Auf los gehts los

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Die Fragmente möglicherweise hilfreicher Informationen, die ihm die Pinkertons überlassen hatten, waren kaum aufschlussreicher als der Bericht des Barons. Peter ging die Listen erneut durch. Stückwerk, dem wichtige Bindeglieder fehlten. Daran änderte auch die neuerliche Prüfung nichts.

Die Saboteure waren Menschen gewesen, die bis dahin völlig unbescholten gelebt hatten. Die Namen waren belanglos. Es gab zu viele Personen gleichen Namens, flüchtig wie der Dampf aus den Tausenden Kesseln der Stadt. Menschen, die durch das Raster der Erfassung der letzten Volkszählung gefallen waren. Dieses Raster war kaum mehr als ein grober Rost, der die Hälfte der Einwohner des Groß-Stadtkreises erfasst hatte, als die kaiserlichen Behörden die Zählung befahlen. Die Beamten, die man zur Zählung in die Vorstädte und Armensiedlungen geschickt hatte, waren unverrichteter Dinge zurückgekehrt. Zum Teil hatte man sie bedroht, manche waren gar nicht zurückgekommen. Namen hatten sie nicht erfassen können, nur eine ungefähre Zahl, wie viele Menschen es in den verschiedenen Stadtteilen gab.

Wie man zu diesen Zahlen gekommen war, wusste Peter und gab dementsprechend nicht viel auf deren Richtigkeit. Es waren Schätzungen. Die Beamten hatten sich mit Polizeigewalt Zutritt zu einigen als repräsentativ eingestuften Häuserblocks am Rande der Armenviertel verschafft. Was sie dort an Menschen vorfanden, wurde gezählt und auf den gesamten Stadtteil hochgerechnet. Die Blocks, zu denen man mit Brutalität Zugang erlangt hatte, waren aber kein Vergleich zu denen, die sich im Inneren der schlimmsten Stadtteile befanden. Diese Häuser am Rand waren noch im Besitz von Leuten von außerhalb, die für diese Rattenlöcher Miete kassierten. Wer sich nicht einmal diese Pfennigbeträge leisten konnte, wurde aus den Häusern geprügelt und zog weiter Richtung Fluss. Bis er irgendwann einmal in einem Haus landete, für das er keine Miete mehr entrichten musste, weil es diese Bezeichnung nicht mehr verdiente. Peter ging davon aus, dass die Zahl des ermittelten Durchschnitts mindestens verdoppelt werden musste, um der tatsächlichen Bewohnerzahl eines dieser Wohnblocks nahe zu kommen. Vor allem außerhalb der bewachten Rhein- und Mainhäfen am Fluss.

Oft bewohnten in den wuchernden Arbeitervierteln vielköpfige Familien einen einzigen Raum, der beheizbar war – sofern sie Brennmaterial bekamen. Viele Zimmer verfügten nicht einmal über einen Rauchabzug und hatten oft keine Fenster, da sie zur Brandmauer im Inneren eines Hauses lagen. In diese Zimmer baute man abenteuerliche Konstruktionen ein, die einen Herd oder Heizofen darstellen sollten. Dazu wurden die Etagenböden durchstoßen, um mit nicht weniger bedenklichen Konstruktionen aus Ziegeln, Schindeln oder Holz so etwas wie einen Rauchabzug zu schaffen. Nicht selten fiel deshalb ein ganzer Häuserblock in Schutt und Asche, so dass nur die Brandmauern übrig blieben. Denn wenn im Kern eines solchen Blocks ein Feuer ausbrach, konnten nicht einmal diese doppelt gemauerten Wände ihren Zweck erfüllen.

Peter wusste auch, dass die Leute in Ermangelung anderen Baumaterials oft auf eben diese Ziegelsteine zurückgreifen mussten, die eigentlich ihr Leben retten sollten. Brandmauern waren daher häufig nur noch in Fragmenten vorhanden, die dann als erste nachgaben, wenn sich eine Katastrophe anbahnte. Mit ihrer gewaltigen Höhe begruben sie alles andere unter sich. Es gab dort keine Bauinspektoren, die prüften, ob die Bauvorschriften eingehalten wurden. Niemand wagte sich in diese Viertel. Die Ingenieure hätten auch nichts bewirken können, denn selbst wenn die Menschen sich der Gefahr bewusst gewesen wären, sie hätten dennoch so gehandelt. Sie hatten keine andere Chance.

Klosetts gab es im Hof über offenen Jauchegruben. Diese liefen bei Unwettern über und verteilten ihre stinkenden, krankheitsbefrachteten Lasten im ganzen Stadtteil. Trinkwasserleitungen waren ein Luxus, der einem Zehntel der dort hausenden Menschenwesen zur Verfügung stand. So nahm es niemanden wunder, dass hin und wieder ganze Straßenzüge von der Cholera, dem Typhus oder anderen Krankheiten leergefegt wurden. Das war aber noch kein Grund für die Behörden einzugreifen, denn das Problem regelte sich meist von selbst.

Irgendwann lebte dort nichts mehr außer fetten Ratten, die Nutznießer solcher Katastrophen, die sich an den Leichen vergingen, die nicht von irgendwelchen Leichenfledderern auf die Straße geworfen und dann vom Flusswasser mitgerissen worden waren. Dann kamen neue Bewohner, denn der Zustrom der arbeitsuchenden Habenichtse war ungebremst. Sie suchten billige Bleiben, bauten mit bescheidenen Mitteln alles wieder auf und hausten auf dem Abstellgleis, bis wieder Krankheiten ausbrachen.

