Der Morgen danach
Ob sie wachte, schlief oder vielleicht sogar schon tot war, konnte Katharina nicht sagen. Sie spürte ihren Körper nicht mehr und war nicht sicher, ob sie diese Tatsache vielleicht sogar begrüßen sollte. Bilder schoben sich in rascher Abfolge durch ihr Gedächtnis. Sie konnte allerdings keines davon lange genug festhalten, um es genauer zu analysieren. Erinnerungen oder Traumgebilde? Der schnelle Rhythmus, in dem die Bilder auftauchten und verblassten, ließ keine Rückschlüsse zu.
Der Versuch, sich auf die Bilder zu konzentrieren, hatte rasende Kopfschmerzen zur Folge. Sie lebte also, denn im Jenseits hatte man ganz sicher keine körperlichen Schmerzen mehr. Außer in der Hölle. Aber was konnte schlimmer sein als die Hölle, in der sie bereits war?
Nichts.
Tiefer ging es nicht mehr.
Ihr Kopf fühlte sich an, als wolle er platzen. Der Eindruck, er sei bereits auf das Vierfache seiner normalen Größe angewachsen, verstärkte sich mit jedem Herzschlag, der Blut in ihr Gehirn brachte. Der Wunsch zu sterben verdrängte ihren Kampfgeist. Doch als der Schmerz ein wenig nachließ, verfluchte sie sich selbst für diese Schwäche. Sie war nie schwach gewesen, warum dann ausgerechnet jetzt?
Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte zwang sie sich, die Augen zu öffnen und den Kopf zu drehen. Milchiges Licht fiel durch ein vielteiliges Sprossenfenster. Es war Tag, und man konnte an einem trüben Himmel die Sonne erkennen, die in der Farbe schimmeligen Käses das Grau des dicken Nebels durchdrang. Unwillkürlich fragte sie sich, wann sie zum letzten Mal die Sonne gesehen hatte. Dass sie jemals eine strahlende Sonne an einem blauen Himmel gesehen haben sollte, kam ihr mit einem Mal wie ein Traumgebilde vor, und sie war versucht, diese Erinnerung ins Reich der Märchen zu verbannen. Eine Geschichte, die sie einmal gehört hatte, die aber nie Wirklichkeit gewesen war.
Sie befand sich in einem großen Herrenhaus, das seltsam unbewohnt wirkte. Ihr nackter Körper lag auf weichen Laken, aber diese verhüllten eine auf dem Boden liegende Matratze. Sonst war der Raum leer. Keine Möbel, keine Gardinen.
Das Gefühl für ihren Körper kehrte zurück, und sie spürte einen Arm, der ihr quer über der Brust lag, und die Spuren, die Fäuste, Reitpeitschen und andere Hilfsmittel an ihrem Körper hinterlassen hatten. Sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Doch der, dem der Arm gehörte, rührte sich nicht.
Katharina drehte den Kopf weiter. Zwischen ihr und dem Fenster war ein weiteres Matratzenlager, darauf eine nackte Frau mit zwei halb bekleideten Männern. Die Augen der Frau waren aufgerissen und starrten leblos an die Decke. Ihre blonden Locken waren seltsam verfärbt und verklebt. Dann sah Katharina die klaffende rote Wunde unterm Kinn. Wie ein bizarres zweites Lächeln unter den üppig geschminkten roten Lippen, die zu einem stummen Schrei geöffnet waren.
Sie riss die Hand hoch und biss sich in den Daumen, um den Schrei zu unterdrücken, der aus ihren Lungen quoll. „Feli…“, hauchte sie. „Was …“
Die Hand des Mannes, der ihr zugewandt auf der anderen Matratze lag, hing auf dem Boden. Sie hielt ein blutverschmiertes Messer. Katharina griff nach dem Arm, der auf ihr lastete, und schob ihn beiseite, wofür sie ein missgelauntes Grunzen erntete. Dann setzte sie sich auf, auch wenn ihr das eine weitere Kopfschmerzattacke einbrachte, und starrte den Mann an, der neben ihr lag. Es war ein grobschlächtiger, schon älterer Mann mit ausgeprägten Geheimratsecken in der größtenteils ergrauten Haartracht, die sich in breiten Koteletten auf seinen faltigen Wangen fortsetzte. Er lag auf dem Bauch und sabberte. Ihr Geruchssinn kehrte langsam zurück und enthüllte ihr eine übelkeitserregende Mischung aus Alkohol, Erbrochenem, Schweiß, Urin und Blut.
