler nickte. „Gut. Dann machen wir ihn fertig!“

„Aber gern!“

Hasselbach zahlte und ging. Auch Kogler und Peter beglichen ihre Rechnungen und folgten ihm. Sie schwatzten unbeschwert, was Hasselbach in Sicherheit wiegte, der sich misstrauisch umgesehen hatte, als sie so kurz nach ihm aus dem Haus gekommen waren. Peter zog Richard um eine Hausecke und blieb einen Augenblick weiter schwätzend mit ihm dort. Dann spähte er vorsichtig in die Straße, die zur Villa führte.

„Er spaziert hoch. Komm, wir nehmen einen anderen Weg, um ihm nicht zu dicht auf die Pelle zu rücken.“ Peter erinnerte sich noch an den Rückweg durch die Weinberge, den Paul und er genommen hatten. Geduckt rannte er mit Kogler den parallel zur Straße verlaufenden Weg entlang. Nur hin und wieder hob er den Kopf, um nachzusehen, ob Hasselbach noch auf der Straße war. Zwischen den Reben tauchte immer wieder der beleibte Körper des Geheimrates auf, der ein fröhliches Liedchen pfiff.

Kogler schnaufte hinter Peter her. „Stopp!“, zischte er plötzlich und duckte sich hinter die Reben. „Da kommt eine Kutsche!“

Peter sah unter den noch nicht so üppig belaubten Reben hindurch und konnte einen kurzen Blick auf eine düstere Kutsche mit nur einer Lampe erhaschen. „Der Fuchs“, murmelte er, „ist auf dem Kutschbock. Die liefern die Mädchen. Da wird sich Sonnemann aber freuen und strahlen wie sein Namensgeber. Nicht nur die Orgie sprengen, er darf auch noch den Fuchs in Empfang nehmen, der seine Lieferung persönlich überwacht.“

„Feine Sache für Sonnemann!“, knurrte jemand hinter ihnen, und sie fuhren herum.

Sonnemann hatte sich lautlos wie eine Katze hinter sie geschlichen und gab ein Zeichen. Ein weiterer Mann kam zu ihnen geeilt, ein junger Kerl in Uniform. „Lenze, sorgen Sie dafür, dass die Kutsche unbehelligt von der Villa wegkann, und nehmen Sie die Kerle auf dem Bock dann spätestens am Ortseingang von Eltville in Empfang, bevor sie in Seitenstraßen entwischen können. Passen Sie auf, dass der Rothaarige Ihnen nicht durch die Finger schlüpft. Ich will ihn haben und dem Fuchs persönlich das Fell abziehen!“, wies Sonnemann den jungen Mann an.

Der hob seine Hand an die Mütze und verzog sich wortlos, während Sonnemann sich an Peter und Richard wandte. „Willst es dir also nicht entgehen lassen, was, Peter? Keine Bange, wir vermasseln es nicht. Ich habe so viele Leute aufgetrieben wie nur irgend möglich, die Villa ist umstellt!“

„Ich dachte, der Kaiser ist immer noch zur Kur – und wenn du Richard schon wieder mitspielen lässt ...“, feixte Peter, auch wenn er sich die Antwort schon denken konnte, die auch prompt kam. Er kannte Sonnemann einfach zu gut.

„Nationale Sicherheit geht vor! Ich habe aus der Infanteriekaserne einen Trupp zur Sicherung des Kaisers abordnen können und ein paar Leute aus einer Spezialeinheit für diesen Einsatz hier bekommen. Ich mag das Militär zwar normalerweise nicht meine Arbeit machen lassen, aber egal, wenn Not am Mann ist … den Kaiser bewachen, das können die auch gerade noch so machen.“ Sonnemann zuckte die Achseln. „Kommt mit, wollen doch mal sehen, was passiert. Kennst du eine Stelle, von der aus man besser sieht, was passiert?“

Peter winkte seinen Begleitern, ihm zu folgen, und führte sie zu der Mauer, von der aus er mit Paul den Aufräumtrupp observiert hatte. Gemeinsam hingen sie im Efeu über der Mauerkrone und beobachteten die Ankunft der Kutsche und ihren Empfang. Hasselbach kam hinter der Kutsche in den Hof gerannt und gesellte sich keuchend zu den bereits wartenden Männern.