Das waren die Bereiche, in die er vordringen musste, um Katharina zu finden. Das Revier des Fuchses und möglicherweise auch der Sekte, denn eins fiel Peter an der Liste sofort ins Auge: die Tatsache, dass die meisten der gefassten Saboteure als Wohnort Biebrich und Kostheim angaben. Letzteres kam Peter sehr gelegen, da er dort auch eine Spur des Mädchens zu finden hoffte. Sofort zog er eine Kopie der offiziellen Karte des Stadtkreises West hervor und markierte die wichtigsten Punkte. Die meisten Kostheimer Saboteure wohnten angeblich in der Nähe des stillgelegten Floßhafens. Gegenüber der sogenannten „Festung Maaraue“, des vollständig befestigten und ausgebauten Hafen- und Industriebereichs, um den man zeitgleich mit der Verelendung der Stadtteile am Rhein eine immer höhere Mauer- und Zaunanlage gezogen hatte. Sogar eine kleine, ständig besetzte Infanteriekaserne stand auf dem Auengelände, um zu verhindern, dass die Arbeiter aus den stillgelegten Industrieanlagen auf dumme Ideen kamen. Die Hafenarbeiter wohnten in nicht weniger gut befestigten Anlagen an der Nordspitze der Aue. Ein autarkes Städtchen am Rande der Metropole. Dazugehörig und doch unerreichbar für alle, die in unmittelbarer Nähe lebten.

Die Schwarze Brücke war nur einen Steinwurf vom einzigen Landübergang auf die Maaraue entfernt, und Peter beschloss, sich in der kommenden Nacht dort umzutun. Er kannte die Gaststätte und hatte sie immer als besonders ergiebig empfunden, wenn es einem Eindringling wie ihm gelang, sich dort unauffällig zu bewegen. Das beherrschte er inzwischen, und er wusste auch, wen man wie zum Reden bringen konnte. Die wichtigste Eigenschaft, die man für derartige Ausflüge brauchte, war Geduld. Niemand reagierte auf direkte Fragen. Im Gegenteil. Zu große Neugier war gefährlich. Wenn man hingegen mit der Menge verschmolz, Teil von ihr wurde und Augen und Ohren offen hielt, erfuhr man alles, was man wissen musste.

Wirklich interessant in der Akte der Detektive war das Flugblatt der Sekte, mit dem gegen das Luftschiff Stimmung gemacht wurde. Der Mappe hatten zwei zerknitterte Exemplare beigelegen, die offensichtlich schon durch viele Hände gegangen waren. Das Blatt trug weder eine Signatur des Verfassers noch einen Hinweis, wer es wo gedruckt hatte.

Peter grinste, als er sich vorstellte, wie die Pinkerton-Männer mit diesen Flugblättern von einer Druckerei zur nächsten geeilt waren, um herauszufinden, wer der Urheber des Schmierblattes sein konnte. Auch hier war Peter im Vorteil, denn er wusste, dass keine reguläre Druckerei Pamphlete dieser Art durch ihre Maschinen laufen ließ, und kannte sich gut mit den Herstellern aus, die nicht in der Reichweite Pinkertons waren.

Die Druckerpressen, die man in den Arbeitervierteln verwendete, um derartige Dinge herzustellen, waren Geräte, die sich jemand vom Schrott geholt hatte, bevor sie in die Schmelzöfen gewandert waren. Die stählernen Ungeheuer waren leicht zu reparieren, wenn man die entsprechenden Schrottler gut kannte und Ersatzteile bekam. Die wieder aufgemöbelten Dampfpressen boten dann irgendeinem armen Teufel in seiner Hinterhofwerkstatt ein Auskommen.

Peter zog einen Packen alter Drucksachen aus einem Aktendeckel und verglich die Flug- und Zeitschriften mit dem Wisch der Sekte, bis er ein Blatt fand, dessen schlechte Typen weitgehend übereinstimmten. Auf allen Blättern seiner alten Sammlung war vermerkt, wo die Druckerpresse zu finden gewesen war, und es überraschte ihn nicht, dass die Presse mit den schadhaften Typen in Kostheim stand.

„Im Pfarrhaus von Sankt Killian zu Kostheim. Das ist ja verrückt … aber sagte Sonnemann nicht, dass ein verwirrter Pfaffe der erste Sektenführer war? Mit wechselnden Helfershelfern? Das passt doch.“ Natürlich mochte die Druckmaschine nicht mehr an dem Ort stehen, an dem er sie gesehen hatte. Allerdings war es schwierig, ein derart monströses Stahlungeheuer mitsamt seiner Dampfkessel von einem Ort zum anderen zu bringen. Trotzdem geschah es häufig. Die Drucker waren sich der Gefahr, solche Blätter zu vervielfältigen, bewusst, denn sie gehörten zu den wenigen Armen, die des Lesens mächtig waren und Razzien befürchten mussten. „Die Kirche ist nahe der Brücke nach Gustavsburg. Dann ist klar, wo ich mit meinen Nachforschungen anfange.“

Als das trübe Tageslicht wich und man in der Wohnung ohne Lampen nichts mehr erkennen konnte, zog sich Peter für den Ausflug um. Seine ältesten Klamotten lagen in einer Truhe in der Abstellkammer und waren ziemlich zerfressen und zerschlissen, da er in der Truhe keinerlei Schutz vor Motten oder anderem Ungeziefer vornahm. Dadurch wurde diese Kleidung nach und nach zu seiner Lebensversicherung bei seinen Ermittlungen in den Gossen des Stadtkreises. Es schüttelte ihn, wie immer, wenn er die stinkende Kleidung überstreifte, die auch verhindern würde, dass er ein Transportmittel bis zur imaginären Grenze der Bahnlinie zwischen Ober- und Unterstadt bei der Sektkellerei finden würde. Vielleicht konnte er am Nassauer Ring die Pferdebahn nehmen, die Kutscher waren Leute in diesem Aufzug gewohnt, die niedere Arbeiten für die Reichen in den Innenstadtvierteln übernahmen. Schließlich schippte kein Innenstadtbewohner gerne selbst seine Kohlen für die Dampfzentralheizung in den Kellern oder fegte die Straßen vor seinem Haus. Peter nannte zu diesem Zwecke einen auf einen falschen Namen ausgestellten Straßenkehrerausweis sein Eigen. Ein Entgegenkommen Sonnemanns, der ihm auch falsche Papiere auf diesen Namen beschafft hatte. Asservate aus den unergründlichen Tiefen des Polizeiarchivs, an die niemand mehr dachte und deren Fehlen daher auch nicht bemerkt wurde. Zu diesen Asservaten gehörten auch andere Dinge, die sein Überleben garantieren würden, darunter selbst gebastelte Schutzbrillen und Masken gegen den Pesthauch der Flüsse, die man Strafgefangenen abgenommen hatte. Meisterwerke der Kunst, noch aus Müll etwas Praktisches herzustellen. Bruchstücke von Fensterglas, sorgfältig abgeschliffen und in Leder eingenäht, boten den Augen guten Schutz vor ätzenden Dünsten. Sie standen seiner Schutzbrille, mit der er in Kostheim auffallen würde wie ein bunter Hund, kaum nach.