Neben ihr lag ein Laken auf dem Parkett. Sie griff danach und wickelte ihren nackten Körper darin ein, ehe sie sich aufrichtete. Einen Augenblick lang starrte sie auf den Leichnam des Mädchens, mit dem sie zusammen bei dem Mann gelandet war, den man den Fuchs nannte. Wie lange war das her? Tage, Wochen oder doch schon Monate? Die arme Felicia, die sich nur deshalb noch aufrecht gehalten hatte, weil sie sich Katharina als Vorbild ausgesucht hatte.
Tränen schossen in Katharinas Augen. Noch war sie unbeobachtet, doch was konnte sie tun? Sie schlich zum Fenster, aber man hatte die Griffe entfernt, mit denen man sie hätte öffnen können. Sehnsüchtig blickte sie in weitläufige Weingärten, hinunter zu dem trägen Fluss, dem der schmutziggraue Nebel entströmte, ohne den die Sonne kräftiger geschienen hätte. Aber das Sonnenlicht hätte auch nur falsche Hoffnungen geweckt. Sie befand sich im ersten Stock. Wenn sie die Fenster hätte öffnen können, hätte sie vielleicht fliehen können. Aber so? Keine Chance. Die Holzsprossen mit den kleinen Scheiben wirkten massiv. Beim Versuch, eines der Fenster zu zerstören, würde irgendjemand kommen und sie einfangen, bevor sie auch nur einen Schritt in die vermeintliche Freiheit machen konnte.
Sie wandte sich wieder um und spähte in die dunklen Ecken jenseits ihres Lagers. Es gab noch drei weitere Matratzenlager, und auf allen lagen Menschen. Vorsichtig trat sie an die anderen Lager heran und hätte fast geschrien, als sie in einer dunklen Ecke über einen weiteren leblosen Körper stolperte.
„Anna?“, wisperte sie und bückte sich, um den Körper zu drehen. Sie packte die Schulter der Frau, doch sie hatte das Gefühl, in Pudding zu greifen. Dazu knirschte es seltsam. Die Knochen des Armes und der Schulter waren gebrochen. Auch Annas Augen standen offen. Wäre sie wach gewesen, hätte sie unter Katharinas Berührungen einen Schmerzensschrei von sich gegeben.
Aber sie war tot, wie Felicia.
Wieder biss Katharina sich in die Hand, um nicht zu schreien. Sie konnte nur vermuten, dass Annas Sterben lang und qualvoll gewesen sein musste. Felicia hatte ein schnelles Ende gefunden. Vielleicht eine Gnade.
Schnell huschte sie zu den anderen Lagern und sah nach den Mädchen, die dort lagen. Sie waren sieben gewesen, jetzt waren sie nur noch sechs, die Toten mitgezählt. Eine fehlte – sie vermisste die andere Katharina. Ein Bild huschte durch ihr Gedächtnis, das Mädchen mit dem gleichen Namen war mit einem Mann hinausgegangen. Katharina konnte sich aber nicht erinnern, ob die blonde Katharina wieder zurückgekommen war.
Erleichtert stellte sie fest, dass sie anderen drei noch atmeten, und richtete sich wieder auf. Schmerzen machten sich in ihrem Unterleib und ihrem Hinterteil breit, und sie stellte fest, dass sich das Laken um ihren Körper bereits an vielen Stellen rot verfärbt hatte. Das Bedürfnis, sich zu waschen, den Dreck vom Leib zu spülen, den der Mann – und wahrscheinlich nicht nur er, aber sie erinnerte sich nicht – an und in ihr hinterlassen hatte, wurde übermächtig.
Sie tastete nach der Türklinke und fand die Tür unverschlossen. Leise öffnete sie sie und spähte hinaus. Als grobe Händen sie packten und nach draußen zerrten, schrie sie auf. Vor ihr stand einer der Zuhälter des Fuchses, die sie immer begleiteten.
„Was willst hier?“, zischte er und ohrfeigte sie.