Mehrere Sturmlaternen erhellten den dunklen Hof vor der Villa, und die Lauscher auf der Mauer konnten die Gesichter der Anwesenden gut erkennen. Ein zynisches Grinsen huschte über Peters Gesicht, als er von Reiffenberg und von Wallenfels erkannte. Die Beweisstücke, die Paul und er von der letzten Orgie hatten mitgehen lassen, trug er bei sich, damit keiner der Herren sagen konnte, er wäre zum ersten Mal dabei und nur durch die Drogen so gefügig mitgegangen. Ein Seitenblick auf den Hasenstall beruhigte ihn. Nach ihnen war niemand an den Kisten gewesen und hatte die Gläser gefunden. Warum hätte auch jemand leere Hasenställe kontrollieren sollen, das Versteck war perfekt. Innerlich dankte Peter Paul für diesen Einfall und vor allem für die Geistesgegenwart, die er trotz des Schocks über die Zustände im Haus bewahrt hatte.

Aus der Kutsche kamen sieben Frauen, die leer vor sich hin starrten. Eine Rothaarige trug das grüne Kleid, das Peter zuvor an Katharina gesehen hatte. An ihrem drallen Körper wirkte es, als wolle es aus allen Nähten platzen, während es an Katharina haltlos herumgehangen hatte wie ein Sack. Aber lange würde sie es ohnehin nicht tragen müssen. Sie wurde auch sofort von Heinrich von Wallenfels beiseite genommen, der sie mit einem lüsternen, besitzergreifenden Blick für sich beanspruchte.

„Hat der einen Geschmack! Das Gesicht der Rothaarigen ist zum Weglaufen“, kommentierte Kogler.

„Dafür hat sie einen Körper wie ein Sofakissen. Zum Reinkuscheln“, gab Sonnemann zurück. „Gesichter zählen nicht. Man will sich nicht an die Damen erinnern, nur Triebe abarbeiten.“

Peter lauschte der Diskussion nur mit halbem Ohr, er konzentrierte sich ganz auf das Geschehen im Hof. Die Kutsche verschwand, und die Frauen wurden ins Haus gezogen. Brav und willenlos wie Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank tappten sie über die Türschwelle, und die Tür schloss sich.

Die Beobachter warteten eine Weile, bis sie die Räder der Kutsche nicht mehr auf dem Kies der Straße hörten und auch niemand mehr aus dem Haus herauskam. Sonnemann richtete sich auf und gab mit seiner Blendlaterne ein Signal. Rund um das Anwesen machte Peter fünf Antworten aus. Aus der Ferne war zudem eine Polizeipfeife zu vernehmen. Erst nur ein Pfiff, dann eine kurze Tonfolge.

„Die Kutsche wurde aufgehalten. Hoffentlich ist ihnen der Fuchs nicht durch die Lappen gegangen. Wenn doch, rollen Köpfe!“, knurrte Sonnemann und winkte Kogler und Peter, ihm zu folgen.

Sie ließen sich am Efeu in den Hof gleiten und schlichen im Schatten der Gebäude weiter zum Haus. Die Fenster waren wie zuvor mit den schweren Portieren verdeckt, so dass nicht einmal ein kleiner Lichtstrahl aus dem Haus dringen konnte. Immer mehr Polizisten versammelten sich ringsum, dicht an dicht. Keine Maus konnte unbemerkt entweichen. Peter schob sich mit dem Rücken an der Wand bis zu einem der Fenster vor, von dem er vermutete, dass es zum Salon gehörte. Ein Flügel des Fensters stand halb auf, offensichtlich vorbeugend für den Fall, dass die Luft im Raum doch zu dick wurde. Vorsichtig drückte er es weiter auf, und tatsächlich kamen ihm der Dunst von Opiumpfeifen und Schwaden billigsten Parfüms entgegen. Noch schien die Stimmung heiter, er konnte sogar eines der Mädchen kichern hören. Peter sah zu Sonnemann, der sich ruhig hinter ihm positioniert hatte und lauschte. Er ging davon aus, dass der Hauptkommissar darauf wartete, dass die Stimmung im Haus umschlug, um im rechten Augenblick die größtmögliche Wirkung seines Auftrittes zu zelebrieren. Dann würde er auch die besten Ergebnisse für seine Anklage bekommen, auch wenn Peter davon ausging, dass zumindest im Falle Wallenfels’ und von Reiffenbergs alles getan werden würde, um die Sache zu vertuschen. Die anderen drei würden das gesellschaftliche Notopfer werden. Aber der Boden unter Wallenfels’ und Reiffenbergs Füßen sollte doch so heiß wie nur irgendwie möglich werden.