Noch einmal kehrte er zur Korktafel zurück, um einen Blick auf den Stadtplan zu werfen. Er wollte sich die Örtlichkeiten einprägen. Das war zwar letztlich vergebliche Liebesmühe, aber wenigstens wollte er einen groben Überblick bekommen. In diesen Stadtteilen baute man ohne Genehmigung und Planung, wo gerade für weitere ärmliche Behausungen Platz war. Der Straßenverlauf änderte sich dort nahezu täglich, und kein Landvermesser hatte sich dorthin getraut, seit dieser Stadtplan vor dem Krieg entstanden war. Eine Fortschreibung fand nur in den besseren Vierteln statt.

Über dem Plan hing die Karte mit dem Namen Pazuzu. Auch über dieses Projekt hatte er keine Informationen im Bericht der Detektei gefunden, außer einer kurzen, stichpunktartigen Aufzählung all jener Verbesserungen, die bereits patentiert waren. Unter anderem ein neues Material, das die Chemiker aus dem Wallenfels-Werk Höchst II entwickelt hatten und das Hauptbestandteil der Luftschiffhülle werden sollte. Dazu ein weiteres neues Material aus Kohle, das in seiner Stabilität Stahl gleichkam und Teile der Innenkonstruktion ersetzen würde, zusammen mit Aluminium, dessen Herstellung ebenfalls mit einem neuen Verfahren beschleunigt werden konnte. Das alles sagte Peter nichts und gab ihm keine Begründung für die Sabotageakte. Was mit chemischen Prozessen zu tun hatte, war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Letztlich würde es nur weitere Giftfracht für die Flüsse bedeuten. Aber bislang war noch kein Anwohner der stinkenden Vorfluter zum Revolutionär geworden. Selbst als man herausgefunden hatte, dass Textilfarben wie das wundervolle Fuchsin das Wasser nicht nur färbten, sondern auch mit Arsen vergifteten, war alles ruhig geblieben. Niemand hatte protestiert. Wohl auch, weil die Fabriken alle in Lohn und Brot hielten.

„Ich soll nur die Drecksarbeit erledigen, alles andere schreiben sich dann die Pinkerton-Leute auf die Fahnen“, knurrte Peter.

Als die Türglocke schrillte, zuckte er zusammen. In diesem Aufzug wollte er niemandem begegnen und versuchte daher, mit einem Blick aus dem Fenster zu erkennen, wer um diese Zeit noch zu ihm wollte. Vor der Tür stand ein Mann in einem Wollmantel, dessen Kragen hochgeschlagen war. Den Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, um sich vor dem unangenehmen Wind zu schützen. Mit fahrigen Bewegungen der Hände, die in Lederhandschuhen steckten, vergrub der Mann sich noch mehr in seiner Kleidung, so dass man kaum mehr als eine Silhouette erfassen konnte. Peter erkannte ihn dennoch. Etwas an den Bewegungen war ihm vertraut.

„Paul?“, rief er überrascht, eilte zur Haustür, die um diese Zeit verschlossen war, und entzündete das Gaslicht im Flur. „Paul!“

„Wie siehst du denn aus?“, war das Erste, was sein Bruder überrascht sagte, als er von seinem Koffer aufblickte.

Peter lachte und gab seinem Bruder die Hand. In anderer Kleidung hätte er Paul umarmt, aber das wollte er den gepflegten Sachen seines Bruders nicht antun. „Ich muss noch was erledigen, in unangenehmer Umgebung, und hatte mich gerade darauf vorbereitet. Komm rein, ich bin froh, dass du kommen konntest …“

Pauls verwirrter Blick ließ ihn verstummen, und er begriff, dass man diesem in Frankenfurt nichts von Peters Anruf erzählt hatte. „Oh Himmel, Paul, du weißt nichts von meinem Anruf!“

„Anruf? Ich komme direkt aus Nürnberg. Sie haben mich entlassen …“ Paul schossen Tränen in die Augen. Ungeachtet des erschreckenden Aufzugs seines Bruders ließ er sich von Peter in die Arme nehmen und heulte. „Darf ich eine Weile bleiben?“

Peter hielt Paul fest, und seine Gedanken rasten. Die Unfreundlichkeit der Sekretärin kam ihm in den Sinn, und er begriff. Die Dame hatte gewusst, dass er seinen Bruder nie mehr im Büro würde erreichen können, aber gesagt hatte sie nichts. „Natürlich kannst du bleiben, willkommen zu Hause!“

Sie lösten sich wieder voneinander, und Peter zog Paul in die Wohnung. Erst im besseren Licht in der Küche konnte er erkennen, wie schlecht es Paul tatsächlich ging. Er war leichenblass, und Ringe unter den Augen zeugten davon, dass er in der letzten Zeit kaum ausreichend Schlaf gefunden hatte. „Meine Güte, was ist denn passiert?“

„Eine lange Geschichte … du wolltest weg, da fange ich besser nicht an, du kämest sonst nicht aus dem Haus. Außerdem bin ich müde. Wenn du nichts dagegen hast, lege ich mich aufs Sofa und schlafe erst mal drüber“, seufzte Paul und sah sich in der Küche um. „Wieder daheim …“

„In Ordnung. Du kannst dich auch ins Bett legen, ich werde nicht vor Morgengrauen zurück sein, und es ist immer noch das Doppelbett unserer Eltern. Decken und Kissen findest du im Schlafzimmerschrank.“ Peter sah besorgt in das gramgebeugte Gesicht Pauls. Er schien gealtert zu sein, mit einer Schätzung hätte jeder normale Mensch mindestens zehn Jahre danebengelegen.