„Aufs Klo, ich muss scheißen!“, keifte sie. „Oder soll ich ins Bett machen? Ist zwar nicht mehr viel zu verlieren …“
Ein weiteres Mal klatschte ihr die Hand ins Gesicht. Hätte er sie nicht gleichzeitig mit der anderen gehalten, wäre sie durch den düsteren Flur geflogen. Doch dann zerrte er sie ans Ende des Ganges und stieß sie in ein Zimmer. Es war ein kleiner, gekachelter Raum, auf dessen Boden sie landete. Hinter ihr knallte er die Tür zu und drehte den Schlüssel.
Vorsichtig zwang sie ihre schmerzenden Glieder in einer sitzende Position. Sie befand sich in einem kleinen Badezimmer. Zu ihrem Leidwesen war das Fenster allerdings kaum groß genug, um auch nur eine Katze hinauszulassen. Es diente nur der Belüftung.
Katharina zog sich an einem marmornen Waschtisch hoch und sah in den goldgerahmten Spiegel darüber. Ihr Gesicht blühte in allen möglichen Farben, ihr rechtes Auge war fast zugeschwollen, das rotbraune Haar verfilzt und von Blut und anderen Substanzen völlig verklebt. Sie probierte den Wasserhahn aus und seufzte erleichtert, als Wasser herauskam. Am Anfang hatte es eine bräunliche Färbung, wurde aber zusehends klarer. Ein Luxus, den sie wie so vieles schon lange nicht mehr hatte genießen können. Die Wassertemperatur schreckte sie wenig. Mit beiden Händen schaufelte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und wischte sich mit einem Zipfel des Lakens und Wasser so sauber, wie sie nur konnte. Das Urinieren war schmerzhaft, aber es kam ihr wie eine innere Reinigung vor.
Eine Weile blieb sie reglos sitzen und starrte auf das Laken und einen noch immer blutenden Riss auf ihrem Oberschenkel. Katharina konnte sich im ersten Moment nicht erinnern, wie er entstanden war, doch weitere rote Striemen auf ihrem geschundenen Körper riefen das Bild des Grauhaarigen zurück, und diesmal konnte sie es festhalten. Er hatte eine Reitgerte mit einem Draht am Ende benutzt. Kurzentschlossen riss sie einen Streifen von dem Laken ab, tauchte ihren Finger in das Blut und schrieb darauf: „Orgie, drei Tote, Mädchen von Kaiser-Wilhelm-Brücke, Rheinkanal km 498,4.“
Den beschriebenen Streifen stopfte sie hinter den Geruchsverschluss des Waschtischablaufes, sicher, dass nach dieser Festlichkeit jemand zum Putzen kommen würde. Sie konnte nur hoffen, dass diese Putzkolonne nicht auch im Dienst ihrer Zuhälter stand, sondern den Fund an die richtigen Leute weitergab. Andernfalls war ihr Leben keine Staubflocke mehr wert, denn die Wachhunde des Fuchses würden sicher sofort petzen, welches Mädchen als einziges diese Toilette verwendet hatte. Es war ihr egal. Den Rest des Lakens schlang sie sich wieder um den Körper und klopfte an die Tür.
Was sie erwartete, wusste sie nicht, aber sie hoffte, dass wenigstens diese perverse Feier für die überlebenden Mädchen beendet war. Die Tür wurde aufgerissen, und wieder wurde sie grob gepackt. Diesmal schlang ihr der grobschlächtige Mann seine Arme um die Schultern und hielt ihre Handgelenke fest. Ein anderer tauchte aus dem Dunkel auf und hielt sich eine Spritze vor die Nase, um die Luft herauszudrücken.
Der Zuhälter drückte Katharina an die Wand, so dass sie nicht mehr treten konnte. Den Stich der Spritze spürte sie in ihrem schmerzenden Gesäß nicht. Der Mann hielt sie weiter fest, aber er ließ lockerer. Zur Gegenwehr war Katharina auch nicht mehr fähig. Kaum hatte sie gespürt, wie die Flüssigkeit sich heiß unter ihrer Haut ausbreitete, überfiel sie bleierne Müdigkeit.
„Zähes Luder!“, war das Letzte, was sie von ihrer Umwelt wahrnahm. Es kam von dem Mann mit der Spritze. Dann wurde es wieder dunkel um sie.