Auf den Umschwung der Stimmung brauchten sie nicht lange zu warten, denn das Opium enthemmte die Gemüter der Männer. Als eines der Mädchen aufschrie, wagte Peter es, den Fensterflügel etwas weiter zu öffnen und den Vorhang etwas zu verschieben. Sonnemann spähte über seine Schulter.

Peter war sicher, in dem Mann, der über eine Frau in Rot herfiel, von Reiffenberg zu erkennen. Er hatte ein Messer in der Hand. Der ältere Mann mit dem Backenbart, der Peter nun als Wagner bekannt war, drückte der Frau brutal den Hals auf den Boden, so dass ihr Schrei erstarb und sie röchelnd um Luft rang. Mit den Knien hielt er durch sein Körpergewicht ihre Hände ruhig. Die anderen Frauen waren wie erstarrt. Von Reiffenberg schnitt der Frau das Kleid vom Körper und ritzte ihr mit der scharfen Spitze des Messers Linien in die Haut. Trotz des Mangels an Luft fing sie an, sich wie verrückt zu wehren, während er sein Glied in ihren Unterleib rammte.

Peter sah sich zu Sonnemann um, dessen finsterer Blick seine Gedanken nur unzulänglich verbarg. Er schob Peter beiseite, entsicherte seine Handfeuerwaffe und riss den Vorhang auf.

„Polizei! Von Reiffenberg, Messer weg“, brüllte er in den Raum, während seine Leute die Türen aufbrachen und das Haus stürmten.

Der Arzt hatte das Mädchen losgelassen und war ebenso erstarrt wie von Reiffenberg. Die Frau kam wieder zu Atem und zog ruckartig ihr Knie hoch, um es dem Sohn des Polizeipräsidenten unsanft in den Unterleib zu rammen. Von Reiffenberg klappte erstickt keuchend zusammen.

Bis auf den stöhnenden Reiffenberg und das heulende Mädchen waren alle stumm und unbeweglich wie Wachsfiguren, als die Polizisten das Zimmer stürmten und ihre Waffen auf die Anwesenden richteten. Sonnemann ließ seine Waffe sinken und eilte zur Tür. Peter folgte ihm mit einem breiten Grinsen. Das Leiden Reiffenbergs gab ihm ein befriedigendes Gefühl der Genugtuung. Sicher würde er eine Weile lang kein Interesse mehr an einer Frau zeigen können. Sofern ihm überhaupt vergönnt war, in der nächsten Zeit anderen Frauen als Gefängniswärterinnen zu begegnen.

„Was für eine Scheiße!“, fluchte Sonnemann, als er den Salon betrat. „Ihr scheinheiligen Penner. Was unterscheidet euch eigentlich von dem Abschaum, der euch zu diesen netten Mädchen verholfen hat?“

Auf einen Wink des Hauptkommissars hin zerrte ein Polizist Reiffenberg vom Boden hoch und hielt ihn aufrecht, so dass er Sonnemann mit heruntergelassener, spermabefleckter Hose und schmerzverzerrten Zügen ins Gesicht sehen musste. Peter biss sich auf die Lippen, um sich Gelächter zu verkneifen, das dem Ernst der Sache nicht würdig gewesen wäre. Stattdessen betrachtete er die Frauen aufmerksam und eilte zu dem vergewaltigten Mädchen, das sich unbeachtet von den Akteuren des Dramas in eine Ecke verzogen hatte. Dabei hob er einen achtlos in die Ecke geworfenen Herrenmantel auf und legte ihn der nunmehr nackten Frau um die Schultern. Während er ein Glas mit Wasser füllte und es der Frau zu trinken gab, beobachtete er weiter die unwirkliche Szenerie, die nun Heinrich von Wallenfels bestimmte.