„Danke. Tausend Dank!“

„Oh, ich bin ganz froh, dass du da bist“, zwinkerte ihm Peter zu, bevor er sich wieder durch die Tür drückte. „Aber von diesem Drama erzähle ich dir auch erst, wenn du ausgeschlafen hast.“

***

Kaum hatte Peter die Pferdebahn in der Kasteler Straße erwischt, verdrängte er den Gedanken an Paul und dessen erschreckenden Zustand vorläufig. Er musste sich auf eine Aufgabe konzentrieren, die all seine Aufmerksamkeit erforderte. Ab diesem Punkt konnte er es sich nicht mehr leisten, aus der Rolle zu fallen. Vor allem, wenn er die Schwarze Brücke erreicht hatte.

Die Pferde waren müde von ihrem langen Tagwerk, und so kamen sie nicht schnell voran. Sie liefen den ganzen Tag vor dem Wagen her. Früher – sehr viel früher – waren die Pferdebahnen in städtischer Hand gewesen, und man hatte die Tiere gut gepflegt. Doch mit den ersten Dampfwagen hatte sich die Situation für Mensch und Tier rapide verschlechtert, wie so vieles andere auch, das nicht mit dem Fortschritt ging. Die Dampf-Straßenbahnen verdrängten die Pferdetrams vollständig aus den Villengebieten und den bürgerlichen Innenstädten, in letzter Zeit hatten viele davon sogar einen der sauberen und geruchslosen Ätherantriebe erhalten. Um in den Vorstädten so etwas wie einen regelmäßigen Straßenbahnbetrieb aufrechterhalten und sich damit auch Geld verdienen zu können, hatten sich die Straßenbahnkutscher zusammengeschlossen und die Pferde und alte Wagen als letzten Lohn mitgenommen. Nun betrieben sie mit diesen auf den alten Gleisen eigene Linien. Da sie aber kaum Geld für die Fahrten verlangen konnten, ging alles vor die Hunde, und die Pferde starben weg. Niemand war in der Lage, Tiere nachzuzüchten, und so würde es wohl bald keinen Straßenbahnbetrieb mehr geben. Aber wo es keine Arbeit gab, wurde auch kein Verkehrsmittel gebraucht.

Peter wühlte in den Taschen des abgenutzten Mantels und seufzte erleichtert, als er die alte Pfeife fand. Nur der Tabak, den er sich gönnte, war von deutlich besserer Qualität, als man sie bei seinem Aufzug erwartet hätte. Verstohlen sah er auf seine alte Taschenuhr, als sie sich Kastel näherten. Fast Mitternacht, für seine Pläne die beste Zeit.

Je näher sie dem Rhein kamen, desto schlechter wurden die Straßen. Peter rechnete jeden Augenblick damit, dass die Tram aus den Gleisen sprang. Abgesehen davon nahm der Gestank des völlig verdreckten Flusses immer mehr zu. Seine Augen begannen zu tränen, und er zog schnell die Schutzbrille nach unten. Sie bedeckte auch seine Nase, so dass er nichts mehr roch.

Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, schon an der Rheinbrücke auszusteigen, weil er neugierig war, ob sich die Reduit erneut verändert hatte. Das Festungsbauwerk schien mit den Gezeiten seiner Bevölkerung mal zu schrumpfen, mal zu wachsen. Doch Peter verwarf den Gedanken und blieb sitzen. Er ging davon aus, dass seine Ermittlungen ihn schon noch in diesen Teil Kastels führen würden. Entgegen so mancher Gerüchte war er selbst davon überzeugt, dass der Fuchs sein Hauptquartier weiterhin dort hatte.

Die Pferdebahn zockelte weiter. Sie kam bis an die Grenze nach Kostheim, als sie endlich den erwarteten Sprung aus den Schienen machte. Der Kutscher brummte nur entnervt, seine Fahrgäste sollten den Rest gefälligst zu Fuß gehen, und schirrte seine Pferde ab, um sich am Straßenrand einfach in einer verrotteten Wartehütte zum Schlafen hinzulegen.

Peter lief durch eine enge, verdreckte Gasse zum Floßhafen. Der Schmutz und die Unordnung waren nicht allein dem Unwetter der vergangenen Tage geschuldet. Die Straßen waren so gut wie unbeleuchtet, die Straßenlaternen schon lange abmontiert und an Schrotthändler verkauft. Nur ein paar vereinzelte Gas-Wandlampen verhinderten, dass man sich auf den Straßen, die nur noch aus Schlaglöchern bestanden, den Hals brach. In einigen Kellern stand das Wasser bis zum Straßenniveau, aber offensichtlich versuchte niemand, sie leerzupumpen. Eine Feuerwehr gab es hier schon lange nicht mehr.

Peter sprang zurück, als ihm aus einem der Kellerfenster eine Ratte entgegenschwamm. Als ihm klar wurde, dass sie einen aufgequollenen menschlichen Finger im Maul trug, wurde ihm schlecht. Offenbar hatten sich nicht alle Kellerbewohner retten können, als die unteren Etagen vollgelaufen waren.

„Alles ganz normal“, dachte er. „Verdammt, wie oft hast du schon solche Opfer gesehen, als du noch bei der Polizei warst? Warum dreht sich dir immer noch der Magen um?“

Rasch lief er weiter. Dabei umrundete er Hütten, die in Hofeinfahrten und auf der Straße standen, weil dort ohnehin nur noch Fußgänger verkehrten, schlug sich durch verwinkelte Gassen, die es früher nicht gegeben hatte, weil sie aus eingestürzten Gebäuden entstanden waren, warf hin und wieder einen Blick hoch zu Galerien und Brücken zwischen Wohnhäusern, die mit abenteuerlichen Konstruktionen die Straßen überspannten – immer seinem ersten Ziel, dem vermuteten Standort der Druckerpresse, entgegen. Dem Pfarrhaus von Sankt Killian.

Dort brauchte er nicht lange, um herauszufinden, dass der Weg umsonst gewesen war. Das Pfarrhaus hatte den Sturm nicht überlebt, das Dach war in sich zusammengesackt. Die Werkstatt in der Remise bestand nur noch aus Mauerresten, dafür war aber ein Brand verantwortlich gewesen. Die verbrannten Dachbalken und Fensterrahmen zeugten von einer Feuersbrunst, die auch das Nachbargebäude erfasst hatte. Die Remise war leer, die Druckerpresse verschwunden.