Dieser hatte sich wieder gefangen und erhoben. Er bemühte sich, trotz des Opiums, das seine Sinne benebelte, aufrecht zu gehen und seiner Stimme einen schneidenden Ton zu geben. „Was soll das, meine Herren? Was fällt Ihnen ein, eine private Feier zu stören und uns so zu behandeln? Das ist Hausfriedensbruch, das Anwesen gehört meiner Familie. Mein Vater wird Sie in den Orkus stampfen!“

Sonnemann drehte sich ungerührt zu ihm um und baute sich vor Wallenfels auf, der fast einen Kopf kleiner war als der Hauptkommissar. „Nun, Herr von Wallenfels, dann lassen Sie sich gesagt sein, dass sowohl der Besitz als auch der Verzehr von Opium eine Straftat ist, vom Kauf der Droge und demjenigen, der sie verkauft, wollen wir hier mal gar nicht reden. Wenn ich mir die Menge betrachte, die bereitliegt, dann sind das Drogen im Wert von ... na, sagen wir, einer mittleren vierstelligen Summe? Goldmark, wohlgemerkt. Das ist auf jeden Fall mehr, als man in einem Krankenhaus für medizinische Zwecke bereithalten darf, das wird Ihnen Herr Doktor Wagner sicher gerne bestätigen – und wissen Sie, was auf diese Straftat steht? Gefängnis von bis zu zehn Jahren! Das kann Ihnen bestimmt Herr Hasselbach genauer erklären, mit allen Paragrafen, da er meines Wissens Jura studiert hat, wenn auch ohne besonderen Abschluss. Dazu kommen diese sieben Damen, die einem nicht genehmigten Gewerbe nachgehen, wenn auch nicht aus freien Stücken, sondern weil ihr Zuhälter – den wir soeben festgenommen haben – sie dazu gezwungen hat. Hurerei, Zuhälterei und Menschenhandel – noch einmal für Sie als Nutzer dieser ... Dienstleistung ... fünf Jahre Knast, und Herr von Reiffenberg hat die eine Dame soeben gegen ihren Willen brutal vergewaltigt und mit einem Messer verletzt. Körperverletzung, Notzucht ... für Herrn von Reiffenberg also mit den anderen Delikten zusammen lebenslänglich.“

Die Männer wurden bleich, während die Frauen von ihnen Abstand nahmen und sich sogar freiwillig in die Hände der Polizeibeamten begaben. Wallenfels kämpfte um seine Fassung und das letzte bisschen klaren Verstand, das nicht von Opium benebelt war. „Aber das wussten wir doch alles gar nicht! Der Herr, der uns all das organisiert hat, versicherte uns, alles sei ganz legal. Wir wollten einfach nur ein bisschen feiern und Spaß haben. Was Herr von Reiffenberg gemacht hat, ist doch nur seinem Unwissen zuzuschreiben, was diese Mittel mit ihm machen. Beim ersten Gebrauch solcher Genussmittel ist man sich doch nicht über die Wirkung bewusst. Ich bin sicher, das wird sich alles regeln lassen, wenn wir wieder nüchtern sind.“

„Sie behaupten also, das hier zum ersten Mal zu machen?“, fügte Sonnemann seelenruhig an. In seinen Augen glomm ein seltsames Feuer, das Peter ohne Probleme als Ende einer Zündschnur definieren konnte. Sonnemann stand kurz vor der Explosion.

„Aber natürlich, was denken Sie denn?“, brach es aus Wallenfels heraus, und seine Spießgesellen beeilten sich zu nicken.