Peter schnaufte. Es wäre auch zu einfach gewesen, gleich Erfolg zu haben. Die Presse war weg und warf damit noch ein paar Fragen mehr auf. Er erinnerte sich an ein riesengroßes Ungeheuer aus Stahl mit einem nicht weniger beeindruckenden Dampfkessel, der nicht nur aus seinem Schlot geraucht hatte, sondern auch aus allen Nähten. Diese Maschine abzubauen und zu transportieren dauerte Tage und bedurfte mehrerer Männer und schweren Geräts. Das war nicht nur sehr problematisch und auffällig, es war auch teuer. Schließlich benötigte man mehrere Fuhrwerke mit kräftigen Gäulen.

„Suchst was?“

Peter drehte sich langsam um und entdeckte einen abgerissenen Jungen hinter sich, der auf einem Stöckchen kaute. Das Gesicht des Halbwüchsigen war von dicken, eitrigen Pickeln übersät, und Haare hatte er auch keine mehr unter seiner Mütze. Man hatte sie ihm wegen eines Ausschlages abgeschoren.

„Siehst aus, als hättest heute noch nix anderes zwischen de Zähn gehabt als den Span“, gab Peter ungerührt zurück.

„Könnt mer ändern.“

„Ja. Ich wollt nen Plakat drugge lasse un hatte im Hinterkopf, dass hier ne Presse gestanne hat. Is die mit abgebrannt?“

„Neeee. Ham se vorher schon wechgeschafft, großer Umtrieb. Steht nu woanders, ich mein in Hochheim inner Firma am Maa“, gab der Junge Auskunft und machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung der nahen Mainmündung.

Peter nickte. „Kennst nen anderen Drugger?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Neeee. In Biebrich gibs aanen. Neverm Schloss oder am Paak. Kannst nich überhöre.“

„Geh ich ebbe da hi.“

Der Junge sah ihn fordernd an, und Peter schnickte ihm einen Groschen hin. Er fing die Münze geschickt auf und quittierte sie mit einem zahnlückigen Grinsen. Aber dieses Kind hatte ohnehin keine Zukunft, die über die Lebenserwartung seiner Zahnreste hinausging. Der Junge machte auf den Hacken kehrt und verschwand. Peter zuckte die Achseln und ging weiter Richtung Mainbrücke nach Gustavsburg.

Nach Hochheim also. Das war nicht gut. Dort zu fahnden glich der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen – wie überall, wo sich die Arbeiter und die Arbeitsuchenden drängten. Oder die, die jede Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben aufgegeben hatten. Hochheim hatte nichts zu bieten. Wer dort lebte, war gestrandet – keine Fabriken, die Arbeit boten, und nur ein paar wenige, noch aktive Weinbauern mit einem festen Stamm an Knechten, welche die immer weiter schrumpfenden Rebhänge bearbeiteten.

Die einzigen noch lukrativen Weinbaugebiete begannen im Rheingau, an dessen Grenze in Walluf die Zeit und der Ausbau des Großstadtkreises stehengeblieben zu sein schien. Inzwischen war es fast verbotenes Terrain. Jeden, der aus dem Großstadtkreis nach Westen ging, beäugte man in den Dörfern bis Rüdesheim misstrauisch. Soldaten des Kaisers sorgten für Ruhe, weil dort die begehrten Tröpfchen für das Kurhaus angebaut wurden. Man wollte im Rheingau nicht enden wie in Hochheim und sorgte dafür, dass sich niemand aus den Unterstadtvierteln dort ansiedelte. Wer dort Fuß fassen wollte, musste eine Ausbildung zu bieten haben, die irgendwie nützlich sein konnte. Eine geschlossene Gesellschaft, die es sich mittlerweile sogar leistete, Polizisten nur dafür zu beschäftigen, dass sie an den Straßen und Bahnhöfen kontrollierten, wer einreisen wollte.

Peter hatte geglaubt, schäbiger als das Viertel am Floßhafen ginge es kaum mehr. Je näher er der Brücke kam, desto mehr wurde er eines Besseren belehrt. Die Schwarze Brücke war ursprünglich ein Zollhaus gewesen, das einzige noch wirklich fest wirkende steinerne Gebäude inmitten eines Meeres aus verfallenen, grob gemauerten Ziegelhütten und Holzverschlägen. Dennoch hatte es nichts Tröstliches an sich, war kein Fels in der Brandung, sondern ein bedrohlich lauerndes Raubtier, bereit, jeden zu verschlingen, der es betrat.

Die Mauern hatten Ruß und Hochwasser im Laufe der Jahre schwarz verfärbt, für das Dach aus Bieberschwanzziegeln galt das Gleiche. Die schief in den Angeln hängenden Fensterläden verdeckten die blinden Scheiben nur notdürftig. Einzig durch die offene Tür fiel ein scharfer Lichtstrahl auf das schlammige Pflaster der Straße, doch es wirkte alles andere als einladend. Eher wie das Maul eines Drachen, dessen Feuer den Unvorsichtigen verbrannte.

„De Cassard, ich bewundere Ihren Mut“, murmelte Peter. Er kannte das Wirtshaus zwar, aber unter den gegebenen Umständen konnte er sich eines Schauderns nicht erwehren. Der Nebel, der aus dem Brackwasser des Mains aufstieg, setzte dem Eindruck eines Geisterhauses noch die Krone auf. De Cassard musste eine unglaubliche innere Stärke besitzen, dass er es gewagt hatte, für eine ihm völlig fremde Person ein derartiges Risiko auf sich zu nehmen und dabei nicht irre zu werden. Peter fragte sich, ob diese Eindrücke Einzug in die Werke des Künstlers halten würden, und nahm sich vor, seine nächste Ausstellung zu besuchen. De Cassard hatte ein Bild des Fegefeuers erwähnt. Die Schwarze Brücke war Peters Vorstellung zumindest einer Vorhölle. Der Hölle auf Erden.

Mit viel Überwindung fasste er sich ein Herz und trat näher. „Sperrstunde“ war in diesen Gegenden ein absolutes Fremdwort. Eigentlich hätte der Laden längst geschlossen sein müssen, aber er war wie immer gerammelt voll, so dass einige Kunden mit den obligatorischen Huren im Arm auf den Stufen vor dem Eingang standen.

Peter war kaum in den schwachen Lichtkreis der einzigen funktionierenden Straßenlaterne vor dem Wirtshaus getreten, als er auch schon umringt war von billigen Prostituierten. Zwei finster dreinblickende Burschen standen in der Zufahrt zum Hof und beobachteten genau, was die Frauen taten – ihre Zuhälter. Wenn sie sich nicht genug ins Zeug legten, um potentielle Freier zu umgarnen, setzte es im besten Fall Ohrfeigen.

Schnell glich Peter die Gesichter der Huren mit dem Bild Katharinas ab. Er hatte es sich eingeprägt, um nicht zu dem Druck greifen zu müssen, der ihn nur als Schnüffler ausgewiesen hätte. Keine der vier Frauen kam Katharina auch nur nahe, eine Ähnlichkeit war nicht zu erkennen. Abgesehen davon ging er nach wie vor davon aus, dass der Fuchs seine Mädchen nicht an der Schwarzen Brücke postierte, selbst wenn die beiden brutal aussehenden Zuhälter zu seinen Leuten gehörten. Kostheim war das Revier eines anderen, den man nur die „Graue Eminenz“ nannte. Die Abhängigkeiten und Reviergrenzen waren jedoch im ständigen Fluss, so dass man nie sicher sein konnte, wer gerade die Regentschaft innehatte.

Peter ging auf das alte Spiel ein, lächelte dann aber entschuldigend und zog das Innere seiner Manteltasche nach außen, wissend, dass sie gähnend leer war. „Tut mir leid, ich bin blank. Meine Kohle langt grade ma für n Bier, umen Frust zu ertränke, dass es heut mit ner neun Arbeit wieder nich klappt hat.“

Die Huren wandten sich von ihm ab, strichen ihm aber mit einem „och du Aaaarmer“ noch einmal übers Kinn. Sie stellten sich wieder in Positur und ordneten ihre zerlumpten Kleider etwas vorteilhafter.

Es war vergebliche Liebesmühe. Keine der vier Frauen war attraktiv, sie waren verbraucht und verlebt. Zwei husteten erbärmlich und würden sicher vor ihrem eigenen Ableben noch den einen oder anderen Freier mit Tuberkulose infizieren. Peter versuchte, unauffällig Abstand zu halten oder sich wenigstens nicht ins Gesicht husten zu lassen.

Die Rache des schwachen Geschlechtes: Diese Frauen straften ihre Vergewaltiger auf subtile Art. Wenn sie nicht die Syphilis oder eine andere Geschlechtskrankheit hatten, dann brachte eben Tuberkulose ihre Freier um, die Krankheit der Armut. Eine späte, aber wirkungsvolle Rache, denn die Frauen erlebten das Ergebnis nicht mehr. Nur begriffen die Männer es nicht.

Peter zuckte demonstrativ die Achseln und trat auf den Eingang der Kneipe zu, wobei er den Frauen eine Kusshand zuwarf. „Wenn ich wieder Arbeit hab, besuch ich euch, versprochen!“

In der Schwarzen Brücke drängten sich Menschen jeden Alters um grobgezimmerte Holztische. Die Stimmung war wie immer, wenn viele Frustrierte zusammenkamen. Sicher würde auch dieser Tag nicht ohne gehörige Prügelei enden, bei der durchaus der eine oder andere sein Leben verlieren konnte. Da sich keine Polizei in diese Viertel traute, machte man nicht viel Federlesens mit den Toten. Man warf sie einfach in den Main und vergaß sie. Schon Minuten danach, wenn die Blessuren der anderen versorgt waren, würde man sich ihrer nicht mehr erinnern.

Der Qualm billigen Tabaks hing wie eine Mauer aus Nebel und Gestank über der Szene. In Gasthäusern wie der Schwarzen Brücke herrschte zudem ein nahezu babylonisches Sprachgewirr, jedenfalls für jemanden, der sich zum ersten Mal dorthin verirrte. Unterbrochen von dem hin und wieder die nächtliche Ruhe störenden Dröhnen der Nebelhörner großer Frachter vor der nahen Schleuse, hörte man in ohrenbetäubender Lautstärke alle möglichen Mundarten. Das stark variierende hessische Platt aus den umliegenden Regionen vermischte sich mit dem stark französisch gefärbten Deutsch der Menschen aus dem Elsass. Schiffer vom Oberlauf brachten vom Schwäbischen über das Badische alles mit, was am Rhein gesprochen wurde, und übertönten das ebenso unverständliche Kauderwelsch der Menschen vom Unterlauf bis in die Niederlande. Frachtschiffer, gestrandet an Gestaden, die ihnen nicht freundlich gesinnt waren. Entwurzelte, die verzweifelt versuchten, in eigentlich nicht so fern von ihrer Heimat liegenden Gegenden, in denen man angeblich die gleiche Sprache sprach, Fuß zu fassen. Wenige hielten es lange aus, die meisten versuchten, so schnell wie möglich wieder wegzukommen.

Eine vorherrschende Gruppe waren die Horden der Versehrten, die sich in diesem wie in anderen Gasthäusern der Armenviertel aufhielten. Das bedeutete nicht nur eine stetig wachsende Zahl von Kriegsversehrten, auch wenn es derzeit im Reich und den angrenzenden Ländern keinen Krieg gab. Die Kolonien waren derzeit ein sehr unruhiges Gebiet, und auch von dort kehrten immer wieder verwundete Soldaten heim, denen die Heimat fremd geworden war. Die meisten dieser Krüppel waren allerdings Opfer eines ganz anderen Krieges geworden: des Kampfes Mensch gegen Maschine. Je größer und machtvoller eine Maschine war, je mehr Menschen sie mit ihrer Leistung ersetzen konnte, desto mehr Opfer schien sie unter den wenigen Menschen zu fordern, die zu ihrer Bedienung oder Wartung noch nötig waren.