Sonnemann drehte sich zu Peter um, in dessen Augen das gleiche Feuer aufgeflammt war. „Da haben wir andere Informationen. Ich habe bei den Anwohnern der Straße unten in Eltville Erkundigungen einholen lassen, und mir wurde bestätigt, dass diese spezielle Kutsche mit den Damen bereits fünf Mal hier hochgefahren ist, und Sie können mir doch nicht erzählen, dass Sie dieses Haus für solche Festlichkeiten an Fremde vermieten! Die Herren wurden auch schon ebenso viele Male in Eltville gesehen, besonders Herr Hasselbach, der immer erst in der ‚Reblaus‘ einkehrt, bevor er sich auf den Weg hier hoch macht, und ... ach, Peter, mach du den Rest!“

Sonnemanns Stimme war mit jedem Wort lauter geworden und überschlug sich am Ende fast. Peter klopfte der Frau aufmunternd auf die Schulter und trat zu Sonnemann. Dabei griff er in seine Tasche und zog ein Päckchen heraus. „Ich hatte den Auftrag, nach einer jungen Frau zu fahnden, die in gefährliche Kreise abgerutscht war. Ihre Spur führte hierher, und ich hatte das Glück, vor dem Aufräumtrupp hier zu sein, der nach diesen ... Feiern die Spuren beseitigt. Dabei fand ich diese Dinge!“

Er hielt den Siegelring demonstrativ vor Reiffenbergs Nase, der wie in Trance die Hand hob und versuchte, ihn Peter zu entreißen. „Der Siegelring des Herrn von Reiffenberg, den er seitdem zum Leidwesen seines Vaters schmerzlich vermisst, sowie ein Taschentuch mit den Initialen AK. Identisch mit dem Tuch, das Herr von Kalkhofen gerade benutzt, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.“

Der zuckte zusammen und sah auf das Taschentuch, das er gerade aus der Hosentasche gezogen hatte, um sich damit über den bis zur Mitte bereits kahlen Kopf zu wischen. Dann fiel sein Blick auf das Tuch in Peters Hand.

„Somit ist wohl erwiesen, dass die Herren schon beim letzten Mal mit Ihnen zusammen gefeiert haben, Herr von Wallenfels. Oder reicht Ihnen das nicht?“ Peter griff mit einem Taschentuch in der Hand nach einem der großen Weinkelche auf dem Tisch, an dem Wallenfels gesessen hatte, auf dem sich deutlich Fingerabdrücke abzeichneten. „Friedrich, wenn einer deiner Männer so freundlich wäre, die Weinkiste aus dem Hasenstall an der Mauer hinten zu holen ... ich habe dort ein paar Weingläser mit ähnlich wundervollen Fingerabdrücken von der letzten Orgie gesichert. Wussten Sie, Herr von Wallenfels, dass jeder Mensch einen individuellen Fingerabdruck hat und dass man ernsthaft darüber nachdenkt, Fingerabdrücke in jedem Fall als Beweismittel anzuerkennen – nicht nur in Fällen, in denen es schon andere stichhaltige Beweise gibt, die nur noch bestätigt werden müssen?“

Er stellte das Glas wieder ab und sah dem Beamten hinterher, den Sonnemann losschickte. „Aber damit nicht genug. Von den sieben Mädchen, die damals dabei waren, sind nur vier zurückgekehrt. Drei haben hier ihr Leben gelassen.“

Peter entrollte den Stofffetzen mit der in Blut geschriebenen Botschaft. Wallenfels wurde grau im Gesicht, da er ohnehin schon durch das Opium blass gewesen war, und fing an zu stottern: „D... d... das ist d... d... doch kein B... Beweis!“

„Doch!“, schrie ihn Sonnemann an. „Davon ausgehend, dass die Kerle, die damals mit den Mädchen hierher kamen, ein fauler Haufen waren und sich in der Zwischenzeit betranken, haben wir in nicht allzu weiter Umgebung gesucht, wohin man die toten Mädchen gebracht haben könnte. Sie wurden in eine Zisterne im Weinberg hinter der Villa geworfen. Wir haben die halb verwesten Leichen geborgen. Die Frau, die das geschrieben hat, überlebte und konnte uns sehr detaillierte Beschreibungen der Personen geben, die wir nicht anhand solch schlagender Beweise wie dem Ring identifizieren konnten. Wir haben Sie alle daraufhin beschattet. Sie kommen da nicht mehr raus. Sie sind verhaftet.“