Besonders unter den Kindern, die in die Fabriken strömten, um ihre Familie mit zu ernähren, und die gern genommen wurden, weil sie noch billiger waren als ungelernte Arbeiter oder Frauen, gab es immer mehr Opfer. Häufig mussten sie bei laufendem Betrieb Maschinen säubern und wurden von diesen im Wortsinne gefressen, wenn sie einen Fehler machten. Zerquetscht, zerhackt, zerfetzt. Wer lebend davonkam, trug ihre Spuren für den Rest seines Lebens mit sich und konnte sich meist nicht lange an seinem Glück erfreuen. Ohne Arbeit waren auch Kinderkrüppel zum Verhungern verurteilt, Entschädigung gab es nie, nur einen Fußtritt.

Peter erkämpfte sich einen Platz am wurmstichigen, feuchten Tresen und gab dem Wirt ein Zeichen, dass er ein Bier wünschte. Der schmutzige Krug wechselte gegen Übergabe eines halben Groschens den Besitzer, und er stellte sich an die Wand, um niemandem im Weg zu sein, der vielleicht auf Streit aus war. Von dort aus konnte er gut den ganzen Schankraum überblicken und unbemerkt die Leute beobachten.

Es war die übliche Klientel. Die Glücklichen saßen, die anderen standen und diskutierten lautstark. Die Themen waren immer dieselben: die Arbeit, sofern man eine hatte, der Hausdrachen und die Kinder und – vor allem – die diversen Belustigungen, die es auch in diesem Viertel neben der Schwarzen Brücke und anderen Etablissements noch gab. Dazu gehörten außer den Huren auch verschiedene verbotene Spiele, bei denen größere Summen gewettet wurden. Unbestätigten, aber glaubwürdigen Gerüchten zufolge waren es nicht nur die armen Arbeiter, die dabei ihr letztes Geld verzockten, sondern durchaus auch höhergestellte Personen, die einen gewissen Reiz dabei empfanden, Verbotenes zu tun, und über Mittler wetteten, weil sie selbst nicht an den Austragungsorten erscheinen konnten.

Hunde- oder Ringkämpfe waren die beliebtesten Spiele, moderne Gladiatorenkämpfe zur Belustigung der Armen. Dabei galten für Letztere die gleichen Regeln wie für Erstere: Der Kampf endete erst, wenn einer der Kontrahenten nicht mehr aufstand. Die Hunde bissen einander tot, und einer wurde als Leiche aus den versteckt gelegenen Kellerarenen geschleppt. Bei den Ringkämpfen sah es nicht besser aus. Nur wenige Unterlegene standen am Ende wieder auf, weil ihre Gegner in einen regelrechten Blutrausch verfielen, aufgeputscht von den johlenden Zuschauern. Wie tollwütige Tiere fielen sie übereinander her. Dass diese Spiele illegal waren, störte niemanden. Wie die Sperrstunde wurden sie nicht überwacht. Wer sollte dem auch in einem Stadtteil, in dem seit Jahren schon keine Polizeiuniform mehr gesichtet worden war, einen Riegel vorschieben?

Die Stimmen umschwirrten Peter, der versuchte, aus den Gesprächen die Dinge herauszufiltern, die vielleicht für ihn interessant waren. Dabei bemühte er sich, nicht aufzufallen. Zu trinken war die einfachste Möglichkeit, aber auch die härteste, denn es schmeckte nicht besser als ein Krug Mainwasser. Dafür hatte es einen deutlich höheren Alkoholgehalt als herkömmliches Bier und benebelte auch härter gesottene Kerle als Peter schon nach den ersten Schlucken extrem.

Ein dürrer Mann gesellte sich zu ihm, der sich von einem Tisch zurückgezogen hatte, an dem das Gespräch immer lauter wurde. „Do werd de Luft dicke, hier isses besser“, nuschelte er und grinste mit seinem nahezu zahnlosen Mund.

Peter grinste zurück und betrachtete den Mann, der aussah, als wäre er schon an die hundert. Er hatte ein runzeliges Gesicht, ein schadhaftes Gebiss, schlohweißes Haar und einen ebensolchen Bart. Wahrscheinlich hatte er nicht mal die Hälfte an Jahren auf seinem gebeugten Rücken, aber in diesen Vierteln alterte man schnell. „Ducke mer uns halt“, gab Peter gleichmütig zurück.

Tatsächlich sprangen drei Männer auf und fingen eine Rangelei an, in die sich sofort alle Umstehenden mischten. Peter musste sich wirklich ducken, als ein Bierkrug auf ihn zuflog. Das massive Gefäß donnerte an die Mauer über ihm und zersprang in einem Scherbenregen.

„Gute Reaktion“, lobte der Alte mit leiser, vom Alkohol unsicherer Stimme und klatschte mit einem kindischen Kichern in die Hände.

Peter prostete ihm lächelnd zu, während er sich die Scherben aus dem Mantelkragen klaubte. Aus der Rangelei war eine unbarmherzige Prügelei geworden, in die bislang fünf Männer involviert waren. Der Rest bildete einen Kreis um sie und feuerte sie an. Der Wirt blieb hinter seinem Tresen und hängte ein paar Verschalungsbretter ein, um seine Gläser und Krüge vor herumfliegenden Gegenständen zu schützen. Es wirkte, als laure er hinter einer Mauer mit Schießscharten, er gab aber ungerührt weiter sein gepanschtes Bier aus.

Immer mehr Leute fingen an, sich einzumischen. Nur wenige hielten sich wie Peter und der Alte am Rande auf, als die Stühle im Schankraum plötzlich tief flogen. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf die Kämpfer, auch, weil man nichts abbekommen wollte. So bemerkte niemand den Mann, der sich durch die Hintertür hereinschob. Auch Peter entdeckte ihn erst, als er einen Packen Papier aus einer Wachstuchhülle nahm und dem Wirt durch eine seiner Schießscharten reichte. Das kurze Aufblitzen hellen Papiers in der Düsternis nahm Peter aus dem Augenwinkel wahr. Die Überschrift auf dem Flugblatt enthielt den Namen Pazuzu, und seine Aufmerksamkeit war geweckt.

Der Neuankömmling unterhielt sich mit dem Wirt durch die Klappen und warf immer wieder Blicke in die Runde. Peter prägte sich das Gesicht gut ein. Dann gab der Mann dem Wirt die Hand und versuchte, sich an der Wand entlang zum Vordereingang durchzuschlagen, während der Kneipier die Flugblätter auf seinen Tresen packte, weil der Kampf langsam nachließ. Peter griff sich sofort ein paar, kaum dass der Wirt sich wieder umgedreht hatte, und steckte sie ein. Als er erneut nur knapp einem Wurfgeschoss entging, nutzte er das als willkommene Ausrede, um sich zurückzuziehen.

Er drückte dem Alten seinen Bierkrug in die Hand. „Mir is die Luft en bissl zu dicke, hier!“

Vorsichtig umging er den Pulk der Kämpfenden. Einer lag ganz unten, sein Gesicht war blutüberströmt. Ein weiterer, der rücklings über einer Bank hing, regte sich ebenfalls nicht mehr. Peter vermutete, dass sie nach Ende der Kämpfe im Main ihr nasses Grab finden würden.

Vor dem Wirtshaus war es ruhig, alle hatten sich zu Beginn der Prügelei in den Schankraum gedrängt, einige hingen im Türrahmen, und Peter musste sich einen Weg durch die Schaulustigen bahnen. Den Mann, der kurz vor ihm das Gasthaus verlassen hatte, verlor er dennoch nicht aus den Augen. Dabei musste er aufpassen, selbst unbemerkt zu bleiben, denn der Verfolgte sah sich immer wieder um.

Peter nutzte die Gelegenheit, sich vor dem Gasthaus in Ruhe die Pfeife neu zu stopfen und zu entzünden. Dann machte er sich auf den gleichen Weg wie der Überbringer der Flugblätter. Sein Weg führte eine Straße entlang, die parallel zum Main Richtung Hochheim verlief. Er bog in einen Hof ab und verschwand im Hinterhaus. Das Licht, das bis dahin hinter einem der Fenster die Finsternis des Hofes durchbrochen hatte, erlosch.

„Mist, der wohnt hier. Natürlich, Friedrich-Karl ,Fritz Sanker, jetzt fällt mir das Bild von dem Steckbrief wieder ein“, murmelte Peter. „Gesucht wegen Hehlerei. Aber ansonsten harmlos.“

Er zog das Flugblatt aus der Tasche, konnte es aber kaum entziffern, weil es in der Straße fast vollständig dunkel war. Eine Lampe hinter einem schmutzigen Fenster war die einzige Lichtquelle in der verdächtig ruhigen Straße. Erst jetzt fiel Peter auf, dass die ganze verkommene Gegend den Atem anzuhalten schien. Selbst die Nebelhörner schwiegen in diesem fast theatralischen Augenblick, und der Nebel schluckte jedes Geräusch der eigentlich unermüdlich hin und her schippernden Raddampfer. Die Zeit schien stillzustehen und er das einzige Lebewesen zu sein.

Der Grund für die verdächtige Ruhe kam in einiger Entfernung in seine Richtung. In der Düsternis sah er anhand der Glut ihrer Zigaretten fünf Personen auf sich zukommen. Wie diese Gruppe sich bewegte, langsam und drohend wie sprungbereite Raubtiere, versprach unangenehme Gesellschaft. Hin und wieder blitzte ein Licht auf und schälte die grobschlächtigen Figuren deutlicher aus der Dunkelheit.

Peter schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie ihn noch nicht bemerkt hatten, und huschte in den Hof. Gehetzt sah er sich nach einem Versteck um. Er fand einen Verschlag, in dem sich fauliges Holz stapelte, und zwängte sich dazwischen. Dann lauschte er angespannt und spähte durch einen Mauerspalt nach draußen.

Die Männer kamen in den Hof und blieben vor dem Schuppen stehen. Peter wagte nicht mehr zu atmen. Doch sie beachteten den Schuppen nicht, sondern sahen sich um. Einer trug eine abgeblendete Karbid-Handlampe bei sich. Das Licht, das Peter zuvor gesehen hatte. Peter schluckte, als er das feuerrote Haar des Mannes in der Mitte erblickte.

Der Fuchs?

„Hier?“, hörte er die Stimme des Rothaarigen, die ihn an das Zischen einer Schlange erinnerte.

„Irschendwo in dem Block!“

„Hm.“

„Soll mer die Häuser durchkämme?“

„Hm.“

Die vier Männer hingen an den Lippen des Mannes, den Peter für den Fuchs hielt.

„Sanker is nur en kla Lichtsche. Wird nich viel erzählen könne, egal was mir mit em mache. Hier wohne Leut, die hinter uns stehe, lasse mer se penne. Mir wern schon noch erfahren, ob die anderen en Problem sin. Glaub, die mache nich unser Geschäft, die mache was anderes. Kommt, um den Sanker kümmern mer uns en anner ma. Ich hab Bock uffen Meedsche.“

Die Männer lachten dreckig, was den Bewohnern der Häuser nicht verborgen bleiben konnte. Aber es zeigte sich niemand. Keiner hatte den Mut dazu. Die Gruppe verließ den Hof, doch Peter wagte immer noch nicht, sich zu bewegen.

Was zum Teufel sollte das bedeuten? Schön, Sanker verteilte die Flugblätter der Sekte – und der Fuchs schien Bammel zu haben, dass die ihm irgendwelche Geschäfte vermasselte. Das schien die Essenz zu sein. „Eine Information mehr, neben der Tatsache, dass der Fuchs sich auch in Kostheim frei bewegen kann, was mir seltsam erscheint. Vielleicht hilft es, wenn ich Sanker im Auge behalte“, dachte Peter.

Erst als er lange nichts Verdächtiges mehr gehörte hatte, wagte er es, den Schuppen zu verlassen. Er war allein. Mit einem abgrundtiefen Seufzer machte er sich auf den Rückweg, hoffend, dass er sich viel Weg mit der Pferdebahn sparen konnte. Der Schrecken der Begegnung mit dem Fuchs steckte ihm in den Knochen. Ihm war klar, dass er nur verdammt knapp einer Katastrophe entgangen war, und schwor sich mehr Wachsamkeit.